Original versus Kopie heute? Wen mag das noch groß reizen angesichts einer Kultur, in der das Kopieren und (teils unbedachte) Reproduzieren von Quellen gleichsam Standard geworden sind? Einer Kultur, in der das automatische Vervielfachen und Weiterverbreiten egal welchen Ausgangsmaterials gewissermaßen zu einer Grundbedingung geworden ist. Die technologische Basis dafür, die nicht mehr einfach rückgängig gemacht werden kann, bereitet allenfalls den Konzernen der Kulturindustrie Schwierigkeiten. Daneben zeichnet sich eine nicht so leicht abzustreifende Problematik in den vielen Anlassfällen rund um Plagiarismus und, ja, unrechtmäßiges Kopieren ab. Aber ist die Kunst der Gegenwart von all dem wirklich tiefer betroffen? Lässt sich Jahrzehnte nach dem Aufkommen von Postmoderne-Diskurs und Appropriationskunst noch sinnvoll und erkenntnisreich über Originalität und Reproduktion, über Ursprünglichkeit und Zitat reden? Ist die „culture of the copy“ nicht längst zum unabdinglichen Fundament allen Produzierens und Rezipierens geworden? Einer Basis, an der man allenfalls im Kleinen herumschrauben kann, aber ganz sicher nicht im großen, stilbegründenden Ausmaß.
Die heutige Möglichkeit, Datenmaterial per Knopfdruck verlustfrei zu duplizieren, lässt ehemalige avantgardistische Methoden, mit denen die Grenzen zwischen Original und Kopie aufgeweicht werden sollten, obsolet erscheinen. Die Allgegenwart unterschiedlichster Kopiertechniken – Stichwort „copy & paste“ – bestätigt, dass sich das Phänomen als künstlerische wie auch als alltagskulturelle Praxis vollends etabliert hat. Und dennoch bleibt ein latentes Unbehagen bestehen: Wenn alles kopierbar und beliebig vervielfältigbar geworden ist, woran bemisst sich dann der Wert eines spezifischen, zumal gelungenen Werks? Was sind die Kriterien, nach denen sich diese Welt des Übernommenen und Zitathaften, des Appropriierten und Weiterverarbeiteten, genauer differenzieren lässt? Und mehr noch: Da die Funktionsweisen und Logiken der allgegenwärtigen Kopierverfahren häufig im Verborgenen bleiben, ja sich zusehends immaterialisieren, stellt dies auch eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für jede Art von künstlerischer Methodologie dar. Wie, so die hier ansetzende Frage, kann man den genaueren Prozess bestimmen, der gegenwärtiges Kopieren und Aneignen von früheren Ansätzen der Appropriations-, Found-Footage- und Remix-Kunst unterscheidet?
All diesen Fragen geht die Ausgabe originalcopy unter thematischer Einbeziehung neuerer, digitaltechnologischer Verfahren und Möglichkeiten nach. Entstanden ist das Heft in Kooperation mit dem gleichnamigen, vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) unterstützten und an der Universität für angewandte Kunst Wien verankerten Forschungsprojekt, dessen Initiatoren Michael Kargl und Franz Thalmair an dieser Stelle für die produktive Zusammenarbeit gedankt sei. Abgebildet ist in der Ausgabe zwangsläufig nur ein Ausschnitt aus dem größeren Projektzusammenhang, der unter anderem auch drei Ausstellungen in Innsbruck, Wien und Brüssel miteinschloss, in die hier nur kursorische Einblicke – über die Auswahl der im Heft vertretenen künstlerischen Arbeiten – gegeben werden können.
Franz Thalmair legt in seinem programmatischen Beitrag dar, wie sich die vormals wertbesetzte Unterscheidung von Original und Kopie im Kontext recherchebasierten Arbeitens immer mehr aufzulösen beginnt. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Frage, wie sich diese Veränderungen – auch abseits digitaler Zusammenhänge – in künstlerische Produktionsvorgänge einschreiben, was anhand einer jüngeren Werkreihe von Mark Leckey veranschaulicht wird. Der Fokus dieses Ansatzes, und dies belegen auch die eigens für diese Ausgabe gestalteten Künstlerbeiträge von Lisa Rastl und Michael Kargl, liegt auf der Spannung zwischen der vermeintlichen Immaterialität digitaler Technologien und ihren materiellen Manifestationsformen. Manifestationen, die erst in ihrer konkreten Formwerdung erkennen lassen, dass die betreffenden Werke mehr ein Oszillieren, ein Hin- und Herpendeln zwischen vermeintlichem Original und Kopie inszenieren als einen simplen Übertragungsvorgang vom einen Pol zum anderen.
Bettina Funcke weitet den Diskurs über Aneignungsverfahren auf die aktuell etwa in den USA heftigst geführte Debatte um kulturelle Enteignung und unrechtmäßige Anleihen aus. Funcke erläutert, inwiefern der ehemals emanzipatorische Impuls hinter diversen Appropriationsverfahren gegenwärtig einen regelrechten „Backlash“ erfährt und angesichts zunehmender identitätspolitischer Verhärtungen in sein Gegenteil zu kippen droht. Derlei Verhärtungen sind, wenn auch auf anderer Ebene, seit Längerem schon in der Auseinandersetzung um literarische Übernahmen und Zitierweisen gang und gäbe. Annette Gilbert rekapituliert in ihrem Beitrag einige jüngere Anlassfälle, etwa rund um Michel Houellebecq und Helene Hegemann, die eine Unterscheidung von künstlerischer und ethischer Legitimität nahelegen. Wörtliche (häufig unausgewiesene) Zitationen sind, so Gilberts Fazit, längst einer allgemeineren, eben Standard gewordenen Kopierkultur geschuldet – was aber nicht heißt, dass man sich über Bezugsquellen und Intertexte stillschweigend hinwegsetzen sollte.
Die genauere Methodologie künstlerischer „Remediation“ – des Aufgreifens eines medialen Versatzstückes in einem anderen Medium – untersucht Gabriele Jutz. Mit Blick auf die Frage, wie Kino mit anderen als filmischen Mitteln möglich ist, befasst sie sich eingehend mit Prozessen der „retrograden“, also rückwirkenden Vermittlung. Wie, so Jutz anhand ausgewählter Beispiele, kann ein jüngeres Medium in einem älteren bereits mit angelegt sein oder über jede Materialspezifik hinaus, den Zeitpfeil quasi umkehrend, „aufgehoben“ werden?
Sämtliche Beiträge dieser Ausgabe versuchen, die scheinbar starre Dichotomie von Original und Kopie aus einer postdigitalen Perspektive neu zur Disposition zu stellen. Das Augenmerk – und methodische Ziel – gilt der wohl noch länger währenden Problematik, inwiefern „Originalkopien“ denkbar sind, worin beide Pole des Begriffspaars auf befreiende Weise ins Schwingen geraten.
Der Hauptteil des Heftes 2/2018 wurde finanziell unterstützt vom FWF Der Wissenschaftsfonds: AR348–G24 (originalcopy).