Heft 1/2018 - Netzteil


Tierische Intelligenzen

Nicht menschliches Problemlösen oder die Grenzen der Speziesüberlegenheit

Susana Monsó


Der Kluge Hans war ein außergewöhnliches Pferd. Er lebte Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland und konnte etwas, das kein anderes Pferd konnte: rechnen. Neben dem Zählen beherrschte er die Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Sein Besitzer Wilhelm von Osten ging mit ihm auf Tour. Bei ihren Auftritten führten sie dem Publikum vor, wie intelligent der Kluge Hans war. Wenn von Osten Hans zum Beispiel fragte: „Was ergibt zwei plus zwei?“, antwortete Hans, indem er die entsprechende Zahl mit Hufschlägen anzeigte. Und das war immer richtig.
Der Kluge Hans wurde so berühmt, dass er schließlich die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf sich zog. Nachdem die WissenschaftlerInnen seine Fähigkeiten unter verschiedenen Bedingungen untersucht hatten, stellten sie fest, dass Hans Fragen nur dann richtig beantwortete, wenn die fragende Person die Antwort kannte. Fragte ihn jemand ohne jegliche Mathematikkenntnisse, wie viel zwei plus zwei sei, klopfte Hans beliebig oft mit dem Huf und antwortete falsch. Die WissenschaftlerInnen fanden schließlich heraus, dass Hans in Wirklichkeit gar nicht rechnete, sondern die Körpersprache der FragestellerInnen las. An minimalen Veränderungen in Gestik und Körperhaltung der jeweiligen Person erkannte er, wann er aufhören musste, mit dem Huf zu klopfen.
Diese Geschichte wird überall auf der Welt in den Fachbereichen für vergleichende Psychologie erzählt, um zukünftigen ForscherInnen zu vermitteln, wie wichtig es ist, alle Variablen, die das Ergebnis eines Experiments beeinflussen könnten, zu kontrollieren. Die Lehre aus der Geschichte: Hat man die Variablen nicht unter Kontrolle, kann ein Tier klug erscheinen, obwohl es das nicht ist. Aus dieser Geschichte lässt sich jedoch noch eine weitere Lehre ziehen. Wir neigen dazu zu glauben, dass Hans wohl doch nicht so klug war, wenn wir von seinem kleinen „Trick“ erfahren. Das zeigt, dass Menschen Tiere nur dann für intelligent halten, wenn sie etwas typisch Menschliches tun, wie etwa rechnen. Wenn ein Tier etwas macht, das wir nicht können (wobei man fairerweise sagen muss, dass wir es mit Hans hinsichtlich seiner Fähigkeit, Körpersprache zu deuten, kaum aufnehmen könnten), tun wir das als Ergebnis irgendeines Instinkts oder einer anderen „niederen“ Fähigkeit ab, die der wahren (das heißt menschlichen) Intelligenz nicht ebenbürtig ist.
Die Geschichte des Klugen Hans veranschaulicht unsere höchst anthropozentrische Vorstellung von Intelligenz. Wir halten uns für die Krone der Schöpfung, die intelligente Spezies schlechthin, und nur jene Tiere, deren Fähigkeiten den unseren ähneln, werden dieser Bezeichnung für würdig befunden. Diese Form von Anthropozentrismus zeigt sich in der Art und Weise, wie ForscherInnen sogenannte tierische Intelligenz üblicherweise testen. Sie untersuchen Versuchstiere in hochgradig künstlichen Situationen, die sich erheblich von ihrer natürlichen Umgebung unterscheiden, auf typisch menschliche Fähigkeiten wie Sprache, Werkzeugeinsatz, Moral usw. Viele Arten vollbringen bei diesen Versuchen zwar erstaunliche Leistungen, doch sagen die Untersuchungen im Grunde mehr über unsere eigene Spezies aus als über die getesteten Tiere. Die grundlegende Botschaft dieser Tests lautet: Wir halten uns für die wichtigste Spezies auf der Erde.
