Heft 2/2018 - Lektüre
Als Jewgeni Mittas neuester Dokumentarfilm im Dezember 2017 bei einem Moskauer Dokumentarfilmfestival präsentiert werden sollte, war dies keine gewöhnliche Premiere: Der auch als Künstler bekannte Mitta beschäftigt sich in 2012 mit jener Protestwelle, die Wladimir Putins dritte Wiederwahl zum russischen Präsidenten begleitet hatte. In Ermangelung einer Vorführerlaubnis verlagerte das Festival die Vorführung in das exterritoriale Kulturzentrum der Tschechischen Republik. Vor dem Eingang stand ein Polizist, der Dokumente überprüfte und die Namen per Funk weitergab. Nicht ausgeschlossen ist, dass es sich bei ihm um einen Agenten des russischen Geheimdiensts FSB handelte.
Diese sowjetisch anmutenden Szenen vor einer Filmpremiere verweisen auf einen Kontext, der auch für das Werk der Moskauer Künstlerin Victoria Lomaskos relevant ist. So wie Mitta hat sie sich intensiv mit der Protestsaison von 2011/12 beschäftigt, in ihrem Fall in Form dokumentarischer Zeichnungen. Die diesbezüglichen Sujets sowie weitere Arbeiten zu russischen Befindlichkeiten zwischen 2008 und 2016 finden sich nunmehr in ihrem Buch Die Unsichtbaren und die Zornigen, das im März in der deutschen Übersetzung der Berliner Kunsthistorikerin Sandra Frimmel erschienen ist. Zuvor waren Lomaskos Arbeiten auf Englisch und Französisch veröffentlicht worden, symptomatisch ist das Fehlen einer russischen Ausgabe.
Bereits 2013 hatten Kuratorinnen einer Moskauer Ausstellung die nunmehr veröffentlichten Zeichnungen zum Punkkollektiv Pussy Riot abgelehnt. Zuletzt zeigten nur private Institutionen in Russland ihre Arbeiten über Proteste – eine Auswahl war etwa 2017 bei der ersten Triennale russischer Kunst in der Moskauer „Garage“ zu sehen.
Das Werk der 1978 geborenen Künstlerin nimmt in Russland jedenfalls formal wie inhaltlich eine marginale Position ein. Ihre strichlastigen Bilder, die zumeist am Ort des Geschehens mit schwarzem Filzstift gezeichnet wurden, teils nachkoloriert und in der Publikation ausführlich erläutert sind, erinnern im westlichen Kontext vor allem an Non-Fiction-Comics. Doch Comics spielen in Russland praktisch keine Rolle, und auch Lomasko bezieht sich auf andere Vorbilder: Ein wichtiger Orientierungspunkt seien Zeichenmappen von Soldaten sowie von Häftlingen in Konzentrationslagern und im Gulag oder von Menschen, die während der Blockade (Belagerung durch die deutsche Wehrmacht 1941–44, Anm.) in Leningrad lebten, schreibt die Künstlerin in der Einleitung ihres Buchs.
Aber auch diese Genres waren angesichts einer totalitären Bildkontrolle, in der Menschenrechtsverletzungen oder soziale Miseren nicht gezeigt werden durften, in der UdSSR bis in die Perestrojka-Zeit weitgehend tabuisiert. Erst im neuen Jahrhundert begannen russische NGOs wie Memorial oder das Sacharow-Zentrum, Gulag-Zeichnungen bekannter Künstler wie Michail Sokolow (1885–1947) oder Julo Sooster (1924–70) als zeithistorische Dokumente auszustellen.
Der Sonder- und in einem gewissen Maß Pionierstatus der Künstlerin hat aber auch mit ihren Inhalten zu tun. Denn die Moskauer Kunstszene zeigte in den letzten Jahrzehnten vergleichsweise wenig Interesse an sozialen Fragen. Lomasko reiste indes für ihre künstlerischen Reportagen in ein Dorf, um sich mit den Auswirkungen der Landflucht zu befassen, beschäftigte sich mit Prostitution in Nischni Nowgorod und suchte den Kontakt zu Frauen aus Zentralasien, die teils jahrelang in einem Moskauer Lebensmittelgeschäft als Sklavinnen gehalten wurden. Oder sie besuchte die Camps von Lastwagenfahrern, die sich erfolglos gegen eine drastische Gebührenerhöhung zur Wehr setzten.
Die Künstlerin verdeutlicht in ihren Arbeiten aber auch, dass im Namen der russischen Orthodoxie agierende Gruppierungen an Relevanz gewinnen: So dokumentierte sie die Bombendrohungen gegen das das LGBT-Filmfestival Side by side in Petersburg, hinter denen religiöse Aktivisten vermutet wurden, oder die Auseinandersetzung in einem Moskauer Park, wo AnrainerInnen gegen die Errichtung einer Kirche auftraten und dafür von einer religiösen Schlägertruppe attackiert wurden.
Gerade im Hinblick auf Entwicklungen in Putins Russland 2017/18, in dem Oppositionelle trotz zunehmender Repression eine Wiederbelebung von Straßenprotesten anstreben, bleibt der im vorliegenden Buch publizierte Zyklus „Chronik des Widerstands“ über die Jahre 2011/12 weiterhin aktuell. Lomasko hielt damalige Schlüsselmomente fest, gleichzeitig sah sie sich – wie auch in anderen Zyklen – im Sinn politischer engagierter Kunst selbst als aktive Teilnehmerin. So beobachtete sie bei Parlamentswahlen Ende 2011 Fälschungen, nahm in den folgenden Monaten gemeinsam mit Zehntausenden anderen immer wieder an Demonstrationen teil und erlebte die Niederschlagung der Proteste im Frühsommer 2012.
Angesichts von Prozessen gegen DemonstrantInnen sowie gegen Pussy Riot wandte sich die Künstlerin schließlich verstärkt der Gerichtsreportage zu und kehrte damit zu ihren Anfängen zurück: Denn mit Zeichnungen aus einem Gerichtsverfahren, in dem Kuratoren für eine Ausstellung über Kunstzensur 2010 zu Geldstrafen verurteilt wurden, war sie in der Moskauer Kunstszene bekannt geworden.