Heft 2/2018 - Netzteil
Die digitale Welt ist unsichtbar. Wer aber könnte behaupten, sie wäre nicht da? Es ist das Unterbewusstsein der Bilder, die Refrakt erforschen.
Es blinkt und leuchtet in der Berliner Gemäldegalerie, alte Meister wabern und fließen, verzerren sich und fliegen durch den Raum, Madonnen bewegen ihre Füße, und Skulpturen sind von digitalen Tüchern verhängt. Ein bizarres Bild, das sich den geneigten BesucherInnen in den ehrwürdigen Galerien bietet – und ein durchaus klandestines. Denn seit 2015 findet man in dem Museum eine zweite, geheime Dauerausstellung hinter den dort hängenden Ölgemälden – die App des Berliner Künstlerduos Refrakt vorausgesetzt. Objects in Mirror are Closer than they Appear nannten Alexander Govoni und Carla Streckwall ihre „Guerilla-Ausstellung“, in welcher sie sich die Infrastruktur, das Gebäude, die Bilder des Museums zu eigen machten, die aber ganz ohne das Mitwirken der Gemäldegalerie zustande kam.
„Wir haben mehrere Monate in den Räumen des Museums verbracht und diese sowie die Gemälde digital erfasst. Als Ergebnis wurden 82 Bilder von uns erweitert, kommentiert und verfremdet. Die virtuelle Installation kommt gänzlich ohne Eingriffe in den physischen Ausstellungsraum – wie zum Beispiel QR-Codes – aus. Die BesucherInnen benötigen hierfür nur unsere App Refrakt, in der neben den Bildinformationen der Gemälde auch unsere virtuelle Ausstellung gespeichert ist. Richtet man sein Smartphone oder Tablet auf eines der ausgewählten Bilder, erscheint das entsprechende digitale Werk in der Augmented Reality.“ Das Ergebnis war die wohl subversivste, visionärste und zeitgenössischste Ausstellung, die das ehrwürdige Haus am Kulturforum je gesehen hat. „Wir könnten jetzt eigentlich in jedes Museum gehen und dort unsere virtuellen Ausstellungen platzieren – Louvre, MoMA –, aber darum geht es uns gar nicht primär.“ Denn die Idee bei Refrakt ist grundsätzlicher.
Expanded Reality ist bereits Realität – und wir sehen sie jeden Tag
Als „digitalen Dualismus“ bezeichnen SoziologInnen das vorherrschende Weltbild, das unser Leben mit dem Virtuellen bestimmt. Diese virtuelle Welt existiere nur auf Servern und auf Screens, auch sei sie der analogen, „echten“ Welt entgegengesetzt oder untergeordnet. Ein Fehlschluss allerdings: Denn längst verschwimmen die Gegensätze zwischen der vermeintlich realeren, analogen Welt und der virtuellen nicht nur bei Augmented-Reality-Spielereien wie Pokémon Go. Vielmehr sind auch unsere analogen Beziehungen längst schon digital geprägt, die Pizza wird virtuell bestellt, unsere Fitnesserfolge werden ins Netz gestreamt, und GPS-Signale leiten den Weg zur realen Party. Ebenso ist es ein Fehlschluss zu glauben, mit dem Ausschalten des Smartphones würde diese virtuelle Welt verschwinden: Schließlich sind wir auch ohne unser Zutun als Datensätze in den Datenströmen großer Konzerne vertreten. „Was wir mit Refrakt wollen, ist mehr, als nur Gemälde virtuell zu erweitern“, so Govoni, „wir möchten eine Art Fenster in die digitale Welt schaffen.“ Refrakt ist ein symbolisches Werkzeug, das uns einen Blick nach drüben gestattet und die Allgegenwart beider Welten ins Bewusstsein ruft.
Fast wie ein Graffiti, das erst entsteht, wenn man durch das Smartphone blickt
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Bilder die Orte sind, die sich Refrakt für diese Verschmelzung ausgesucht haben, denn Bilder waren immer schon die Eintrittsstelle zu einer anderen Welt, egal ob in der Gemäldegalerie, im Bilderbuch oder im Reiseprospekt. Und längst sind wir im Zeitalter der Bilder angekommen, Bilder regieren die Welt von Wahlplakaten, von Titelseiten oder von Werbetafeln in öffentlichen Toiletten aus. Genau diese potenzielle und faktische Allgegenwart ist auch der Aspekt, der ein dystopisches Element in die Thematik bringt. „Auch das interessiert uns natürlich, nicht zuletzt weil wir eigentlich aus der visuellen Kommunikation kommen.“ Kollaborationen mit anderen MedienkünstlerInnen sind häufig politisch angelegt und setzen sich inhaltlich mit den heutigen Möglichkeiten von Kommunikation auseinander.
