Heft 1/2018 - Lektüre



Eyal Weizman:

Forensic Architecture: Violence at the Threshold of Detectability

New York (Zone Books) 2017 , EUR 34

Text: Noah Chasin


Die herkömmliche Architekturgeschichte hat sich erschöpft. Stilgenealogische Untersuchungen sind und werden stets gegenwärtig sein, doch laufen die meisten auf reflexartige Übungen hinaus, die die Legitimität der Disziplin nochmals bestätigen. Altgediente HistorikerInnen preisen die Autorität renommierter GestalterInnen der Moderne, wobei sie fortwährend auf veraltete Erzählungen zurückgreifen. Während ich diesen Text schrieb, ist der bedeutende Yale-Historiker Vincent Scully im Alter von 97 Jahren gestorben. Er gehört zwar zu den leidenschaftlichsten und brillantesten Köpfen mehrerer Generationen von ArchitekturhistorikerInnen des 20. Jahrhunderts, doch mangelt es seinem formalistischen Vermächtnis weitgehend an kontextuellem Denken.
Die bislang vorherrschende Architekturgeschichte basiert auf dem Primat der Form. Ob funktional, symbolisch, allegorisch, dekonstruiert oder nostalgisch, die realen oder virtuellen Objekte dienten als Ausgangspunkt für formale, typologische, tektonische und soziale Analysen. Heute hingegen leben wir in einer Welt, in der es immer weniger Objekte gibt, und bewohnen die leeren Räume, die dies hinterlässt. Die Tatorte des Diebstahls unserer „Dinge“ künden von einer Verschiebung weg von der Verkündung der Wahrheit ‒ so in etwa sieht das wackelige Vermächtnis des Poststrukturalismus aus. Diese Leere ist heilsam, doch auch isolierend. Das Fehlen von physischen Formen und der Räume dazwischen weckt in uns das Bedürfnis nach neuen diskursiven Strategien, um andere Geschichten zu erzählen bzw. jene aufzudecken, die sonst auf dem Müllhaufen der Geschichte landen würden.
Eyal Weizmans Forensic Architecture: Violence at the Threshold of Detectability zerreißt den Schleier dieser Ungewissheit. Dem Buch gelingt es, sowohl das Fachgebiet neu zu erfinden, als auch einen neuen, besseren Weg nach vorne zu weisen. Ehrlich gesagt (und Weizman stellt dies gleich am Anfang klar) ist forensische Architektur keine neue Idee, doch war sie vor der Aneignung und Neudefinition des Begriffs durch Weizman vor allem das Gebiet hochspezialisierter ArchitektInnen, die für und gegen die Versicherungsindustrie arbeiteten, um bei strukturellen Defekten oder Mängeln an Gebäuden die Verantwortlichkeit festzustellen.
Der kollaborativ arbeitende Autor – Weizman kommt seinen KollegInnen im Buch überaus großzügig entgegen, auch wenn er die alleinige Urheberschaft beansprucht – ist ebenfalls hauptsächlich auf juristischem Gebiet tätig. Das Ethos der sozialen Gerechtigkeit des forensischen Architekturprojekts erfordert angesichts der selbst erklärten und reflexartig zum Gesetz erhobenen Unverletzbarkeit und Souveränität der meisten Nationalstaaten juristischen Aktivismus. Als Israeli hat Weizman eigene Erfahrungen mit den Ungerechtigkeiten und der Unbeständigkeit der Geopolitik im Nahen Osten gemacht, und das vorliegende Buch entfernt sich nicht weit von diesem Gebiet (obwohl viele Mitwirkende außerhalb dieses Bereichs tätig waren). In methodischer Hinsicht überrascht Forensic Architecture seine Leserschaft jedoch mit aufgedeckten Verschwörungen, Neudefinitionen von „Landschaft“ und „Grenze“ und klaren, scharfsinnigen Erklärungen technologischer Beschränkungen (nicht nur was den Zugang zu hochauflösenden Satellitenaufnahmen, sondern auch ihre Auflösungsgrenzen betrifft).1
Aufgrund der wachsenden Aufmerksamkeit, die Weizman und seinen KollegInnen in kritischen und journalistischen Kreisen sowie in Ausstellungen zuteilwird, waren einige der im Buch behandelten Projekte schon vor der Veröffentlichung bekannt. Dennoch lässt es sich wie ein Polizeikrimi verschlingen, was an Philip Johnsons Klappentext auf der Buchrückseite von Reyner Banhams Theory and Design in the First Machine Age (1960) erinnert hat, in dem Banhams exemplarische Geschichte des Modernismus mit den packenden Ermittlerromanen von Dashiell Hammett verglichen wird.
Herausragend im Werk von Forensic Architecture (nicht nur der Titel des Buchs, sondern auch der gleichnamigen Gruppe) ist die brillante Umsetzung dessen, was man „Techno-Bricolage“ nennen kann. Die Mitwirkenden sind keine Programmier- oder Softwareprofis; sie stammen aus den Reihen der ArchitektInnen, die sich dem gemeinsamen Unternehmen gewidmet haben, anhand von öffentlich zugänglichen Datenblättern, Fotografien, Zeugenaussagen und anderen dokumentarischen Aufzeichnungen Fälle von Menschenrechtsverletzungen zu rekonstruieren, die, wie es im Untertitel des Buchs heißt, „unter der Schwelle der Nachweisbarkeit“ liegen. Wir sind immer noch auf die Hilfsmittel der Dokumentation angewiesen, um ein gewisses Maß an Wahrheit zu gewährleisten, obwohl die Kluft zwischen der „Grundwahrheit“ und ihrer virtuellen Doppelgängerin ziemlich groß ist: „[D]ie Übertragung von der Gelände- auf die Filmoberfläche“ ist vielleicht die präziseste Definition dieser Schwelle.
Das Buch ist bewusst nicht linear angelegt, wirkt aber zuweilen ein wenig atemlos angesichts des allumfassenden Narrativs, das durchsetzt ist mit Berichten von Unterstützungsprojekten und anderen Vignetten. Typisch für ein Zone Book ist es ästhetisch höchst ansprechend gestaltet, was das Entschlüsseln der zahlreichen Karten und Diagramme erleichtert. Als leidenschaftliches Plädoyer könnte es wohl kaum zu einem passenderen Zeitpunkt erscheinen und liefert WissenschaftlerInnen aller Disziplinen wichtige methodische Anregungen.

1 Vgl. die Besprechung des Projekts The Al-Araqib Museum of Struggle auf S. 10–11 dieser Ausgabe.

 

Übersetzt von Gülçin Erentok