Friedrichshafen. Virtual Reality ist zur Consumer-Technologie geworden: Noch nie war es günstiger als mit Facebooks Oculus Rift oder Googles Cardboards, in die „schönen neuen Welten“ abzutauchen. Abhauen, auflösen, sich neu gestalten: Das ist der Cyberspace, wie ihn Autoren wie William Gibson oder Howard Rheingold in den 1980er- und 1990er-Jahren heraufbeschworen haben. Wer hätte damals gedacht, dass dieser geheimnisvolle Datenraum so banal, so krakenartig werden würde?
Schöne neue Welten. Virtuelle Realitäten in der zeitgenössischen Kunst lautet der Titel der Ausstellung im Zeppelin Museum in Friedrichshafen, „Schöne neue Welt“ nannte Aldous Huxley seine dystopische Kontrollgesellschaft, in der oberflächlich alles friedlich zu sein schien. Schöne neue Welten stellt der totalen Befriedung in Huxleys Singularwelt nicht nur den Plural der VR-Angebote entgegen – simulierte interaktive 3D-Welten, zu erleben in 360-Grad-Sicht mittels Head Mounted Display (HMD) und Touchcontroller, Panoramascreen oder gewöhnlicher Videoscreens. Vielmehr geht es auch um die Vervielfachung der Cyberwelt durch den Einsatz des Ästhetischen: Virtualität als Vervielfältigung von Möglichkeiten in eindimensionalen Zeiten. Und wenn VR immer auch Flucht vor der Realität assoziierte, dann wird deutlich, dass Flucht sowohl Eskapismus als auch Suche nach Auswegen bedeuten kann. Vielleicht kann man die durch die Ausstellung hindurch immer wieder auftauchenden, zunächst sehr minimalistisch und konzeptuell wirkenden, gelben Geländer als solche Fluchtpunkte interpretieren: weniger Stützen, die uns Halt geben in der bodenlosen Verschränkung von Realität und Illusion, als vielmehr Unterstützungen auf der Suche nach anderen Wegen, nach Auswegen. Diese Szenografie wurde vom Berliner Architekturbüro Kooperative für Darstellungspolitik erarbeitet. Sie bestärkt die in den Raum gestellte kuratorische Frage, ob Kunst im Umgang mit virtuellen Realitäten nochmals andere Modalitäten eröffnet? Auf der Grundlage der Tatsache, dass virtuelle Technologien nichts Neues sind (Stereoskope von Zeppelinflügen vom Anfang des 20. Jahrhunderts lokalisieren diese Annahme) und sie unsere Vorstellung von Realität bereits radikal rekonfiguriert haben, fragt die Kuratorin Ina Neddermeyer: Wie eignen sich KünstlerInnen diese Medien an und wie reflektieren sie den damit einhergehenden „bildtechnologischen“ und „gesellschaftspolitischen Wandel“? Damit reiht sich diese Gruppenausstellung ein in die Unternehmungen jener wenigen Kunstinstitutionen, die in letzter Zeit durch ein genuines Interesse an der Integration von VR in die Kunst aufgefallen sind. Neben dem ZKM sind das das HeK in Basel (2017) und der Frankfurter Kunstverein (2017/18).
Gleich zu Beginn der Ausstellung werden die Nähe und „Echtheit“ herstellenden Wahrnehmungsmöglichkeiten von VR eingeführt: Im Video ASM(V)R von Salome Asega, Reese Donohue und Tongkwai Lulin spricht eine sanfte Stimme auf einen ein. Man solle sich hingeben, entspannen. Man sieht Wasser, wird Teil des Wassers, Teil einer künstlichen Landschaft, in der ein rotes Gehirn herumfliegt. Es wird von einer Hand gestreichelt, die man körperlich zu spüren scheint. Alles wirkt real, sogar die herumfliegenden Körperteile, deren Blickwinkel man unwillkürlich einnimmt. Was bleibt, wenn man das Head Mounted Display auszieht und vom Sitzsack aufsteht, sind Schwindel und Übelkeit. Offenbar normal, wie mich das Personal aufklärt, das überall helfend zur Hand ist.
Nicht so glatt und schön, sondern anstrengend und voller technischer Brüche verläuft die Erfahrung bei Florian Meisenbergs neu entstandener Arbeit Pre-Alpha Courtyard Games (raindrops on my cheek). Auch bei dieser, einem Fotostudio nachempfundenen raumgreifenden Installation zieht man sich ein HMD an. Diese Installation verknüpft skulpturale Elemente im Raum, zum Beispiel ein hinunterhängender, gitterförmiger Polyeder, mit einer Live-VR-Simulation, gleichzeitig gibt sie die (möglicherweise recht klumpigen) Bewegungen der Besucherin dem anwesenden Publikum als Performance zu sehen. Die Besucherin soll den Polyeder mit einer virtuellen Plastikhaut überziehen, die Bewegungen der Hand werden mithilfe von Leap-Motion-Technologie getrackt und ins Digitale übersetzt. Das simple Überziehen der Form mit der Haut wird zu einem herausfordernden Akt des Sich-neu-koordinieren-Lernens, da unsere angelernten Körperbewegungen sich nicht nahtlos virtualisieren lassen.
Let This Be A Warning des kenianischen Künstlerkollektivs The Nest Collective ist ein auf wenige Szenen reduzierter Science-Fiction-Film im Geiste des Afrofuturismus: Eine Gruppe von AfrikanerInnen hat einen fremden Planeten kolonisiert und spielt nun mit uns Begrüßungszeremonien durch. Denn mit dem Aufsetzen der VR-Brille sind wir zu unerwünschten Eindringlingen ihrer Welt geworden. Wir werden direkt angesprochen – und erschossen: „We will send you back“, lautet das Verdikt.
Die exzessivste Arbeit ist Sidsel Meineche Hansens VR-Installation Dickgirl 3D (X). Mittels Headset wird man unmittelbar zur TeilnehmerIn in einem Porno, starring Eva 3.0, ein klischeehaftes weibliches 3D-Modell, das die Künstlerin kaufte. Versehen mit einem transparenten Dildo und Spiegelaugen, fickt Eva 3.0, zunächst zu hämmerndem Sound, dann in entleerter Stille, eine unbestimmte Körpermasse bis zur scherbenartigen Ejakulation. Aufregend ist diese Arbeit deswegen, weil es ihr gelingt, bei gleichzeitigem Visualisieren von Genderstereotypen diese auch zu durchbrechen: Wer penetriert wen und was und wen verkörpern wir? Schöne neue Welten!
In diesem Sinn überzeugt auch die Ausstellung: Sie weist uns nicht nur auf souveräne Weise den Weg durch die Höhen und Tiefen virtueller Realitäten, sondern lässt uns selbst erfahren, dass die schönen neuen Welten immer mindestens doppelt funktionieren können.