Heft 2/2018 - originalcopy


Das Unbehagen aushalten

Kulturelle Aneignung in Amerika

Bettina Funcke


„Kunst wird heute ständig aus den Beziehungen zwischen den einzelnen Bestandteilen konstruiert.“
Laura Owens1

Wenn wir diesen Kommentar von Laura Owens zu den formalen und materiellen Prozessen des heutigen Kunstschaffens als sozialen, kulturellen und politischen Befund lesen, führt er uns an die aktuelle Debatte über kulturelle Aneignung oder „Appropriation“ in Amerika heran. Kontroversen wie solche über Kelley Walker im Contemporary Art Museum St. Louis, Dana Schutz im Whitney Museum oder Sam Durant am Walker Art Center signalisieren den Beginn einer neuen Ära. Die gegenwärtige Empörung über kulturelle Aneignung hat die Beteiligten auf allen Seiten traumatisiert: Museumsverantwortliche traten zurück, KünstlerInnen erhielten Todesdrohungen, BesucherInnen lancierten Petitionen für die Zerstörung von Kunstwerken. Die Beziehungen zwischen den Teilen sind also gestört. Wie konnte es so weit kommen?
In den späten 1970er- und 1980er-Jahren führten KünstlerInnen die formale, materielle „Appropriation“ als kritisches und transformatives Instrument ein; und wie es scheint, hat dieser Moment auch den Aufstieg des Neoliberalismus und der Identitätspolitiken markiert. Heute befinden sich alle drei im Extremzustand: Ein digital gesteigerter Neoliberalismus erreicht seine grausamen Grenzen, eine neue und reaktionäre Form der Identitätspolitik zeichnet sich ab, und die „Appropriation“ in der Kunst impliziert heute vor allem kulturelle Aneignung. Ich möchte auf einige der Verwobenheiten zwischen diesen drei historischen Figuren eingehen.
Im künstlerischen Kontext verweist der Begriff der Aneignung ursprünglich auf ein kritisches Instrument der Selbstermächtigung, das mit der guerillaartigen Umdeutung von Bildern einhergeht. KünstlerInnen der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre etablierten diese heute allgegenwärtige Geste des Kopierens, um eine Fragmentierung und Dislozierung herbeizuführen. Aneignung bzw. „Appropriation“ griff in dominante Repräsentationskulturen ein und legte die in den Bildern der Kunst und Kunstgeschichte inhärenten Machtstrukturen ebenso offen wie die des kommerziellen und populärkulturellen Materials der „Kulturindustrie“ in der Definition der Frankfurter Schule. Aneignung bedeutete Diebstahl an der Macht.
Jahrzehnte später hat sich die Sichtweise auf künstlerische Aneignung umgekehrt und der mutmaßliche Diebstahl an der Macht zu einem mutmaßlichen Diebstahl an den Unterdrückten gewandelt. Laut Duden bzw. dem englischen Merriam Webster bedeutet Aneignung/Appropriation eine „widerrechtliche Inbesitznahme“ unter „dem Deckmantel einer Autorität“ – eine Phrase, die man auch als pointierten Euphemismus für die Ungerechtigkeiten des Kolonialismus, Rassismus und Patriarchats lesen könnte. In diesem Sinne zieht sich der Begriff der „Appropriation“ wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte der Enteignung, Unterdrückung und Marginalisierung. Die aktuelle Empörung richtet sich gegen die Naivität, mit der (weiße) KünstlerInnen Bilder von anderen Kulturen oder Völkern übernehmen.
Die Taktik der künstlerischen Aneignung bestand darin, den Schwerpunkt vom Original zur Kopie zu verlagern, also dem Kontext den Vorzug zu geben; man könnte dies als Urszenario des heutigen Dilemmas betrachten, denn die Taktik war so erfolgreich, dass sie zum Grundbestandteil jeder Werbung und Markenentwicklung wurde, während die Aneignungs- oder Appropriationskunst selbst von den kulturellen Randbereichen ins Museum wanderte. Aneignung ist nach wie vor eine Art von Diebstahl, aber ihr eigener Kontext hat sich verändert. Man denke etwa an Sam Durants bissiges Antimonument Scaffold (2012), bestehend aus sieben historischen Galgen, die zwischen 1859 und 2006 in von der US-Regierung sanktionierten Hinrichtungen zum Einsatz kamen. Bei der Ausstellung am Walker Art Center insistierten die Angehörigen des Stamms der Dakota, dass die Arbeit mit ihrem unterschwelligen Verweis auf das Mankato-Massaker an 38 Dakota-Männern ihre Würde verletzte, und die Skulptur wurde abgebaut. Die Kontroverse offenbart weniger das Fehlverhalten eines einzelnen Kunstschaffenden oder Museums als vielmehr ein systematisches Versagen der Repräsentation, oder in Durants Worten, „die unglaubliche Kluft zwischen der Kunstwelt und dem Rest der Welt“2.