Wir bewerten Tiere auf einer Skala von null bis menschlich, aber vielleicht sollten wir die besonderen, artentypischen und nicht menschlichen Formen von Intelligenz untersuchen, die jede Spezies aufweist. Einige Beispiele von Tieren, die über eine andere Art von Intelligenz verfügen als wir, sind diesbezüglich besonders aufschlussreich. Der Kiefernhäher, eine Vogelart, sammelt im Laufe des Sommers bis zu 30.000 Samen und lagert sie an Hunderten von verschiedenen Orten. Er erinnert sich erstaunlich genau an jedes einzelne Versteck und findet die dort versteckten Samen selbst neun Monate später noch. All das ohne Stift und Papier. Kehren Nahrung suchende Honigbienen in den Bienenstock zurück, nachdem sie eine Futterquelle für ihr Volk gefunden haben, führen sie vor ihren Kolleginnen einen Tanz auf. Mit dem Tanz geben sie sehr präzise die Entfernung zur Quelle an (je länger der Tanz, desto größer die Entfernung). Der Winkel, in dem der Tanz aufgeführt wird, verweist auf die Richtung der Nahrungsquelle relativ zum Sonnenstand. Die anderen Bienen können die Futterquelle anhand dieser Informationen ohne Probleme finden, auch wenn sie mehrere Kilometer entfernt ist. Feuerameisen wiederum, die in Isolation erstaunlich unbeholfen sind, verfügen über eine unglaubliche Fähigkeit zur Koordination ihres Verhaltens, wenn viele von ihnen zusammen sind. Das macht sie als Gruppe äußerst widerstandsfähig. So können sie ihre Körper zu wasserabweisenden Flößen und Brücken verbinden und sich, je nach Situation, wie eine Flüssigkeit oder ein Festkörper verhalten. All das, ohne dass eine von ihnen das Kommando innehat.
An dieser Stelle ließe sich einwenden, dass wir Menschen uns zwar nicht derselben Methoden bedienen wie diese Tiere, aber die Herausforderungen, vor denen die Tiere stehen, anders bewältigen können: Wir nutzen Stift und Papier um aufzuschreiben, was wir uns nicht merken können, wir kommunizieren mittels Sprache, wenn wir anderen den Ort einer Ressource mitteilen möchten, und wir übertragen jemandem die Verantwortung, wenn wir unser Handeln koordinieren möchten. Außerdem ließe sich einwenden, dass wir uns auf die menschliche Intelligenz konzentrieren sollten, da wir schließlich die überlegene Spezies sind, die beste im Problemlösen, und es daher sinnvoll ist, alle anderen im Vergleich zu uns zu bewerten. Doch diese Vorstellung von menschlicher Überlegenheit ist ebenfalls sehr anthropozentrisch. Wir sind nur dann die überlegene Spezies, wenn wir als Kennzeichen von Überlegenheit typisch menschliche Fähigkeiten heranziehen wie etwa Sprache, Rationalität oder in diesem Fall das Lösen von Problemen. Wenn wir der Messung von Überlegenheit einen anderen Maßstab zugrunde legten, könnte das Ergebnis ganz anders aussehen.
Sehen wir uns zum Beispiel das Bärtierchen bzw. den Wasserbären an. Dieses winzige Lebewesen ist nur etwa einen halben Millimeter groß. Bärtierchen finden sich in nahezu allen Lebensräumen auf der Erde und sind die bei Weitem zähesten Tiere. Sie können 30 Jahre ohne Nahrung und Wasser auskommen, Temperaturen vom absoluten Nullpunkt bis zu 150 ºC überleben und 1.200-fach höheren Druck als den der Erdatmosphäre überstehen. Sie halten das Hundertfache einer für uns tödlichen Strahlungsdosis aus, und sie können sogar mehrere Tage im Vakuum des Weltalls überleben. Sie haben fünf Massenaussterben überlebt, und sie werden vermutlich noch lange existieren, nachdem die Bedingungen auf der Erde für uns zu lebensfeindlich geworden sind. Würden wir Überlegenheit also auf rein biologischer Basis, hinsichtlich der reinen Überlebensfähigkeit, messen, dann wären Bärtierchen die überlegenen Lebewesen, nicht wir.
Eine bekannte Karikatur zeigt verschiedene Tierarten vor einem Baum, und ein menschlicher Prüfer sagt: „Damit die Selektion gerecht ist, müssen alle die gleiche Prüfung ablegen: Klettert bitte auf den Baum.“ Diese Karikatur wird oft herangezogen, um das Versagen unseres Bildungssystems zu veranschaulichen, wenn es darum geht, verschiedene Formen menschlicher Intelligenz anzuerkennen, und um zu zeigen, dass es nicht sinnvoll ist, uns alle anhand desselben Maßstabs zu bewerten. Aber wir können sie auch ganz bildlich als Hinweis darauf verstehen, dass die Verwendung des allgemeinen Begriffs „Intelligenz“ zu kurz greift, wenn wir über das Verhalten und den Verstand von Tieren sprechen. Wir sollten daher nicht von tierischer Intelligenz in der Einzahl sprechen, sondern von tierischen Intelligenzen bzw. verschiedenen Arten tierischer Intelligenz.

 

Übersetzt von Gülçin Erentok