Heft 3/2018 - Institut "Kunst"


Institute der Performativität

Zu einem zentralen Paradigma der zeitgenössischen Kunst, oder unterwegs zu einer Ethik des Performativen

Keti Chukhrov


Der performative Wandel in den 1960er- und 1970er-Jahren wird gemeinhin als Befreiungsprozess betrachtet, der viele Repräsentationsbereiche wie Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kunst, Theater und Literatur demokratisiert hat. Er gilt als eine Erweiterung der Kritik an den Konstanten und der ontologischen Vorherbestimmung im sozialen Handeln sowie in linguistischen und kulturellen Infrastrukturen ganz allgemein. Künstlerische Performances der 1960er- und 1970er-Jahre wurden als harsche Kritik an der Objekthaftigkeit und ihrer transzendentalen Rigidität eingestuft. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass die künstlerische Performance trotz der Aktivierung kollektiver Handlungsfähigkeiten, ihres Aktionismus, ihrer Körperpraktiken, feministischer Kritik und der Preisgabe von Traumata, Schmerz und Verletzbarkeit ein Ausstellungsobjekt ist und bleibt. Obwohl die Performance die institutionellen Grenzen der Kunst aufweichte, reinstallierte sie sich im Institut Kunst selbst umso stärker.
Das hat zwei wichtige Gründe: 1. Um Kunst zu bleiben, muss sich die zeitgenössische Kunst laut Boris Groys „im Blickfeld der Theorie“ entfalten.1 Denn es ist die Kunst, die nach Joseph Kosuth die Philosophie ersetzt und als postphilosophische Praxis dazu bestimmt ist, eine Art Quasiphilosophie zu werden, auch wenn sie zuweilen unbesonnen, absurd, surreal oder unverständlich daherkommt. Anders gesagt, die Kunst benötigt im Grunde keine eigene Theorie, denn sie und ihr Körper sind per se schon Theorie. 2. Die zeitgenössische Kunst als konzeptbasierte Praxis reinstalliert sich mittels und infolge ihrer Selbstaufhebung selbst. Das bedeutet, die Kunst wird zum Institut der Institute, das vielfältige künstlerische Praktiken und Genres visueller und nicht visueller Natur umfasst. Was auch immer in diese Hyperinstitution einfließt – auch wenn es sich um prozessuale und performative „Abweichungen“ und Subversivitäten handelt –, wird von Regeln bestimmt, die die Kunst in ihrer selbstreferenziellen Dialektik von Selbstaufhebung und Selbstbehauptung definieren und neu konstituieren.
Die Kunst als Institut ist vor allem mit sich selbst als Kunstinstitution beschäftigt, auch wenn sie sich weltbezogen und global gibt. Das Paradoxe dabei ist: Je mehr sie sich „aufhebt“, desto mehr bezieht sie sich auf sich selbst. Folglich hat die Performance, die einst versuchte, die Kunstinstitution und ihre Grenzen zu erweitern bzw. zu überschreiten, nichts anderes getan, als sich unter besonderen Bedingungen wieder in die Kunst einzuschreiben. Bestätigt wird dies etwa in Marina Abramovićs wiederholten Aussagen zu ihrer eigenen Praxis. Sie handle in ihren Performances nie im Namen ihres eigenen Körpers oder ihrer Subjektivität. Im Gegenteil, ihr Performancekörper sei nur als Kunstwerk von Bedeutung, als verdinglichtes Kunstobjekt.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Performance, wie sie sich in der zeitgenössischen Kunst entwickelt hat, weder mit performativen „Freiheiten“ noch mit verhaltensbezogener Hybris zu tun hat und noch weniger mit den Quasiritualen, mit denen sie heute so oft assoziiert wird, auch nicht mit der Vermarktung von darstellenden Künsten – Musik, Theater, Tanz – im Kunstkontext, dann fällt es schwer, die Episteme der Performance zu definieren. Heute macht man sich nämlich in weitverbreiteten performativen Aktivitäten die Wirkung der Performancekunst zunutze, was insbesondere an ihrer zeitbasierten und flexiblen Struktur liegt. Die Kunstperformance wird häufig als Paradebeispiel dafür angeführt, sich über die Regeln der Kunst hinwegzusetzen, ihre Begrifflichkeiten, Methoden und Ausdrucksweisen zu untergraben; sie dient als Beispiel für die Autopoiesis und die Tautologie der Präsenz (im Gegensatz zur Mimesis), solange Autopoiesis zeitgenössische Aufführungspraktiken in Bezug auf das Postdisziplinäre definiert: postdramatisches Theater, Postchoreografie, Posttanz usw.
