Über 30 Frauen aus zwölf Ländern trafen sich auf der documenta X (1997) zur 1. Cyberfeministischen Internationale. Die Teilnehmerinnen einigten sich darauf, dass es keine Definition von Cyberfeminismus gebe, dass er vielmehr Ausgangspunkt für eine Reihe von Praxen und Theorien sei, persönlich, nicht hierarchisch, poetisch. Digitalen Technologien, so die damals verbindende Zuversicht, wohne ein emanzipatorisches Potenzial inne, das eine konterhegemoniale Technopolitik ermögliche. Gegebenes ließe sich umformen, ja das Patriarchat gar stürzen. Inspiration lieferte Donna Haraways Text A Cyborg Manifesto (1984), eine ironische politisch-fiktive Analyse und utopistische feministische Kulturkritik, die sich mit dem egalisierenden Potenzial einer Cyborgkultur auseinandersetzt, frei von marxistischen und psychoanalytischen Welterklärungsmodellen oder dem Mythos einer verlorenen Einheit mit der Natur und damit einhergehenden misogynen Stereotypen.
Drei Jahrzehnte nach Veröffentlichung des Manifests hat sich die Gesellschaft grundlegend geändert. Soziale Erfahrung ist heute zugleich auch digital. Digitale Kultur ist identitätsbildend und weitgehend kommerzialisiert. Neoliberalismus, Neofaschismus, Rassismus und Sexismus sind tief in sie eingeschrieben. Avatare wie die Künstlerin LaTurbo Avedon führen in Social Media ein soziales und politisches Leben. Im Eiltempo produzierte und distribuierte Bilder von Frauenkörpern befriedigen im Cyberspace den männlichen Blick. Bei der Transmediale sprach Lisa Nakamura über Black Feminism und Virtual Reality, die von weißen Männern gemachte rassifizierte und sexualisierte Körpererfahrungen anbietet. Nishant Shah nannte in seiner Einführung Kim Kardashian, die zwar gemessen an ihren Instagram-Followern eine der mächtigsten Women of Color sei, deren Macht aber lediglich auf rassifizierten und sexualisierten Körperbildern basiere, die sie für den Genuss anderer produziere.
Immerhin, der digitale Spätkapitalismus hat (etwa seit Mitte der 2000er-Jahre) eine vierte Welle des Feminismus hervorgebracht, die über Hashtag-Kampagnen wie #MeeToo, #BlackLivesMatter, #WomensMarch, #GamerGate oder #NotHeidisGirl in die Gesellschaft dringt. Und der Feminismus ist längst in der Populärkultur angekommen, siehe Beyoncés black-feministisches Album Lemonade. Aber lässt sich digitale Kultur in Zeiten des Butt-Selfies (ein Bildgenre, für das vor allem Frauen ihren Po sexualisiert inszenieren, um ihre Follower zu beglücken und Einnahmen zu generieren) wirklich noch für das feministische Projekt vereinnahmen? Und wenn ja, wie? An den Schnittstellen von Technologie, Aktivismus, Theorie und Kunst hat sich seit der 1. Cyberfeministischen Internationale eine Vielzahl technofeministischer Ansätze entwickelt: Networked Feminism, Digital Feminism, Xenofeminism, Insta-Feminism, Post-Cyberfeminism etc. „Technofeminismus“, schreiben Helen Hester und Armen Avanessian in dem von ihnen herausgegebenen Merve-Band dea ex machina, sei ein „Sammelbegriff für jene kritischen und spekulativen Positionen, die Technologie nicht undifferenziert als eine männlich gesteuerte und verdammenswerte Entität, sondern als eine Fülle unterschiedlicher Werkzeuge und Praktiken betrachten, deren genderpolitische Bedeutung immer auch durch jene sozialen Kontexte bestimmt wird, die sie zugleich informieren und beeinflussen.“1
Im von KritikerInnen als machistischer Technofuturismus verunglimpften, Science-Fiction-affinen akzelerationistischen Projekt (das den Prozess der technologischen Evolution beschleunigen will, um eine Implosion des Kapitalismus herbeizuführen) sehen Hester und Avanessian Potenzial für neue Genderpolitiken und Aktionismen. Kerntext des Bands ist das Manifest Xenofeminismus – Eine Politik für die Entfremdung (2014) des Kollektivs Laboria Cuboniks, das ein verbindendes, technofeministisches Projekt für die Zukunft formuliert, quasi eine Sammelutopie. Die Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit und feministischer Emanzipation, steht da, soll ein universeller Zustand sein, unabhängig von Rassifizierung, Befähigung, ökonomischem Stand oder geografischem Ort. Anstatt in dem beschränkten Bereich der mikropolitischen Intervention zu verharren oder in vereinfachenden Fantasien von einer Rückkehr in eine idealisierte natürliche Authentizität zu schmachten, begreife der Xenofeminismus die Entfremdung als produktiven Anstoß. Der Xenofeminismus rufe zur strategischen Nutzung bestehender Technologien für eine Umgestaltung der Welt unter den gegebenen Umständen auf. Nur: wie?