Ich möchte hervorheben, dass das Museum hier die Schnittstelle zwischen diesen zwei Welten ist. Immerhin waren die kontroversen Kunstwerke von Durant, Durham, Schutz und Walker alle bereits zuvor schon öffentlich zu sehen gewesen ohne jeden Aufstand, bevor sie in amerikanische Museen gebracht wurden. Homi Bhabha meint, dass „wir diese Akte [der kulturellen Aneignung] und deren Auswirkungen wohl niemals kontrollieren können. Sie entwickeln sich über jede ursprüngliche Absicht hinaus“3. Jeder begreift, dass Museen dazu da sind, unterschiedliche Positionen innerhalb eines übergeordneten Narrativs zu vereinen, ein Narrativ als Synonym für kulturelle Macht. Vielleicht ist es zum Teil dieses hegemoniale Cut-and-Paste – eine augenscheinliche Aneignung –, welche das in den Vordergrund stellt, was über die Intentionen der KünstlerInnen hinausgeht.
Sowohl das Prinzip der Aneignung in der Kunst als auch ein wichtiger Teil des postkolonialen Denkens entstanden aus dem Poststrukturalismus, mit seinem Antiessentialismus und Aufspüren von hierarchischen Codes und festgeschriebenen Bedeutungen. In diesem Sinne gibt es hier historische Parallelen. Gregg Bordowitz erinnert sich, dass „,Appropriation‘ in den frühen 1980er-Jahren als gegenkulturelle Strategie begriffen wurde – in der Kunst, aber auch in der allgemeineren Gegenkulturbewegung mit ihren linken Befreiungskämpfen Rasse, Geschlechterrollen und Sexualität betreffend“4. Auch Coco Fusco verweist darauf, „dass es bereits in den 1970er-Jahren einen aktiv geführten Diskurs über Identitätspolitik gab. Es begann mit der Gründung von Kulturräumen für Minderheiten und der Einführung von Ethnic Studies; danach rückten die Streitthemen Schwarzer Feminismus und Schwarze Maskulinität in den Brennpunkt, und all das überschnitt sich dann in den 1980er-Jahren mit verschiedenen anderen Tendenzen wie Institutionskritik, Poststrukturalismus und Feminismus“5. Für Fusco war die „Krise der Identität“ ein Symptom einer dezentralen Verschiebung von konzeptuellen und ideologischen Rahmenbedingungen, die den Menschen ein Gefühl der Verankerung in ihrer Welt gegeben hatten. Identität „wurde dann als Begriff behandelt, der aus verschiedenen Blickrichtungen zu betrachten war“6, nicht einfach von zwei gegensätzlichen Seiten, wie dies heute unter der Prämisse „wir gegen sie“ ganz selbstverständlich praktiziert wird. Wenn es jedoch in der Identitätspolitik ursprünglich darum ging, eine Gemeinschaft zum Zweck der besseren Sichtbarkeit in der Einforderung von BürgerInnenrechten zu formen, so scheinen heute deren essentialisierenden Behauptungen vorherrschende Macht- und Kapitalstrukturen zu verfestigen. Anstatt Grenzen, Diskriminierung, Angst vor den anderen und weitere Abschottungsmechanismen im Sinne der Gleichberechtigung aufzubrechen, wird jeder Dialog unterbunden und Selbstsingularisierung begrüßt. Nach Fred Motens Beobachtung verursacht Letztere „die Einzementierung von Differenzen“7.
Sarah Schulman beklagt das Unterdrücken von Konflikten und Vielfältigkeit in der neoliberalen Kultur, die die Idee propagiert, „man soll offen und verfügbar sein, man soll Dinge mögen, man soll Konflikte kleinhalten“8. In ihrem einflussreichen Buch Conflict Is Not Abuse schreibt sie: „Die Wucht, die den Konflikt fälschlicherweise als Misshandlung darstellen lässt, nennt man Eskalation. Eskalation fungiert als eine Art Deckmantel, um den eigenen Einfluss, den eigenen Beitrag zum Konflikt der AkteurInnen auf Geschehnisse zu vertuschen. […] Eskalation bedeutet in dieser Lesart eine Verweigerung der Selbsterkenntnis.“9 Diese Verweigerung der Selbsterkenntnis – ob nun aus Feigheit, Angst, Wut oder Resignation – durchzieht die Debatte über kulturelle Aneignung. Die Aufrufe zur Zerstörung von Kunstwerken, die Todesdrohungen und Widerstände, den Dialog zu suchen, sind alles Ausflüchte in die „Eskalation“, um sich nicht dem Problem zu stellen und eine tiefergehende Selbsterkenntnis zu erlangen. Die interessantesten kreativen Errungenschaften der Kultur entstehen an der Schwelle zwischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden; Kultur ist relational und nicht bloß eine Geschichte der Dominanz.10 Édouard Glissant drängte: „Consent not to be a single being!“11 (Gesteht euch ein, nicht nur ein einziges Wesen zu sein!)
