Heft 2/2018 - Lektüre



Migrant Image Research Group (Hg.):

Lampedusa. Bildgeschichten vom Rande Europas

Leipzig (Spector Books) 2017 , S. 77 , EUR 28

Text: Martin Reiterer


Woher kommen die Bilder? Wie werden die Bilder gemacht, die uns die Medien, einschließlich der sogenannten sozialen Medien, täglich bis sekündlich servieren? Und mit welchen Absichten? Es geht um Bilder im Zusammenhang mit der europäischen Asylpolitik, die sich in erster Linie als Grenz- und Sicherheitspolitik versteht, und mit Geflüchteten. Der Fokus ist auf eine kleine Insel gerichtet, die zum Schlagwort geworden ist: Lampedusa.
Vor gut sieben Jahren erhielt der Mailänder Künstler Armin Linke eine Einladung, an einer Fotoausstellung über Lampedusa teilzunehmen. Seit etwa 1996 sind der Ort und die Insel zu einem Knotenpunkt der Migrationsbewegungen zwischen Afrika und Europa und infolgedessen auch zu einem fotografischen Fokus in der Asyl- und Migrationsdiskussion geworden. Angesichts der massenhaften Bilderproduktion rund um Lampedusa lehnte Linke es ab, weitere Bilder zu diesem Thema zu produzieren. Stattdessen überlegte er sich ein Gegenprojekt: Zusammen mit einem Team der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe reiste er in den folgenden Jahren mehrmals nach Lampedusa, um die bereits vorhandenen Bilder über MigrantInnen zu untersuchen, zu hinterfragen, zu analysieren. Zu diesem Zweck traf sich die Migrant Image Research Group, der FotografInnen, KünstlerInnen, FotohistorikerInnen, GrafikdesignerInnen, VerlegerInnen und ComiczeichnerInnen angehören, mit verschiedenen BildproduzentInnen vor Ort – mit Geflüchteten, MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen, Rettungsorganisationen und der Grenzschutzagentur Frontex, FotojournalistInnen, BildredakteurInnen u.v.m. –, um über ihr Verhältnis zu den Bildern, ihre jeweiligen Blickwinkel und Motive zu sprechen. Die in diesen Zusammenhängen thematisierten Funktionen von Fotografie umfassen ein breites Spektrum zwischen Fotos, die der persönlichen Erinnerung oder der Dokumentation der eigenen Arbeit zum Zweck der Finanzierung von Hilfsorganisationen dienen, bis hin zu Fotos, die als Vehikel des Mitgefühls oder der Hetze eingesetzt werden.
Das einstige „Versprechen von Faktizität und Wahrhaftigkeit“, so der Verleger Jan Wenzel in der Einleitung von Lampedusa. Bildgeschichten vom Rande Europas, könne die Fotografie seit der Digitalisierung nicht mehr halten. Das mache die Untersuchung ihrer Entstehungsbedingungen umso nötiger und für die BetrachterInnen zur „Aufgabe“. Ebenso braucht es auch neue „Formen des Zeigens, die die Imaginationsfähigkeit ansprechen“. Der umfangreiche Rechercheband enthält neben den Interviews, in denen die Befragten ganz konkret ihre Sicht auf einzelne Fotos darlegen, auch zahlreiche Reflexionen; außerdem setzt die Migrant Image Research Group Zeichnungen ein, „um einen Außenblick auf die Fotografie zu erlangen“. Der Comic als eminent (re-)konstruktives Medium kommt außerdem einer Forderung des Kunsthistorikers John Bergers nach, die Wenzel folgendermaßen zusammenfasst: „Die Welt muss zerlegt und wieder zusammengesetzt werden, um die Erfahrung eines anderen, wenn auch noch so unbeholfen, begreifen zu können.“
Was die Comics von Emilie Josso, Haitham und Mohammed El-Seht in dem vorliegenden Band verbindet, ist ein Element, das die Reportagecomics seit den 1990er-Jahren entscheidend prägt: die Einbeziehung des Blickwinkels der ZeichnerInnen, indem sie sich selbst in den Comic hineinzeichnen und die Reportage von einer falschen und nicht leistbaren Objektivität befreien. So wird in Paula Bullings/Anne Königs „Wege einer Ware“ die Monopolisierung des Blicks dadurch aufgebrochen, dass ein Sämling, ein Baum oder eine Wolke das Wort ergreifen, und ein Schiefer aus einem Fischerboot, in dem Flüchtende auf engstem Raum nebeneinander Platz finden mussten, in der Firmenzentrale von Facebook Ärger auslöst.
In einem ähnlichen Sinn bricht der Schweizer Forscher, Filmemacher und Initiator von Forensic Oceanography, Charles Heller, der sich im Rahmen des Projekts und in Kooperation mit NGOs mit den tödlichen Folgen des militarisierten Grenzregimes und der europäischen Migrationspolitik beschäftigt, eine Lanze für banale Bilder, die sich zur Darstellung von Migration besser eignen würden als etwa spektakuläre. Sie ließen nämlich eine „empathische Unterbrechung“ zu, die es den BetrachterInnen ermöglicht, Mitgefühl und Anteilnahme zu entwickeln. Doch Hellers Analyse richtet sich zugleich gegen eine Strategie des „Grenzspektakels“ (Nicholas de Genova), das sich PolitikerInnen und Medien seit dem großen Bootsunglück vom Oktober 2013, als 366 Menschen ums Leben kamen, zu eigen gemacht hätten: Dabei gehe es zum einen darum, einen Zirkelschluss von Bedrohung und Sicherung herbeizuführen, indem weniger die Bergung von Geflüchteten vertuscht, sondern militärisch durchgeführte spektakuläre Rettungsaktionen dazu genutzt werden, den Bedrohungscharakter in den Vordergrund zu spielen. Zum anderen werden Schließungen von Migrationsrouten als Schutz- und Rettungsaktion von Flüchtlingen umgedeutet, indem die Verantwortung den Schleppern zugeschoben wird, die es, wie Charles Heller anmerkt, „nicht gäbe, wenn die EU-Politik Migration nicht kriminalisieren würde“.
Mit detaillierten Einblicken in Arbeitsweisen und Forschungsarchive bietet dieser brillante Band reichhaltige Analyseansätze für gegenwärtige „ästhetische Regime“ im Umgang mit Fotos sowie Strategien für eine kritische ästhetische Praxis.