Heft 1/2018 - Artscribe


An Evening with Chto Delat

25. Oktober 2017 bis 25. Oktober 2017
MoMA / New York

Text: Edit András


New York. Das Video Four Seasons of Zombie von Chto Delat zeigt einen persönlichen, subjektiven Zugang zur Geschichte, der von der Künstlergruppe aus St. Petersburg bereits in ihrer früheren, den gefallenen Helden gewidmeten Arbeit Excluded (2014) vorweggenommen wurde. Auch das neue Video ist weder feierlich noch monumental und richtet sich bewusst gegen die Versöhnung extremer Ansichten, wie Dmitry Vilensky bei der US-Premiere des Videos im MoMA erläuterte. Als Genre handelt es sich um eine Vortragsperformance vor dem Winterpalast, präsentiert von der Philosophin Oxana Timofeeva, die Mitglied der Gruppe ist. Das Konzept basiert auf ihrem Manifesto for Zombie-Communism, einer ungewöhnlichen und etwas dystopischen Interpretation der Russischen Revolution, der zufolge nur die Verzweifelten bereit sind, in einem Kampf zu sterben, der nicht von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft getrieben wird, sondern von der Unmöglichkeit, in der Gegenwart zu leben. Während sie das Konzept der „Zombie-Jahrhundertfeier“ weiter ausarbeitet und an die dunkle Seite des Massenaufstands erinnert, der mit einem Massaker endete, bieten Zombies im Hintergrund eine Performance dar. Die Zombies dienen somit als Metapher, die sozusagen aus der Perspektive der Verdammten hervorgeht. Sie wanken und schlurfen mit sich eigenwillig bewegenden Gliedmaßen durch die Dunkelheit, in einem „Freilichttheater“ auf dem Palastplatz, bekannt aus der Nachstellung der Revolution in Eisensteins berühmtem Film.
Auf den ersten Blick handelt es sich um eine skeptische, negative Interpretation der Revolution aus der Perspektive einer jüngeren Generation, geboren oder aufgewachsen nach dem Fall der Sowjetunion, oder um die Manifestation eines „radikalen politischen Pessimismus“ – eine Bezeichnung, die Ana Janevski im Gespräch mit Vilensky kreierte. Zombiekultur gilt im Allgemeinen als subversiv und vielleicht sogar linksgerichtet. In diesem Kontext ist das Video, zumindest oberflächlich betrachtet, eine Kritik am globalen neoliberalen Kapitalismus. Er füllt alle Lücken, die der Kampf der Ideologien zurückgelassen hat, mit Konsumismus, der sogar auf dem Palastplatz präsent ist. Die Botschaft des Videos ist ziemlich düster und lässt nichts übrig von der großen Utopie des Fortschritts und den humanistischen Ideen, außer der Freiheit des gedankenlosen Verbrauchers, aus verschiedenen Marken auf dem Markt wählen zu können.
Das hypnotisierende Video, das sich der Visualität der revolutionären Avantgarde bedient, ist jedoch weitaus komplexer und bietet vielfältige Interpretationsmöglichkeiten. Der Ursprung des Zombies, des lebenden Toten, der seelenlosen Hülle, die der Freiheit beraubt und durch Verlust und Enteignung gekennzeichnet ist, reicht weiter zurück als die Zombiekultur unserer Zeit, die auf vielfältigen gegenwärtigen Ängsten beruht und durch Hollywoodfilme populär wurde. Wort und Begriff stammen aus dem haitianischen Französisch; in der haitianischen Folklore bezeichnete man damit ursprünglich wiederbelebte Tote. Auf diesen hoffnungslosen Zustand wurden all das Elend und die Unterdrückung der Sklavenbevölkerung projiziert, er symbolisierte die endlose Sklaverei auch nach dem Tod. Die Menschen stellten sich vor, für immer in ihren Körpern gefangen zu sein, unfähig, auch nach ihrem Tod in ein eigenes Paradies einzutreten. Der Begriff verwies auf die durch die moderne Sklaverei erzeugten Ängste in den Kolonien, auf die unmenschliche Erfahrung der SklavInnen auf den Zuckerplantagen, wo der Code Noir den Menschen die Kontrolle über ihren eigenen Körper verwehrte und die Folterung oder Verstümmelung von SklavInnen durch die SklavenhalterInnen erlaubte.