Von meinen FreundInnen höre ich: Schreib nicht über kulturelle Aneignung, du wirst Schwierigkeiten bekommen. Aber weshalb sollten wir uns diesem Unbehagen nicht stellen dürfen? Teilweise wird dies wohl auf die Streitfragen zurückzuführen sein, wie sie sowohl die frühe Appropriationskunst als auch die derzeit aufkeimende Identitätspolitik aufzeigen: der ängstliche Umgang mit Kopie und Original unserer Epoche sowie die dazugehörige Signifikanz des Kontexts. Mit den Jahren hat sich die Situation noch verschärft. Neoliberale Politik und digitale Technologien haben uns in einen Zustand der digitalen Verflüssigung versetzt, in dem alles endlos dupliziert, geteilt, verbreitet und aus dem Kontext gerissen wird. Der Akt des Kopierens beschreibt die Verfassung der heutigen westlichen Kultur, ist ihr wesentliches, in alle Lebensbereiche vordringendes Merkmal, begründet in der zeitgenössischen Allgegenwart der Netzwerke. In den sozialen Medien werden wir alle kopiert und reproduziert. Man könnte sogar sagen, dass es so etwas wie eine Kopie gar nicht mehr gibt, wie dies Seth Price in seinem Buch Was ist los (2003) vorschlägt. Aber wenn es keine Kopie gibt, was ist dann ein Original? Oder im Sinne der neuen digitalen Verunsicherung gefragt: Wie kann man Kontrolle über das erlangen und behalten, was zutiefst du bist oder deines ist, und was du dennoch nur flüchtig besitzt: deine Kultur, dein Abbild, deinen Stil, deine Gewohnheiten und Manierismen, deine Geschichte und deine Sorgen?
Kultur generiert sich schon seit jeher aus Zugehörigkeit, in gemeinsamen Ritualen und Erinnerungsmodellen, oftmals mit Bezug zu Objekten oder gesellschaftlichen Zusammenkünften. Während dies früher persönliche Anwesenheit erforderte, hat die technologische Entwicklung Kultur und Zugehörigkeit größtenteils in die digitale Domäne verdrängt. Hito Steyerl argumentiert, dass „dieses Ding, das man einst das wirkliche Leben nannte, heute weitgehend ein Abbild geworden ist“12. Für Steyerl besteht die Aufgabe des/der KünstlerIn heute darin, verschiedene Formen der Zirkulation zu finden. Die Wertigkeit hat sich in der Kunst unaufhaltsam in Richtung der vielen Möglichkeiten des Erinnerns, Kommentierens, Personalisierens, Editierens, Authentifizierens, Ausstellens, Markierens, Transferierens und Einbindens einer Arbeit verschoben. Wir müssen Information bewegen, verwalten, analysieren, organisieren und verbreiten. Wie Laura Owens es im Hinblick auf das Integrieren von Methoden und Bildern mit bis dahin anderen Anwendungszwecken formulierte, wird Kunst heute aus den Beziehungen zwischen den Teilen konstruiert. Diese Teile mögen sich auf Bilder beziehen: auf deren Reproduktionsmethoden; auf das, was sie kommunizieren; ihre kulturellen Bezugspunkte; auf die Art und Weise, wie sie unterschiedliche Bedeutungen für verschiedene Menschen haben. Kunst deutet auf eine Beziehung zwischen den Stadien, die Bilder, Kopien und Repräsentationen durchlaufen. Kunst widmet sich der Frage, woraus Bilder gemacht werden, in was für einem Zustand sie sich befinden. Die Kunst der Gegenwart muss notwendigerweise die beunruhigenden Verschiebungen und Instabilitäten, die den uns täglich verfolgenden Bildern innewohnen, aufspüren, aufnehmen oder zum Ausdruck bringen. Folglich wäre es unrealistisch, sich der Aneignung zu entziehen: Ein/e KünstlerIn muss sich dieser stellen, wenn er oder sie sich mit Kultur und ihren Funktionsweisen auseinandersetzen will. Natürlich ist kulturelle Aneignung an sich schon gewissermaßen eine reine Umverteilung von Bildern. Welche Art des Storytellings kann also mit der technologischen Novität und ungeheuren Ausdehnung der Database als Archiv umgehen und gleichzeitig mit spezifischen, lokal bedingten Sensibilitäten und der Geschichte von bestimmten Bildern in Verbindung bleiben?
Kunst ist ein Umschlagplatz von Symbolen und Bildern und war niemals politisch oder historisch neutral. Wir sollten uns mit den Abgründen, die sich aus der Zirkulation von Symbolen durch die Kunst auftun, konfrontieren. In Schulmans Worten gesprochen sollten wir uns nicht unter dem Deckmantel der Eskalation verstecken, so verwirrend und schmerzhaft – oder vordergründig ablenkend – die Diskrepanzen auch sein mögen. Oder wie Zadie Smith so treffend gesagt hat: „Ich halte die Diskussionen über Aneignung und Repräsentation in keiner Weise für unerheblich. […] Die Lösung lautet wie schon immer: Komm raus (aus der Galerie) oder geh tiefer rein (in die Argumentation).“13