Erika Fischer-Lichte stellt in ihrem Buch Ästhetik des Performativen die Anthropologie der Autopoiesis heraus, die Präsenz „des Realen“ als typisches Merkmal der Performance, welches das Theater übernehmen sollte.2 Auch André Lepecki spricht sich für die Immersion in der Präsenz aus, die er als antidisziplinären Wandel definiert.3 Sowohl Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen als auch Lepeckis Option Tanz rufen zu einer revolutionären Transformation der mimetischen und dramatischen Elemente von Theater und Choreografie durch die Performance auf. Beide vertreten die Überzeugung, dass es sich bei der Mimesis und der vorgegebenen Tanznotation um autoritäre Überreste der westlichen Moderne handle. Interessant ist, dass sowohl Fischer-Lichte als auch Lepecki in ihren theoretischen Prämissen nicht die Grundvoraussetzungen der zeitgenössischen Kunst zu ihrem Ausgangspunkt machen, sondern die Genealogie der darstellenden Künste. Wenn sie sich jedoch zu den Institutionen des Theaters und der Choreografie äußern und diese radikalisieren wollen, führen sie Beispiele aus der zeitgenössischen Kunst an, obwohl diese weder mit dem Theater noch mit Choreografie/Tanz zu tun haben. Als Beispiel für das transformierte Theater bezieht sich Fischer-Lichte auf die Autopoiesis der Kunstperformance (sie erwähnt Performances von Marina Abramović), die die Fiktionalität einer gespielten Rolle redundant mache. Lepecki verweist auf Bruce Nauman, um das mustergültige solipsistische Derangement einer abgerufenen choreografierten Notation und komponierter Zeitlichkeit zu verdeutlichen.
Lepeckis wichtigster Punkt ist, dass choreografierte und komponierte Zeitlichkeit im Tanz (und somit auch in der Musik) vom Vorübergehen der Eventualität des „Jetzt“ abhängen. Sie inszenieren das Bedauern über den flüchtigen Moment, den Verlust des Gegenwärtigen. In diesem Fall, so Lepecki, kompensiere die Vergangenheit die Unvermeidlichkeit des Todes und des Verschwindens dessen, was „ist“. Der Zauber der Kinetik in den darstellenden Künsten, ihre Beweglichkeit und ihr Streben nach der flüchtigen Schönheit als Rahmen für die Moderne entspringt genau dieser Jagd nach dem verlorenen Objekt. Deshalb muss der Körper in Musik, Theater und Choreografie künstlich sein, er muss konstruiert und diszipliniert werden. Der Körper sollte gemäß der performativen Paradigmen der Moderne „unmögliche“ Fähigkeiten erwerben und unter „unmöglichen“ Bedingungen existieren, denn er muss sich nahtlos in das Ideal des unwiederbringlichen „Jetzt“ einfügen, in jedem Moment, in dem dieses „Jetzt“ vergeht. Aus diesem Grund besteht das Aufführen, so wie es sich unter den Bedingungen der westlichen Moderne herausgebildet hat, aus flüchtigen Eindrücken von idealen Bildern, die im Moment der Wahrnehmung auch schon wieder verschwinden. Daher haben wir es eher mit einer Abfolge absoluter Momente zu tun als mit dem Werden der Gegenwart. Anstelle dieses Modells der „klassischen“ Moderne vertritt Lepecki eine erweiterte, antikinetische und andauernde Gegenwart, ohne Vergangenheit und Zukunft, ohne das Wecken von Erinnerung und ohne das flüchtige Jetzt, was eine Rückkehr zur Bewegungslosigkeit voraussetzt, zum Verweilen im kontemplativen Werden und zur natürlichen Lebensspanne eines Organismus. Kurz gesagt, Körper und Zeitlichkeit sollten sich voneinander lösen, um die Vertrautheit des Existierenden zu bewahren, und nicht das, was beim Performen entsteht und wieder verschwindet.