Hack de Patria nannten sie etwa das zusammen mit der venezolanischen Künstler- und Aktivistengruppe Dismantling the Simulation entwickelte Projekt zur dortigen Präsidentschaftswahl 2015, in welcher sie die visuellen Elemente der regimenahen Parteien mit entsprechenden, simplen Slogans – „Fraude“ (Betrüger) und „Obedéceme“ (Obey me) – als Propaganda entlarvten. Es war dies auch ein kleiner Seitenhieb auf John Carpenters legendären Thriller They Live, dessen Hauptdarsteller durch seine spezielle Sonnenbrille die Gehirnwäsche hinter den bunten Wahlplakatwänden sehen kann. Und zusammen mit Tony Grayson entwickelten Refrakt nach der Wahl Trumps zum US-Präsidenten sogar Überschreibungen der US-amerikanischen Flagge.
„Die Technik dahinter, ohne QR-Codes zu arbeiten, gibt es eigentlich schon länger – Augmented Reality fand jedoch bis vor Kurzem fast ausschließlich im kommerziellen Kontext Anwendung.“ Dabei scheinen die künstlerischen Möglichkeiten dieser Technik gerade im öffentlichen Raum endlos: „Unsere Interventionen können nicht einfach übermalt werden, können niemanden stören, weil sie gar keine Spuren im Realen hinterlassen.“ Sie sind für Eingeweihte, die sich so austauschen können, ohne Einmischung von außen – und alles könnte dabei ein Code sein, von der Palmers-Werbung bis zur Mona Lisa. Als Street Artists sehen sich Govoni und Streckwall dennoch nicht – und die Frage danach scheint sich zu erübrigen, wenn die Grenzen zwischen Straße und digitaler Welt sowieso langsam verschwimmen.
Zurück ins Museum
Für ihre jüngste Installation kehren Refrakt aber doch wieder ins Museum zurück – als Teil der Ausstellung Virtual Normality. Netzkünstlerinnen 2.0 im Museum der bildenden Künste Leipzig. Für ihr Projekt Slide to Expose kooperieren Govoni und Streckwall mit den jungen Künstlerinnen Molly Soda und Nicole Ruggiero und überschreiben die Starposter in einem typischen Jugendzimmer der „Digital Native“-Generation mit darunterliegenden intimen Gedanken, wie sie sich etwa in Chatnachrichten manifestieren. „Digitaler Austausch kann auf jeden Fall sehr intim sein“, meint Ruggiero dazu, und sei nicht automatisch oberflächlich oder unwichtig – egal wie viele halbinformierte MedienjournalistInnen behaupten mögen, das Internet trage zur Vereinzelung oder Verrohung des Menschen bei. Gerade der in der Ausstellung angesprochene „Netzfeminismus“ und die damit verbundene erhöhte Aufmerksamkeit, die bisher unbeachteten Themen auf diesen Wegen zukommt, oder das Vernetzungspotenzial zwischen marginalisierten Gruppen scheinen allesamt wie ein Gegengewicht zu den oft beschworenen dunklen Seiten des Netzes, zu Klick-Populismus, rechten Shitstorms oder russischen Hack-Angriffen.
Im Netz passiert so vieles – Gutes wie Schlechtes. Inzwischen ist es einfach ein untrennbarer Teil des Raums, in dem wir leben. Man blickt vielleicht ständig durch einen Screen auf die Welt, aber was man sieht, bestimmt man im Grunde immer noch selbst – dies scheint eine der Essenzen des Refrakt-Projekts zu sein. Das Schöne ist, dass man das völlig ungestört machen kann, ungefähr so wie bei dem Projekt in der Gemäldegalerie: „Es gab dort am Ende nicht mal Ärger, weil die Leute sowieso ständig mit ihren Smartphones durchlaufen.“ Was auch auf die Welt draußen zutrifft.