Berlin. Bis vor nicht allzu langer Zeit standen Massenwohnsiedlungen in keinem guten Ruf. Anonym sei das Leben dort, die Architektur ohne Charakter und außerdem sei es dort auch gern mal gefährlich. Als ich Mitte der 2000er-Jahre in einen Wohnturm in Newcastle upon Tyne zog, schwang diese Wahrnehmung gerade in die andere Richtung: Denn nun wachte an den Eingängen ein Concierge, der beim Eintritt grüßte; Fassaden erhielten ein neues wärmeisolierendes Facelifting und auch andernorts wurden die Außenhäute von Wohnsilos farblich aufgehübscht. Man denke an die Ostberliner Siedlungen in Marzahn oder die Hochhäuser von Tirana. Zuvor waren in London schon die vormals als brutalistisch verfluchten Gebäude des Architekten Ernö Goldfinger – der Trellick Tower ist nur ein Beispiel – plötzlich zu angesagten Wohneinheiten aufgestiegen. Zwar erhielt der gesellschaftliche Aufstieg des Wohnturms wohl einen kleinen Dämpfer durch das Feuer im Westlondoner Grenfell Tower 2017 – aber prägnanter positiv verankert sind sicherlich die wirtschaftlich einträglichen Wohneinheiten in zeitgenössischen Hochhausbauten wie The Shard von Renzo Piano.
Schon mit Beginn der 1970er- und im Laufe der 1980er-Jahre befasste sich der englische Künstler Stephen Willats mit dem Leben in Wohntürmen. Er traf BewohnerInnen oder Angestellte, befragte sie ausgiebig nach ihrem Alltag oder ihren Lebensentwürfen und fertigte schließlich Collagen mit diagrammartigen Elementen an, die Aufschluss über die jeweiligen Personen gaben. Eine frühe Form der partizipativen Kunst: mit einem Hausmeister eines Wohnblocks in der Westberliner Märkischen Siedlung, mit Angestellten im Amt für die Vergabe von Sozialwohnungen in Eindhoven oder mit einer Dragqueen in einem Londoner High-Rise, um nur einige Beispiele zu nennen. Willats bettete seine Beobachtungen stets in einen größeren philosophischen Rahmen und verfasste diverse Aufsätze, in denen er einerseits die normativen Strukturen von Plattenbauarchitekturen bemängelte und andererseits die häufige soziale Vereinsamung herausstellte. Dennoch traten dabei auch sehr individuelle Verfahren im Umgang mit den einengenden Gegebenheiten hervor, etwa beim Nutzen von Trampelpfaden. In der Ausstellung Endless bei Thomas Schulte in Berlin sind eingangs, quasi als Einstieg ins Thema, Beispiele aus diesen Jahrzehnten zu sehen: Hanging Around in Someone Else’s Dream (1977) verdeutlicht eine hoffnungslose Tatenlosigkeit angesichts städteplanerischer Übermacht.
Den gesellschaftlichen Prozess sieht Stephen Willats analog zur Homöostasis, einem geschlossenen System, das Impulse von außen immer wieder in eine ausgeglichene Balance zu integrieren sucht. Jedes Element in diesem System verweist auf das nächste, und der Mensch ist Teil eines solchen Zeichenapparats. Das Leben in Wohneinheiten, der Gebrauch von Gegenständen, die Bewegung durch den Stadtraum – sie alle stehen miteinander in Zusammenhang. Im Video Endless sind Personen (wahrscheinlich) in einer Fußgängerzone zu sehen; die Bildqualität erinnert an alte VHS-Aufnahmen; eine statische Kamera wartet auf die Menschen. Einzelne Schlagworte werden plakativ eingeblendet, abgelöst von Diagrammelementen und erscheinen wie Kommentare auf den Alltag: „Flux“, „Benommenheit“ oder „Meander“ sind nur drei unter vielen anderen Begriffen. Allesamt kommen sie aber aus dem Kontext fluider Systeme: Willats ließ sich von den Gedanken des österreichischen Kybernetikers Heinz von Förster (1911–2002) leiten, dessen Vorstellungen der „Beoachtung von Beobachtungen“ und der „Kybernetik zweiter Ordnung“ Einfluss, unter anderem, auf die Systemtheorie von Niklas Luhmann nahmen.
Die Bewegung durch den Alltag und der Rückzug in die Wohneinheit sind jedoch nur jeweils einer der Bestandteile in diesem homöostatischen System. In der Ausstellung lenkt der Künstler die Aufmerksamkeit auf einzelne Haushaltsgegenstände. Einige Collagen zeigen die Formen von Vasen in Analogie zu Wohntürmen, dann wieder haben sie die Form von Buchstaben. In The World of Objects and the World of People (2013) lassen sie sich auch wie die Akronyme „CI – IBM“ lesen. Dies verstehe ich als „Corporate Identity von IBM“ – unsere durchökonomisierte Weltwahrnehmung bildet das normative Raster der Gegenwart. Dagegen leuchten in dem Tryptichon Conscious, Unconscious Continuous Discontinuous (2013) noch einmal die Beziehungen von Menschen und Dingen zueinander auf: Im oberen Drittel sind die Gefäße (Vasen) zu sehen, im unteren Drittel Menschengruppen und dazwischen Beziehungsdiagramme und assoziative Begriffe. Die Bewegung im Alltag – das Pendeln von Wohnort zu Arbeitsplatz und zurück – setzt Willats häufig mit Nomadentum in Beziehung. Wir ziehen hin und her, umgeben von den Architekturen und den Objekten, die unser Leben beeinflussen. Die Wahrnehmung ist in Bewegung und doch bleibt sie immer in ihrer eigenen Systemhaftigkeit hängen.
Die Bewegungen scheinen von überall mit auf die Galeriewände gezeichneten Pfeilen dargestellt zu werden. Eine entsprechende Zeichensprache – hier nun auf den ganzen Raum ausgedehnt – findet sich zwar schon in früheren Zeichnungen (etwa Contemporary Relationships von 1985, nicht in dieser Ausstellung). Schließlich ist aber auch das ganze künstlerische Schaffen von Stephen Willats den Beziehungen von Menschen zu den Dingen der Welt untergeordnet.