Das Problem besteht jedoch darin, dass die Kunstperformances von Marina Abramović und Bruce Nauman, von Francis Alÿs, VALIE EXPORT und vielen anderen wenig mit der autopoietischen Freiheit des Ausdrucks zu tun haben, mit der phänomenologischen Materialität des Körpers oder der unmittelbaren Gegenwart von postdramatischen, postnotierten oder postchoreografischen Praktiken der zeitgenössischen darstellenden Künste oder ihrer Selbstreflexion. Somit demonstrieren die Kritiken Fischer-Lichtes und Lepeckis an den darstellenden Künsten sehr deutlich, wie das Erbe der Kunstperformance von den TheoretikerInnen der darstellenden Künste fehlinterpretiert wurde. Aus nominalistischer Sicht haben wir es in der Performance eindeutig mit dem zu tun, was in Bezug auf die unmittelbare Wahrnehmung als direkte Präsenz des performativen Akts begriffen wird. Aber selbst wenn sie in nomineller Hinsicht präsent sind, sind Körper in der Kunst stets Kunstwerke. Sie fallen nie in irgendeine andauernde Zeitlichkeit, in der sie zu „autopoietischen“ Präsenzen werden, wie Lepecki oder Fischer-Lichte behaupten. Wie lässt sich das erklären?
Wie schon gesagt, weist die nominelle Präsenz eines zeitgenössischen Kunstwerks in Zeit und Raum eindeutig eine bestimmte Art von Exponiertheit auf, die sich völlig von der Ästhetik der Kant’schen Transzendentalität unterscheidet. Doch geht es bei dieser Exponiertheit weder um die unmittelbare Präsenz noch um ihre Zufälligkeit. Selbst wenn Materialität oder Substanz – wie etwa Beuys’ Fett oder Matthew Barneys Vaseline – in ihrer unheimlichsten Form ausgestellt werden, und auch wenn die Körper von PerformancekünstlerInnen stunden- oder tagelang dem Publikum ausgesetzt sind, so ist dieses Exponiertsein weder als sinnliche Erfahrung gedacht noch als Kontemplation unmittelbarer Präsenz. Bedeutend ist dabei nicht nur, dass das Konzept über jeder Form von Materialität stehen sollte, sodass die Materie zum vergegenständlichten, spekulativen Werk wird, sondern auch, dass es in der künstlerischen Performance darum geht, wie die Körper von KünstlerInnen in den Gesamtkomplex der vorhergehenden institutionellen Politik oder in ein kunsthistorisches Narrativ eingreifen und so die Ganzheit der Kunst an sich reinstitutionalisieren. So, dass eine einzelne künstlerische Geste die Kunst in jeder Hinsicht universell repräsentiert. Große Kunstwerke erreichen die Dimension der Hyperinstitutionalität, wenn sie wie Das Schwarze Quadrat oder Campbell’s Soup Cans weder ein Bild noch eine konzeptuelle Geste repräsentieren, sondern die Kunst als Ganzes. Ist das nicht der Fall, ist eine bildliche Darstellung lediglich „schöne“ Kunst. In der Kunst können eine Reihe von Institutionen und ihre AkteurInnen für ein einzelnes Kunstwerk stehen, und umgekehrt kann einem einzelnen Kunstwerk die Bedeutung von Kunst im Allgemeinen innewohnen.
