Heft 2/2018 - Lektüre



Jean-Luc Nancy:

Drei Neuerscheinungen

Zürich (Diaphanes) 2017 , S. 76 , EUR 14

Text: Gislind Nabakowski


Mit dem Buch Banalität Heideggers reagiert Jean-Luc Nancy auf dessen Schwarze Hefte (2014/15 erschienen), die sich auf die Jahre 1931–48 beziehen. Heidegger, seit 1933 NSDAP-Mitglied, ist ein schockierendes Beispiel für einen Menschen, der mit Juden befreundet und Antisemit sein kann. Er hatte eine jüdische Geliebte. Bis zuletzt beschwieg er die Vernichtung der Juden. Seine jüdischen StudentInnen hielt er dennoch für die besten. Jean-Luc Nancy schrieb diesen Text auch, weil sich heute gerne Identitäre auf den rechtsnationalen Philosophen und Hochschullehrer berufen. Wozu sie „die abscheuliche Karikatur des Sündenbocks wieder ausspucken“. Sie beschweigen den Holocaust ebenso. Sie leugnen ihn sogar.
Ist Heidegger nicht auch darum ein so schwieriger Fall, weil er Sein und Zeit schrieb? Nancy bringt es auf den Punkt: Heideggers Sucht nach dem „Seinsgeschichtlichen“, dem Ur- und Anfänglichen, seine metaphysische Obsession, sein willkürliches „Verknoten“ von Begriffen, waren für ihn eine Falle. Das Buch wertet sein antisemitisches Denken als „schlammigsten Diskurs“. Zum Mittelpunkt der philosophischen Kritik an ihm macht Nancy dessen eigene Obsessionen, sein Denken in Urkategorien, seine nebulös wabernde Geschichtslosigkeit. Indizien dafür findet er im naiven Essentialismus seiner Fundamentalontologie und der Metaphysik. An „Menschentümlichkeit“ glaubend wähnte Heidegger sogar wesenhaft Jüdisches herbei. Zum Militarismus des Naziregimes schrieb er: „Wenn im Bereich des Menschen zur Erringung eines Seienden innerhalb eines Seienden solche Opfer wie die eines Krieges gebracht werden müssen, was fordert dann erst vom Menschen die Ereignung eines Wortes des Seyns?“
„Er hätte nach den Gründen und der Herkunft des Antisemitismus fragen können. Er tut es nicht“, ermahnt Nancy, der darstellt, wie Heidegger die „übelsten Formulierungen der allgemeinen ‚doxa‘ der 1930er-Jahre in sein Denken integrierte“ und noch dem „vulgärsten Antisemitismus einen höheren Sinn“ verlieh.
Unvermittelt stellt sich aber dann Nancys Heidegger-Kritik doch auf die Seite derer, die Heidegger nicht auf den Nationalsozialisten reduzieren wollen. Es wird in Nancys mäanderndem Text nicht deutlich, warum dieser Apokalyptiker der Moderne heute noch mit Gewinn zu lesen wäre. Seine metaphysischen Obsessionen sind es doch gewiss nicht.
Zu den Punkten, die die Studie der Philosophie Heideggers als Perspektive für weitere Forschungen entwirft, gehört die genauere Untersuchung des oszillierenden Übergangs vom Kommunismus in den Nationalsozialismus. Auch sollte man sich laut Nancy nicht nur ,,Heidegger und den Juden“ widmen, sondern ebenso dem christlichen Antisemitismus. Im Christentum als A und O einer Heilsgeschichte verortet Nancy einen ausgeprägten Antisemitismus und Antijudaismus, der aus der Rivalität der Religionen kam. Damit berührt der Autor ein Tabu. Ein weiterer Aspekt des Rassismusproblems liegt für ihn im Doublebind von Religionen, vulgo in der Rivalität und Verstrickung zwischen Judentum und Christentum.
Nancys weitere Neuerscheinung mit dem Titel Die Synkopenrede thematisiert, wie bzw. dass durch Immanuel Kant (1724–1804) eine Unterbrechung der ,,logischen, beweismäßigen, systematischen Vorgehensweise“ in der Philosophie gleichsam Mainstream wurde. Dies noch erweiternd, versammelt Nancys dritte, vor Kurzem auf Deutsch erschienene Schrift Der kategorische Imperativ sechs zwischen 1977 und 1983 verfasste Essays, die ethische Motive bei Kant befragen. Weil der kategorische Imperativ vom ursächlich gemeinten Terminus durch Popularisierung weit entfernt wurde, wodurch er Verfälschungen erlitt, ist dies eine genuin philosophische Studie. Anderen Begriffen geschah Vergleichbares, zum Beispiel idea, Monade oder Dekonstruktion.
Was Kants kategorischen Imperativ vom Gebot, vom Rat oder der bloßen Empfehlung unterscheidet, ist, dass er an die Ethik und Freiheit von Menschen appelliert. Er folgt keinem äußeren Nutzen oder Zweck, sondern einem inneren. Voraussetzung dieses Fachausdrucks der Philosophie sei ,,die reine Vernunft“ eines ,,praktischen Subjekts“, das sich um den ,,Vollzug der Freiheit“ bemüht. Dies ist das grundlegende Prinzip seiner Ethik. Der kategorische Imperativ setzt jedoch voraus, ,,in dieser Welt eine andere Welt“, sprich etwas anderes als das Gegebene zu erschließen. Dazu gehört auch ihre politische Veränderung, ein Sinn der Geschichte, eine Utopie – und zwar durch eine Praxis der Vernunft, die „sich nicht mit all dem begnügt, was wir für gewöhnlich ‚rational‘ und ‚vernünftig‘ nennen“. Zu dieser Rationalität gehört es aber überhaupt nicht, sich wegen des ,,Ruins der Ontologie“ (Abschaffung Gottes) als Demiurg an dessen Stelle zu setzen. Es geht darum, sich vernünftig in dieser Leere und Öffnung zu halten.
Die populäre Verwässerung des Begriffs entstand, weil ihm ein gebieterischer Rigorismus übergestülpt wurde. Anstatt einer Besinnung auf die Selbstbestimmung, die Initiative zur Freiheit und Aufklärung, wurden Unterordnung und Gehorsam mit ihm assoziiert. Im Laufe der Jahrhunderte wurde also der Wortsinn immer unbestimmter, verdreht oder belächelt. Nach Kant ist der kategorische Imperativ jedoch notwendig, weil es „auf der politischen Bühne“ und im Menschen „das radikal Böse“ gibt. Bei Kant ist keine Rede davon, dass uns die „allgemeine Praxis der Verteidigung der Menschenrechte“ sicher wäre. Bei der praktischen Verwirklichung der Freiheit tun sich Abgründe auf. Es geht hier und jetzt darum, sie gegen all jene durchzusetzen, die sie diffamieren und verhöhnen.