 

 

[1] Laura Owens (zitiert von Peter Schjeldahl), The Radical Paintings by Laura Owens, in: The New Yorker, 30. Oktober 2017.
[2] Devon Van Houten Maldonado, Sam Durant Speaks About the Aftermath of His Controversial Minneapolis Sculpture, in: Hyperallergic, 14. Juli 2017; https://hyperallergic.com/390552/sam-durant-speaks-about-the-aftermath-of-his-controversial-minneapolis-sculpture.
[3] Homi Bhabha (Roundtable-Teilnehmer), Cultural Appropriation: A Roundtable, in: Artforum, Sommer 2017, S. 270 (Übersetzung für diese Publikation).
[4] Gregg Bordowitz (Roundtable-Teilnehmer), in: ebd.
[5] Coco Fusco, Jahrzehnte der Identitätspolitik, in: Texte zur Kunst, September 2017, S. 115.
[6] Ebd., S. 119.
[7] Fred Moton in Conversation with Arthur Jafa, The Graduate Center, The City University of New York, 11. Dezember 2017 (Übersetzung für diese Publikation).
[8] Sarah Schulman im Gespräch mit Caroline Busta und Anke Dyes: Echte und falsche Opfer, in: Texte zur Kunst, September 2017, S.
[9] Sarah Schulman, Conflict Is Not Abuse: Overstating Harm, Community Responsibility, and the Duty of Repair. Vancouver 2016, S. 139 (Übersetzung für diese Publikation).
[10] Vgl. Homi Bhabha, The Location of Culture. London/New York 1994.
[11] Zitiert von Fred Moten als Titel seiner gleichnamigen Trilogie, deren erster Teil Black and Blur im Dezember 2017 bei Duke University Press erschienen ist.
[12] Hito Steyerl and Laura Poitras in Conversation: Techniques of the Observer, in: Artforum, Mai 2015, S. 338–341 (Übersetzung für diese Publikation).
[13] Zadie Smith, Getting In and Out: Who Owns Black Pain?, in: Harper’s Magazine, Juli 2017; https://harpers.org/archive/2017/07/getting-in-and-out (Übersetzung für diese Publikation).