Kurz gesagt, in einem zeitgenössischen Kunstwerk beherrschen Idee, Konzept oder theoretische Provokation Materie und Objekthaftigkeit. Zeitgenössische Kunstwerke sind daher nicht mehr Objekte der Moderne. Werden in einem zeitgenössischen Kunstwerk Körper, Objekte oder ihre Konstellation dargestellt, sind weder ihre Sichtbarkeit noch ihre Dauer von Bedeutung, sondern etwas, das Fredric Jameson als „Gimmick“4 bezeichnet und was ich nach Valery Podoroga „Kairos“ nennen würde – einen günstigen Moment gnoseologischer Erleuchtung, der zwischen dem Begreifen und Nichtbegreifen der Werkbedeutung oszilliert.5 Dieses zusätzliche konzeptuelle Element verspricht eine Erklärung, die es aber nie liefert. So verbinden sich Idee, Konzept und materielle Darstellung des Werks zu einer Indexmaschine, die nie zu schließende Bedeutungslücken produziert, sondern stets in einer Art Un-Sinn verharrt. Es ist dieses „Kairos“ der kognitiven Leere, welches das zeitgenössische Kunstwerk vervollständigt und zwar in einer Sekunde, in einem Augenblick, auch wenn das Werk in semantischer Hinsicht unmöglich zu verstehen ist oder es Stunden oder Tage andauert.
Folglich hat die Präsenz in der Kunst, auf die sich Fischer-Lichte und Lepecki so gerne berufen, wenig mit Autopoiesis an sich zu tun, sondern eher mit der Verdinglichung von Transzendentalität. Das Readymade ist ein perfektes Beispiel dafür. Es ist, was es ist, aber zugleich ist es genau nicht, was es ist. Es ist wirklich unglaublich, dass ein Objekt oder ein Kunstkörper zwar präsent sein kann, seine Präsenz jedoch „leer“ ist. Durch eine gewisse Selbstironie und Selbstprofanation bewirkt es die Auslöschung seiner eigenen Präsenz. In dieser Hinsicht ist Kunst immer dystopisch. Hier hilft die Unterscheidung, die Fredric Jameson zwischen moderner Kunst und den zeitgenössischen Praktiken der Konzeptkunst trifft. In The Aesthetics of Singularity legt er Folgendes dar:
„Ich verstehe moderne Konzeptkunst als die Produktion physischer Objekte, die mentale Kategorien verbiegen, indem sie sie gegeneinander ausspielen. Doch diese Kategorien, ob wir sie ausdrücken können oder nicht, sind gewissermaßen universelle Formen wie etwa Kants Kategorien oder Hegels Momente. Konzeptuelle Objekte gleichen daher kleinen Antinomien oder Paradoxa oder Kōans im verbal-philosophischen Bereich – Gelegenheiten zur meditativen Praxis. […] Der postmoderne Neokonzeptualismus ist hingegen völlig anders: Er ist theorielastig, seine Werke sind ebenso theoretisch wie visuell – aber sie veranschaulichen weder eine Idee, noch prüfen sie Widersprüche, noch zwingen sie den Verstand dazu, den Augen in der Ausübung konzeptueller Exerzitien erbarmungslos durch ein Paradox oder eine Antinomie zu folgen. Konzepte sind zwar vorhanden, sie sind jedoch singulär und eher nominalistisch als universell. Daher nehmen wir nicht das Werk auf, sondern die Idee des Werks an sich. Es handelt sich um eine Mischung aus Theorie und Singularität. Es ist nicht materiell, wir nehmen es eher als Idee auf denn als sinnliche Präsenz, und es ist nicht Gegenstand des ästhetischen Universalismus ...“6
Es geht also darum, dass selbst mit dem Verschwinden der „klassischen“ konzeptuellen Rigidität die Repräsentationslogik in der zeitgenössischen Kunst weiterhin von kognitiven, konzeptualisierten Vorgaben beeinflusst wird. Nur so können wir verstehen, dass das Performative der zeitgenössischen Kunst eben jene „Leer“-Stelle beschreibt, die für die Gesten der Konzeptkunst typisch ist. Sie wendet keine direkten Verfahren der Performance an, und selbst wenn, ist eine performative Handlung in ihrem Rahmen lediglich eine nominale Bewegung. Darüber hinaus geht es um Kontexte, Interpretationen, semiologische Maschinen und Akte der Institutionalisierung von Institutionen.

