Moskau. Wenn wir, wie Matthew Jesse Jackson kürzlich andachte, Intellektuelle wie Rosalind Krauss oder Boris Groys in erster Linie als KünstlerInnen verstünden, müsste man umgehend alle Museen grundlegend im Hinblick auf deren diskursive Ausdrucksformen umgestalten. Die Ausstellung If our soup can could speak: Mikhail Lifshitz and the Soviet Sixties wäre dann eine Vorstufe zu einem solchen Museum. Angelegt als Totalinstallation im Sinne Ilya Kabakows würdigt sie nämlich die kreative Entwicklung des legendären Kritikers Michail Alexandrowitsch Lifschitz (1905–83) mittels zehn dichter Environments, die vom nüchternen Leseraum bis zu lose nachempfundenen Nachbauten ikonischer Interieurs reichen. Neben Kopien von Archivdokumenten, Collagen, Theaterrequisiten und kitschigen Möbeln beinhaltet sie auch echte Gemälde von „Topkünstlern“, die aus großen Sammlungen entliehen wurden. Doch anders als in traditionellen Ausstellungen werden diese hier ganz der Erzählung über Lifschitz untergeordnet und damit in den Diskurs verpackt.
Alles dreht sich also um diesen tragischen Helden des Kalten Kriegs, der sein ganzes Leben lang auf beiden Seiten des Atlantiks mundtot war, weil er der westlichen Moderne nicht weniger abgeneigt war als dem sowjetischen Akademismus. Anfang der 1990er-Jahre gab der Künstler Dimitri Gutow den Anstoß zu einem Lifschitz-Institut, das Diskussionen zu dessen – damals noch zum Großteil unveröffentlichten – Texten sowie Ausstellungen organisierte, die seine realistische Ästhetik neu bewerten sollten. Während dieses Quasi-Institut zur damaligen Zeit leicht anachronistisch anmutete, weil schlichtweg alles, was mit dem Marxismus zusammenhing, von der postsowjetischen Intelligenzia verdammt wurde, hat sich das Umfeld seit der Jahrtausendwende deutlich verändert. Heute ist Lifschitz in russisch sprechenden Kreisen wieder weitbekannt. Die hier nun vorgelegte Neubewertung markiert also nur einen weiteren Meilenstein in der Einordnung dieses Denkers in die globale Kunstgeschichte. Passend dazu erscheint auch anlässlich des 50. Jahrestags seiner Erstveröffentlichung die vom Kokurator Gutows David Riff besorgte englische Übersetzung von Die Krise des Hässlichen, des Hauptwerks Lifschitz’.
Natürlich gibt es neben dem runden Jahrestag noch wichtigere Gründe, warum dieses Buch heute noch aktuell ist. Wie Ana Teixeira Pinto und Angela Nagel gezeigt haben, werden gerade heute die einst dem Projekt der Moderne eigenen ästhetischen Taktiken und Techniken von der neuen Rechten übernommen. Man denke nur ans Collageprinzip von 4chan. Lifschitz hatte diese Entwicklung bereits zu Zeiten der Neoavantgarden vorhergesehen. Der Modernismus, so meinte er, sei von allem Anbeginn an direkt mit den dunkelsten psychischen Tatsachen seiner Zeit verwoben gewesen, nämlich mit „dem Machtkult, der Zerstörungswut, der Brutalitätslust und dem Hunger nach einem gedankenlosen Leben in blindem Gehorsam“. Denn statt die manifeste Realität hinzunehmen, verfolgten die ModernistInnen, so Lifschitz, eine „Vogelstraußtaktik“, die unausweichlich zu subjektivem Idealismus, Individualismus und Dekadenz führen musste.
So wurde diese anarchische Revolte gegen das damalige Spießbürgertum „für die reichsten Spießbürger ihrerseits zum guten Geschmack“. Diese These wird in der Ausstellung durch eine Rekonstruktion des berühmten Maison Cubiste illustriert, das vollgestopft wurde mit kitschigen Kissen und Taschen, die mit Bildern berühmter modernistischer Gemälde bedruckt sind. Ganz im Sinn der Kritik von Lifschitz ließen Gutow und Riff einen weiteren legendären Ort nachbauen, nämlich Andy Warhols Factory. Die zeitgenössische Kunst ist nicht, wie Alain Badiou sagen würde, eine „Wahrheitsprozedur“, sondern findet ihr Ideal in „der glücklichen Gleichsetzung des gemarterten Bewusstseins mit der gedankenlosen Materie“. Die Zurückweisung des dialektischen Denkens, die sich auf die Absolutheit der materiellen Realität im Kubismus beruft, führe unweigerlich zu einem noch grundlegenderen Schisma – nämlich zwischen der drögen Objekthaftigkeit der Pop Art einerseits und dem „sinnleeren Denken“ der Konzeptkunst andererseits. Während der Inbegriff Ersterer besagte Suppendosen Warhols sind, steht für Letztere das kalte metallische Licht, das die mit Alufolie tapezierten Wände der Factory abstrahlt.
Als Waffe gegen die Kunst seiner Zeit brachte Lifschitz einen „Realismus“ in Stellung, den er sowohl ontologisch als auch ahistorisch auffasste. Gegen Peter Bürgers Thesen der Geschichtlichkeit berief er sich auf universelle Kategorien und hehre Ideale, ohne jedoch konkrete Beispiele aus der Kunst anzuführen. Dennoch werfen die drei sozialistisch-realistischen Gemälde von Oleg Filatschew, Valeri Kabarow und Larissa Kirilowa sowie zahlreiche Reproduktionen anderer Bilder, die im Raum mit dem Titel Auf dem rechten Weg versammelt sind, ein Schlaglicht auf Lifschitz’ ästhetische Vorlieben. Nach dem Ausstellungsteil über die Factory und besonders über La Maison Cubiste wirken diese Gruppenporträts hingegen bloß wie postmodernes Flickwerk. Der „Reflexivitätskoeffizient“ der Welt spricht ja in Wahrheit gegen das mimetische Prinzip, weswegen jeder Realismus zur Parodie seiner selbst verkommen muss. Er appelliert an höchste Werte – implizit allerdings im Dienste seiner eigenen Machtposition.
Manchmal sollte man nichtsdestotrotz den persönlichen Geschmack eines Philosophen zugunsten seiner Ideen opfern. Die Ausstellung folgt indes ihrerseits einer „Vogelstraußtaktik“, bietet sie doch keinerlei Anhaltspunkt, wie denn der so herbeigesehnte „Realismus“ heute aussehen soll. Im letzten Raum, der sehr stark einem typischen White Cube ähnelt, liest man hell erleuchtet an der Wand folgendes Motto: „Dieses traurige Erlebnis ist anscheinend notwendig für die Kunst“. Dieses Zitat im typografischen Gewand eines Lawrence Weiner deutet an, dass man Lifschitz, der ja immerhin am Höheren Künstlerisch-Technischen Institut in Moskau studiert hatte, im Grunde nur als Konzeptkünstler verstehen kann. Ganz im Sinne der Bauchrednerallegorie der Ausstellung könnte man schlussfolgern: Der Modernismus ist als solcher weder faschistisch noch progressiv, sondern nur eine Puppe in den Händen der Kunstkritik. Wenn unsere Suppendose also sprechen könnte, würde sie heute nicht nur mit Krauss oder Groys, sondern auch mit der mürrischen Stimme von Lifschitz sprechen. Eine derartige Verkünstlichung seiner Kritik würde diese jedoch letztendlich kastrieren.
Übersetzt von Thomas Raab