Rom. Sergei Eisenstein: The Anthropology of Rhythm beginnt mit einer Überblickskarte. Gleich an der Eingangswand ist ein Plan samt Zeitachse angebracht, der die raumzeitlichen Koordinaten zur Orientierung in der Ausstellung zur Verfügung stellt. Allerdings handelt es sich nicht um eine normale Karte. Sie funktioniert eher wie eine Mindmap oder ein Flussdiagramm – eine Grafik, auf der Menschen, Orte und Ereignisse verzeichnet und miteinander in Verbindung gebracht wurden. Und in der Tat eignet sich dieses Überblicksbild, das auch auf der ersten Seite des Katalogs abgedruckt wurde, nicht nur zur Illustration der Reisen Eisensteins durch Russland, Westeuropa und Amerika sowie der vielen verschiedenen kulturellen Einflüsse auf Eisenstein, sondern auch zur Darstellung der Fortschritte und Rückschläge bei seinen nicht fertiggestellten Filmprojekten.
Die Ausstellung wirft ein neues Licht auf das Œuvre des weltberühmten Regisseurs (geboren 1898 in Riga, gestorben 1948 in Moskau) und beleuchtet vorwiegend seine späteren Jahre, und zwar ausgehend von seiner Materialsammlung zu Que viva Mexico! (1931–1932), aus dem Alexandrov später den gleichnamigen Film gemacht hat. Der Faden, den sie durch das Spätwerk zieht, verläuft von dort aus weiter zu zwei anderen unvollendeten Projekten, nämlich den zerstörten Bezhin Meadow (1935–1937) und Fergana Canal (1939), dessen Dreh nach nur zwei Tagen abgebrochen wurde. Die Schau umfasst somit die Periode von den späten 1920er-Jahren, als der sowjetische Regisseur ganz Europa bereiste und Künstler und Intellektuelle wie Georges Bataille, Jean Painlevé oder Luis Buñuel kennenlernte, bis zu seinem Tod 1948. Geografisch betrachtet muss sogar das Publikum im Kopf einige Reisestrapazen auf sich nehmen. Auf den Spuren von Eisensteins Irrungen, Wirrungen und Drehorten geht es von Russland nach Mexiko, von Paris nach Brüssel, von den Vereinigten Staaten bis nach Usbekistan.
Die meisten der Fotografien, Zeichnungen, Notizbücher und Filmaufnahmen – allesamt Leihgaben des Russischen Staatsarchivs für Literatur und Künste sowie der Nationalen Filmstiftung der Russischen Föderation – werden hier erstmals gezeigt. Die von den Kunst- und Filmhistorikerinnen Marie Rebecchi und Elena Vogman ausgewählten Exponate wurden in Zusammenarbeit mit dem Künstler und Typografen Till Gathmann geordnet und inszeniert, der auch die von der Edition Nero herausgegebene, begleitende Publikation gestaltete. Letzterer kann übrigens als integraler Bestandteil der Schau betrachtet werden.
In ihrer Einleitung erklären die Kuratorinnen, dass „die organischen und mechanischen, regelmäßigen und unregelmäßigen Rhythmen nicht bloß formale, ästhetische oder zeitliche Erlebnisaspekte sind, sondern zu anthropologischen Instrumenten werden können“. Diese Idee zeigt sich meisterlich in Eisensteins Film- und Fotoaufnahmen selbst, besonders wenn sie Menschen als Sujet haben. Gesichtsausdrücke und Körpergesten werden zu Werkzeugen, die der Künstler dazu benützt, die menschliche Natur zu analysieren und sie mit Landschaften und geschichtlichen Ereignissen in Verbindung zu bringen. Wiederkehr, Revolte, Brüche und Wiederholungen sind die Bausteine von Eisensteins Bildkompositionen. Sie sind aber auch jene Bewegungen, die gesellschaftliche Veränderungen regulieren – die Tanzschritte der Revolution sozusagen. Außerdem besitzt der menschliche Körper, wie die Kuratorinnen gleich an mehreren Stellen betonen, die Kraft, in der Ekstase größere Veränderungen anzustoßen: „vom Gesicht zur Maske, vom Körper zum Skelett, von der menschlichen Gestalt zur Architektur, vom Tier zur Pflanzenphysiognomie“. Eisenstein hielt, wie er in seinem extensiven theoretischen Werk darlegte, den Begriff der „Ekstase“ für ganz zentral. Er könne als Prozess definiert werden, mit dem man dem Ich entkäme – als Erlebnis also, in dem das Körperliche mit dem Spirituellen verschmelze und das den Menschen so auf eine höhere Bewusstseinsebene hebe.
Die Serie von Zeichnungen aus der mexikanischen Periode, an der der Einfluss des Surrealismus besonders augenscheinlich wird, ist mithin das Stärkste an der Ausstellung. Schlicht, aber so wirkungs- wie geheimnisvoll verbinden die Zeichnungen religiöse mit säkularen Motiven. Kreuzwegstationen, Faschingstänze und mysteriöse Rituale einschließlich Sexualakte, Kannibalismus und Verstümmelung werden mit einer einzigen dicken schwarzen Linie in einer Art Trancezustand nachgezeichnet (Eisenstein nannte diese Methode mit Hinweis auf die Ècriture de l’inconscient des Surrealismus „dessin automatique“). Hauptthemen sind Metamorphose, Ekstase und Tod. Der Künstler kommt damit auf die elementarsten Manifestationen des Lebens zurück, zum vorlogischen Zustand der Menschheit. Er versucht, den inneren Rhythmus dieser Phänomene festzuhalten und abzubilden, und zwar „zwischen theoretischer Reflexion und Bildproduktion, zwischen Beobachtung und ekstatischer Versenkung“.
Vom 20. April bis 25. Mai 2018 wird die Ausstellung Sergei Eisenstein: Anthropology of Rhythm im Ausstellungsraum des diaphanes Verlags in Berlin zu sehen sein.
Übersetzt von Thomas Raab