Kunst als Hyperinstitution
Wenn Francis Alÿs einen Eisblock durch die Gegend schiebt (Sometimes Making Something Leads to Nothing, 1997) oder Bruce Nauman sich wiederholt von einer Wand abprallen lässt (Bouncing in the Corner, 1968), haben diese Handlungen mit der neuen Bewegungsdauer im zeitgenössischen Tanz oder mit der Essenzialisierung von körperlicher Präsenz nichts gemein. Diese Aufführungen sind weder plastische Handlungen noch Ausdruck einer neuen Einstellung zu Körper und Choreografie.
Kurz gesagt, die künstlerische Performance mit nominalistischen und phänomenologischen Eigenschaften auszustatten, um sie der darstellenden Kunst zu verkaufen, beraubt die Performance ihrer Episteme. Wird sie auf die Bühne entführt, als Franchise in Tanzpraktiken überführt oder als Akt zivilen Ungehorsams ausgeübt, dann werden lediglich die rein Phänomenale bzw. das nominale Konstrukt des Akts herausgefiltert, niemals aber die ideologische, epistemische und kontextuelle Genese und Ätiologie zeitgenössischer Kunst.
Folglich lässt man sich in der Wahrnehmung von Kunstperformances schnell täuschen. Bisweilen glaubt man, sie brächten kontingente und ungezwungene Formen des Handels und Seins in Institutionen, deren bisherige Basis die Disziplin war. Dabei ist die Performance in der zeitgenössischen Kunst – in ihrer entleerten Rigidität – ganz im Gegenteil die Disziplin der Disziplinen, ein Kodex, egal, wie subversiv oder kontingent ihre AkteurInnen auch handeln mögen. Der Moskauer Konzeptualist Andrei Monastyrski prägte den Begriff der „leeren Aktion“ (pustoe deistvie) für seine „Kollektiven Aktionen“. Die leere Form, die den Genuss untersagt, die Wahrnehmung voller Interesse und Vergnügen, mit allen Sinnen und mit Empathie oder durch rein psychedelische Immersion – im Gegensatz zu Wahrnehmungsweisen, die in populären Erscheinungsformen der Kunst wie Kino, Theater, Tanz, Musik im Überfluss vorhanden sind –, dieser Zustand resultiert aus dem, was bereits angesprochen wurde, nämlich aus der Eigenschaft der zeitgenössischen Kunst, im Modus der Selbstaufhebung zu funktionieren.
Wir müssen uns eingestehen, dass dem Theater und dem Tanz eine derartige Selbstaufhebung nicht gelungen ist und sie daher auch nie zu zeitgenössischer Kunst geworden sind. Sobald sie sich an ihrer Selbstaufhebung versuchen, hören sie auf, sie selbst zu sein, und werden „Kunst“. 4‘33‘‘ von John Cage gibt den Maßstab vor, mit dem sich überprüfen lässt, ob Cage ein Komponist geblieben ist, der seine Musik auf ein Nichts reduziert hat, oder ob dieses Stück über die Dekonstruktion des Mediums hinausgegangen und zum konzeptuellen Performanceakt geworden ist. Ersteres scheint der Fall zu sein: 4‘33‘‘ ist auch heute noch eher ein avantgardistisches Musikstück als ein zeitgenössisches Kunstwerk. Damit ist es innerhalb des Paradigmas moderner, radikaler Musik zu verorten und nicht in der zeitgenössischen Kunst.