Schon der frühen Netzkunst, zu deren PionierInnen Cornelia Sollfrank zählte, ging es um einen selbstbestimmten Umgang mit technischen Neuerungen, deren Vereinnahmung durch Tech-Multis sich damals bereits abzeichnete. Heute kontrollieren diese weitgehend die Medienproduktion und deren Nutzung und halten somit auch sexistische und rassistische Regime mit aufrecht. Im Bildermainstream von Facebook, Snapchat, Instagram, YouTube, Tumblr & Co boomen Beautyindustrie und Make-over-Kultur. Eine ganze Reihe von „Reality Artists“ und „Insta-Artists“, von denen mehrere in der aktuellen Leipziger Ausstellung Virtual Normality. Netzkünstlerinnen 2.0 vertreten sind, reagiert mit Bildperformances, rückt das Selfie und sexualisierte digitale Stereotypen in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen Praxis. Die vielleicht bekannteste Arbeit dieses Genres ist Amalia Ulmans Excellences & Perfections (2014), eine fünfmonatige Instagram-Performance, für die sie eine Persona kreierte, die es als Model in der Großstadt schaffen will. In solchen Arbeiten verwischen die Grenzen zwischen Autorin und Werk, zwischen Lifestyle-Feminismus und politischem Aktionismus, Celebrity-Kult und Kommerz, Kunst und Pornografie.
Fast eine halbe Million Menschen folgen Leah Schragers Online-Persona „Ona“, die am liebsten Butt-Selfies postet. Schrager geht aber noch weiter: Auf Onagram.com können User gegen Bezahlung Masturbationsvideos anschauen. Die Nacktbilder, die Ona auf ihren Bezahl-Accounts präsentiert, werden bei Instagram zensiert, aber auch deutlich harmlosere: Weibliche Nacktheit wird mit Pornografie gleichgesetzt, Stichwort #bodyshaming. Molly Soda und Arvida Byström haben solche Bilder in ihrem Projekt bzw. Buch Pics or It Didn’t Happen: Images Banned From Instagram (2017) versammelt. Byström postet oft tabuisierte Bilder, zum Beispiel behaarte Beine, wofür sie schon Vergewaltigungsdrohungen erhielt. Und Signe Pierce wurde körperlich angegriffen, als sie für ihre auf YouTube verbreitete Performance American Reflexxx(2013) in engem Kleid, High Heels und einer Spiegelmaske sexualisierte Posen in einem belebten Stadtviertel darbot. Im Internet etablierte sexistische Ästhetiken einem Massenpublikum ironisch vorführen – ist das vielleicht schon akzelerationistische Praxis?
Vergangenes Jahr lud das Londoner Institute of Contemporary Arts (ICA) zur Post-Cyberfeminist International (konzipiert unter anderem von Helen Hester), um neue technofeministische Visionen zu diskutieren. Auch die zweite Ausgabe des queerfeministischen Festivals DGTL FMNSM, das im März 2018 in Dresden stattfand, befasste sich in Anlehnung an die cyberfeministische Utopie mit dem Thema „Intimität“ in der Postinternet-Ära. Interessant wird sein, wie sich Aktivistinnen weiter vernetzen, um ein gemeinsames politisches technofeministisches Projekt zu formulieren. Die radikalen Möglichkeiten technologischer Mediation, so eine zentrale Forderung der Xenofeministinnen, sollen jedenfalls nicht länger nur den Interessen des Kapitals zugutekommen. Es geht um einen Feminismus, der sich auch mit Computern wohlfühlt.
Virtual Normality. Netzkünstlerinnen 2.0, Museum der bildenden Künste, Leipzig, 12. Januar bis 8. April 2018.