Als produktivste Kolonie in der damaligen Zeit war Haiti auf umfassende Transporte von Menschen aus Westafrika angewiesen, denn deren Lebenserwartung war aufgrund der brutalen Arbeits- und Lebensbedingungen so kurz, dass die Kolonie, die der aufstrebenden französischen Bourgeoisie Reichtum bescherte, ständig Nachschub benötigte. Nach der beispiellosen Haitianischen Revolution, die aus der Verzweiflung heraus entstand und in dem Motto „Tod oder Freiheit“ ihren Ausdruck fand, kehrte sich die Bedeutung des Begriffs jedoch um: Es war nun das Grauen der weißen KolonisatorInnen vor emanzipierten schwarzen SklavInnen, das der Angst vor Horden seelenloser Untoter ähnelte. Der rachedurstige Aufstand erschreckte die „zivilisierte“ Welt. Dementsprechend wurden Schwarze dämonisiert. Niemanden störte die Diskrepanz zwischen dem Freiheitsdiskurs und der Praxis der Sklaverei, auch nicht der Widerspruch, dass die siegreiche Französische Revolution dieselben Parolen hatte und zur größten Errungenschaft der Menschheit führte, nämlich zur Freiheit; der Kategorie, aus der Schwarze SklavInnen ausgeschlossen wurden, obwohl sie damals unter demselben Banner kämpften. Die sogenannten „Schwarzen Jakobiner“ überschritten die Grenze zwischen den Ethnien und zwischen SklavenhalterInnen und SklavInnen. Kulturell gesehen überschritten sie die streng bewachte Grenze zwischen dem zivilisierten, aufgeklärten Europa und der Quelle seines Wohlergehens und Wohlstands, der „barbarischen“ Welt der Kolonien. Kultureller Rassismus diente dazu, die Maschinerie am Laufen zu halten, denn die edlen Prinzipien der Aufklärung galten nicht für die Benachteiligten und wurden von der Zivilisation verraten. Später wurden die Metaphern der Monstrosität und des Elends auf den zusammengewürfelten Haufen der unzähligen Ausgestoßenen in Europa angewendet und in der Anfangszeit des kontinentalen Kapitalismus auf die Massen der freien ArbeiterInnen, das Proletariat, dessen Arbeitsbedingungen sich von denen der kolonialen SklavInnen kaum unterschieden.
Die Idee der Selbstbefreiung mittels der Bewährung durch den Tod, die Grundidee der Haitianischen Revolution, findet ihren Widerhall in Lenins Idee der „Bereitschaft zum Tod für die revolutionäre Sache“, die Timofeeva als „nahezu kriminell“ betrachtet. Die Französische Revolution ging mit ihren FeindInnen auch nicht zimperlich um, aber ihre Grausamkeit wurde im Namen des Fortschritts gerechtfertigt. Die drei Revolutionen werden jedoch nicht gleich beurteilt. Die Französische Revolution gilt unstrittig als Wiege der modernen zivilisierten Welt und wird weltweit gefeiert. Die Beurteilung der Russischen Revolution ist auch in Russland, geschweige denn außerhalb, ambivalent, aber es wird noch immer ausgiebig an sie erinnert. Was jedoch die Haitianische Revolution betrifft, so ist sie völlig in Vergessenheit geraten oder wird in ihrer Bedeutung für die Weltgeschichte als marginal erachtet.
Die Zombiemetapher ist längst nicht überholt – heutzutage sind es die Geflüchteten, die MigrantInnen, die wie Abfall, wie Zombiehorden zwischen Leben und Tod behandelt werden und vor denen die Nationalstaaten ihre Tore verschließen. Wie in der guten alten Zeit, die in dem beeindruckenden Video von Chto Delat heraufbeschworen wird.

 

Übersetzt von Anja Schulte