Aber wie lässt sich erklären, dass Theater und Tanz, obgleich sie sich zu dekonstruieren versuchen, die Selbstaufhebung nicht in dem Maße erreichen wie die Kunst, wenn diese zur Hyperinstitution wird? Wie bereits erwähnt, behauptet sich die Kunst als globale Metainstitution, indem sie ihren nihilistischen Zustand der Selbstaufhebung fortwährend aufrechterhält. Im Theater mag die Art und Weise des Handelns Gegenstand der Dekonstruktion sein, doch die Schnittstelle zur Institution bleibt darin intakt. Auch wenn die Handlungsweisen alles andere als traditionell choreografisch, dramaturgisch oder theaterbezogen sind, werden das Publikum und seine Wahrnehmungsgewohnheiten im zeitgenössischen Theater nach wie vor sehr traditionell behandelt. Anders gesagt, bislang gab es kein Schwarzes Quadrat des Theaters oder des Tanzes, welches das Publikum einfach dadurch profaniert hätte, indem es dieses überflüssig gemacht hätte. Das Schwarze Quadrat von Malewitsch ist anders als 4‘33‘ ‘ eine quasiphilosophische Geste, über die wir kritisch spekulieren, anstatt sie nachdenklich als neue Antibildlichkeit der visuellen Kunst zu betrachten oder gar als Antigemälde. Mit dem Schwarzen Quadrat reinstitutionalisiert sich die Kunst mithilfe einer Geste der Selbstzerstörung, durch die sie sich selbst abschafft. Nur durch diese Form der Selbstzerstörung erlangt sie ihre Vorherrschaft. Während postchoreografischer Tanz und postdramatisches Theater sich selbst derangieren, aber nach wie vor nach ZuschauerInnen verlangen, die mitverfolgen, wie sie sich derangieren, wagte es die Kunst schließlich, dem Publikum ins Gesicht zu „spucken“. Erst danach rekonstituierte sie die Institution in Metabegriffen und bemühte sich, sie zu globalisieren. Trotz ihres großen Publikums historisiert und theoretisiert die Kunst sich ganz ohne Publikum bzw. die Menschheit selbst, denn es handelt sich dabei um einen Extremfall der Vergegenständlichung von Spekulationen, weshalb auch die ästhetische Wahrnehmung und ihre Regime in ihrem Fall überflüssig sind. Aus diesem Grund können Postchoreografie und postdramatisches Theater oder performative Praktiken trotz aller Bemühungen auch nicht zu Kunst werden.
Wie gesagt, das performative Streben und der Glaube an das Verlernen oder ein unmittelbares autopoietisches Sein sind Mythen, die der Episteme der Kunst schlichtweg nicht innewohnten. Trotz ihrer spontanen Performativität oder auch ihrer kontingenten Hybris behält sich die Kunst allem Aufzuführenden gegenüber eine radikale Skepsis vor. Nur unter der Bedingung einer derart radikalen nihilistischen Negativität kann zeitgenössische Kunst ihre Gültigkeit behalten.
Jacques Derrida hat zwar nie über zeitgenössische Kunst geschrieben, aber er hat seinen extremen Skeptizismus gegenüber dem befreienden Potenzial der Performativität wohl begründet. In seiner Grammatologie legt er überzeugend dar, warum er jeder Form von Autoaffektion misstraut. Er verwirft zwar klassische Formen der Sinnlichkeit wie die Mimesis, aber nach Derrida sind auch die Autopoiesis und ihre performende Subjektivität nichts anderes als die Affektion eines narzisstischen Selbst in seinem Streben nach Macht.[7| Daher sollte die Performance nach Derrida der Differänz (différance) zu- und in diese eingeschoben werden, um die metaphysische Selbsteinsetzung eines souveränen Subjekts zu vermeiden.8
Noch wichtiger ist aber, dass Derrida jede Aktualisierung oder Zufälligkeit performativer Prozesse in Zweifel zieht, wenn er darlegt, inwieweit ausgeführte Äußerungen oder Handlungen nichts anderes sind als Wiederholungen des Unaussprechlichen. Anders gesagt, nach Derrida kann nichts aufgeführt werden außer der Unmöglichkeit, etwas aufzuführen, weil sich in der performativen Semiologie des Geschehenen nicht manifestiert, was geschehen ist oder ob etwas geschehen ist – sie kann nicht beweisen, ob überhaupt irgendetwas stattgefunden hat. Und genau dieser negative Modus durchdringt die Performance in der zeitgenössischen Kunst.

Rückkehr zur reinen Phänomenologie?
