Bregenz. Hide II ist die Fortsetzung einer Ausstellung, die Sevda Chkoutova, gebürtige Bulgarin und seit 20 Jahren in Wien lebend, im Frühsommer 2017 in der Wiener Galerie Chobot ausgerichtet hat. Auch im Bregenzer Bildraum Bodensee bespielt sie die Räumlichkeiten des Orts mit verschiedenen Facetten eines ihrer Kernthemen: Alles dreht sich um die Kindheit, den (Rück-)Blick darauf und die Ängste, denen wir uns angesichts eigener und fremder Geschichten stellen – oder auch nicht.
Hide, das englische Wort für Verstecken, fasst – in seiner Knappheit lakonisch und mit der nüchtern beigestellten II diese Lakonie noch verschärfend – recht passend jene Traumata zusammen, die gerade noch erahnt werden mit der Frage, was sich hinter der Fassade verbirgt. Chkoutova wagt mit medial vielschichtigen Szenerien eine Tour de Force durch Abweichungen von der Norm verklärter Kindheiten.
Gleich eingangs im zentralen Raum erwartet die BesucherInnen eine in alle Richtungen versprengte Legion aus 22 verloren wirkenden DeserteurInnen, Schaufensterpuppen in verschiedenen Kindergrößen, bemalt mit wirren Ornamenten aus weißer Tusche, zum Teil so verdichtet, dass sie an Bandagen und Masken gemahnen. Einzelne Auslassungen auf dem Inkarnat machen die sexualisierte, fetischhafte Komponente deutlich, Spitzendessous und Brautschmuck, stark bewimperte Puppenkinderaugen blicken mit teils übermalten Pupillen ins Leere – Konnotationen von Unschuld und Missbrauch schlagen sich schmerzhaft nieder. Bei näherer Betrachtung organisieren sich die kalligrafisch akzentuierten Kräuselungen zu Figuren, Textphrasen und Mustern, wie man sie auch aus den großformatigen Grafitzeichnungen Chkoutovas kennt. In einem 20-minütigen Video im Nebenraum wird der Prozess der Verwandlung vom nackten zum bemalten Kunststoffkörper dokumentiert.
Auf der Längswand, parallel zu den Figuren, setzt sich das Geflecht aus narrativen Überschreitungen in Form einer flächendeckenden In-Situ-Zeichnung aus Tusche und Aquarell fort, eine Ausweitung der Kampfzone. Die zarten Farben und Muster dienen als raffinierte Vehikel für weitere Irritationen. Manche Motive erinnern an linkische Kritzeleien auf Wänden von Gefängniszellen und öffentlichen Sanitäranlagen, die möglichst drastisch zeigen wollen, was sie zeigen sollen, und dabei nicht selten komisch wirken. Die Betroffenheit angesichts der Fülle an Tabubrüchen auf engstem Raum wird so auch schon wieder konterkariert, was wiederum doppelt verstörend wirkt.
Ähnliches widerfährt im Raum nebenan, gewidmet der Vampirmutter bzw. Monstermama (so die Titel zweier Werkreihen der letzten Jahre). Hier wird die überhöhte Vorstellung von der naturgegebenen, selbstlosen, reinen Mutterliebe1 ins krasse Gegenteil verkehrt. Die Disposition der hängenden Bahnen erinnert an Schlachthäuser und Kühlräume, mehr noch das Material, welches (tote) Haut zu imitieren vermag – Reminiszenzen an ein beliebtes Motiv im Horrorgenre. Elastisches Naturlatex hat eine samtige Oberfläche und gilt als „gefühlsecht“. Die sexuelle Konnotation ist, wenn nicht vorgegeben, doch beabsichtigt. Die Motive sind obszön, brutal und stellenweise wieder schrecklich komisch. Fragmente von Küchengeräten wechseln ab mit aufgeblähten und erschlafften Körperteilen. Das Haptische der Bahnen, durch die sich die BesucherInnen schlängeln müssen, greift über in den Atemraum, die Luft bewegt sich mit jedem Schritt und bringt das Material zum Schwingen, verlebendigt es.
Der letzte Raum, das „Kinderzimmer“, mit dunkelgrün bemalten Wänden bleibt unfertig. Die wild gemischte Acrylfarbe geht an der Decke wieder ins vertraute Weiß des White Cube über, was hier fast einer Rettung gleichkommt. Denn dieser düstere Märchenwald (oder wahlweise Tiefseegraben) ist alles andere als eine gemütliche Höhle. In Gitterbettaugenhöhe tummeln sich seltsame Silhouetten von Zartrosa bis Pink. Stachelig, bekrallt, mit aufgerissenen Mäulern und zähnefletschend ineinander verkeilt scheinen diese Wesen konkurrierend über dem Kind zu wachen. Laut Chkoutova sind sie „nicht zwingend bösartig“ (wenn auch, nun ja …), vielmehr darf ihr Kuscheltierpotenzial in einem verqueren Sorgenfresser-Habitus erkannt werden.2 Nach dem beklemmenden Gang durch das Gruselkabinett unausgesprochener, verbildlichter Konflikte mutet dieser murale Reigen beinahe tröstlich an.
Chkoutova versteht sich auf spannungsleitende Kontraste wie diese. Dabei ist Hide II auch ein Spiel mit den Ambivalenzen von Oberfläche und Bildträger: die Mauer, die Puppe, Kunststoff und Latex. Besonders Letzterer macht das augenfällig. Als Substantiv im Englischen ist Hide ein weiterer Ausdruck für Haut, „to flay hide“ bedeutet Haut abziehen, „to save one’s hide“ heißt aber auch die (eigene oder andere) Haut retten. Dazu passt die Vergänglichkeit durch Inkompatibilität: Die Tusche wird auf dem weichen Untergrund mit der Zeit brüchig, die Zeichnung verblasst. Die Haut als Speichermedium für Berührungen, das Ephemere schlechthin? Allfällige Spuren werden subkutan vermutet.
1 Angesichts des gegenwärtigen Backlashs immer noch und wieder aktuell: Élisabeth Badinter, Die Mutterliebe. Die Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. München 1981.
2 Assoziative Querverbindungen tun sich auf: Ich denke an schaurig-schöne Scherenschnitte von Lotte Reiniger und die Flussszene aus The Night of the Hunter (USA 1955, R: Charles Laughton) mit überdimensionierten Kröten und Eulen im Vordergrund.