Bei alldem lässt sich eine heutzutage immer deutlicher werdende Tendenz nicht von der Hand weisen: Die Kunst mit ihrem kognitiven Reduktionismus hat sich erschöpft, während es die darstellenden Künste ihrerseits leid sind, nicht hinreichend „kognitiv“ oder theoretisch zu sein. Beide dürsten nach einer gegenseitigen Befruchtung. Die Kunst sehnt sich nach Sinnlichkeit, Stimmungen, Vergnügen, Narrativen, Erotisierung. Die darstellenden Künste sehnen sich nach einer Vorherrschaft, die nur ein theoretischer und philosophischer Verstand herstellen kann. Deshalb fehlt ihnen der „Zeitgenossenschaftskoeffizient“ der Kunst. In der gleichzeitigen Krise der beiden Institutionen beobachten wir immer häufiger die Schwächung beider Paradigmen. Junge KünstlerInnen scheuen nicht mehr davor zurück, ihre Emotionen in Performances zum Ausdruck zu bringen. Zeitgenössische KünstlerInnen lassen nicht nur Tanz, Gesang oder schauspielerische Inszenierungen in ihr Werk einfließen, sondern schreiben auch psychedelische Immersion oder die reine Freude an der Wahrnehmung in diese Praktiken ein. Wenn in der Kunst wieder emphatische Immersion und Vergnügen gestattet sind, unterwirft sie sich den normalen menschlichen Sinnen und Freuden und wird zum populären, nicht konzeptuellen Akt.
Obwohl die Hyperinstitution der Kunst weiterhin in einer Form organisiert sein wird, die das Vergnügen letztendlich doch beschneidet, so ist diese Beschneidung einer ansonsten popkulturellen Praxis – auch wenn sie nur vorgibt, für ein konzeptuelles Element zu stehen – im Kosuth’schen Sinne nicht mehr konzeptuell oder theoretisch. So intoniert etwa Ragnar Kjartansson mit Orchesterbegleitung 25 Minuten lang nur die vier Takte seines Stücks Sorrow Conquers Happiness (2014) und verleiht seiner Darbietung damit qualvolle Unendlichkeit. Anne Imhofs Faust (2017) entfaltet sich als rätselhaftes, psychedelisches Geschehen, das zwischen Ritual, Installation, Modenschau und zeitgenössischem Tanz oszilliert, aber zugleich die Sinnlosigkeit der genannten Aufführungsarten entlarvt. Eine Reihe neuer Texte zur Kunst (von Graham Harman, Timotheus Vermeulen u. a.) fordern, die Kunst von ihrer verbalen, linguistischen und kontextuellen Hülle zu befreien und nach der reinen Wirklichkeit reästhetisierter, postkonzeptueller Materie und Objekthaftigkeit in ihr zu suchen, um so zur reinen Phänomenologie oder einer Metamoderne zurückzukehren. Folglich trägt die Kunst als Metainstitution zu ihrer eigenen Schwächung bei, wenn sie demokratischen Impulsen und popkulturellen Regimen nachgibt. Tanz und Theater sind ihrerseits inkonsistent, wenn sie einerseits Abstand nehmen von Drama, Choreografie und Schauspiel, um sich im Streben nach Schnittstellen zur zeitgenössischen Kunst selbst zu derangieren, andererseits aber den institutionellen Rahmen bewahren und sich weiterhin als Theater oder Tanz bezeichnen. Dadurch sind sie nicht länger Theater oder Tanz, aber auch noch keine Kunstperformance.

 

Übersetzt von Gülçin Erentok

 

[1] Vgl. Boris Groys, Under the Gaze of Theory, in: e-flux Journal, Nr. 35 (Mai 2012); https://www.e-flux.com/journal/35/68389/under-the-gaze-of-theory/.
[2] Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main 2004.
[3] André Lepecki, Option Tanz. Performance und die Politik der Bewegung. Theater der Zeit 2008.
[4] Fredric Jameson, The Aesthetics of Singularity, in: New Left Review, Nr. 92 (März/April 2015).
[5] Vgl. Valery Podoroga, Kairos, the Critical Moment. Moskau 2013.
[6] Jameson, The Aesthetics of Singularity.
[7] Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie. Frankfurt am Main 1983.
[8] Vgl. Keti Chukhrov, Anthropologie des Aufführens, in: springerin, 2/2013.