Heft 3/2018 - Lektüre



Krystian Woznicki:

Fugitive Belonging

Berlin (DIAMONDPAPER) 2018 , S. 73 , EUR 20

Text: Peter Kunitzky


Europa im Juni 2018: Das Rettungsschiff Aquarius mit über 600 MigrantInnen an Bord ist gezwungen, eine ganze Woche lang durch das Mittelmeer zu pflügen, weil ihm auf Geheiß des – von der rechtsnationalen Lega Nord gestellten – italienischen Innenministers Salvini alle Häfen des Landes versperrt blieben. Jenes umstrittenen Innenministers, mit dem der österreichische Kanzler Kurz eine „Achse der Willigen“ bilden will, mit dem einzigen Ziel, die europäische Flüchtlingspolitik noch restriktiver zu gestalten. Und der noch immer eher in bayerischen Dimensionen denkende deutsche Innenminister Seehofer, der diesen neuen Dreibund komplettiert, hat einen „Masterplan“ entwickelt, auf dessen Basis er möglichst viele Menschen an der deutschen Staatsgrenze zurückzuweisen hofft.
Wir haben es hier bloß mit einer Momentaufnahme zu tun, gewiss, trotzdem verdichtet sich in ihr wie unter einem Brennglas eine spezifische Tendenz, die sich schon länger abgezeichnet hat: In der Flüchtlingsfrage hat die Stimmung erkennbar umgeschlagen, die Euphorie der Willkommenskultur, von der beträchtliche Teile der Zivilgesellschaft im Jahr 2015 wie von einem plötzlichen Fieber erfasst wurden, ist abgeklungen, hat einer allgemeinen Gleichgültigkeit Platz gemacht, so sie sich mancherorts nicht in noch Niedereres gewandelt hat. Und in diese, von einer höheren humanitär-humanistischen Perspektive aus betrachtet prekäre Situation platzt nun, wenn man so will, das Buch Fugitive Belonging von Krystian Woznicki und empfiehlt sich als Antidot an, indem es nahelegt, den Blick umzukehren und die bei uns Hilfe suchenden Menschen nicht als Last oder Bedrohung anzusehen, sondern als politische Hoffnungsträger. Denn die Frage, wie sich heute politisches Engagement oder, vielleicht genereller, politisches Handeln manifestiert, ist diejenige, die diesem – im besten Sinne des Worts vermutlich auch etwas naiven – Essay die grundsätzliche Richtung vorgibt. Einem Essay, der denkerisch durchaus Radikales wagt, weil er in seiner luziden Analyse der Gegenwart nicht nur die Wurzeln der in den europäischen Demokratien um sich greifenden politischen Ernüchterung freilegt, sondern sich als Antwort darauf auch an recht unerhörten Vorschlägen versucht.
Für den Autor ist die Welt jedenfalls aus den Fugen oder, nach den Verwerfungen von 1989, wenigstens in heftige Bewegung geraten. Solcherart hat sich die alte, von den Nationalstaaten hergestellte und als stabil geltende Ordnung in einer neuen dynamischen Totalität aufgelöst, für die Woznicki den Begriff „Vernetzungszusammenhang“ prägt und die wir uns als „web of life“ oder als „web of interdependencies and interconnections“ vorzustellen haben, das den Verkehr von Menschen, Waren, Daten und Geldmitteln ermöglicht. Der Nationalstaat sieht sich nun aber von diesen Dynamiken der Globalisierung überwältigt und versucht sie, im engen Verbund mit der Sicherheitsindustrie und der IT-Branche, zu beherrschen. Dazu werden – trotz des Phantasmas der Grenzenlosigkeit – überall neue, gerade auch virtuelle Schranken und Kontrollpunkte errichtet, die die Bewegungsströme regulieren und dirigieren sollen. An diesen Barrieren, seien sie nun materiell oder virtuell, stellt der Staat aber nicht nur Asylsuchende und MigrantInnen und klassifiziert sie oftmals nach rassistischen und utilitaristischen Gesichtspunkten, sondern späht, wie man nach den Enthüllungen von Edward Snowden weiß, auch gezielt seine eigenen BürgerInnen aus. Mit derartigen Maßnahmen, die autoritären Gesten zum Verwechseln ähnlich sehen, versucht der Staat laut Woznicki jedoch nur eine gewisse Souveränität zurückzuerlangen, die durch seine globalen Verflechtungen – unter dem Einfluss von supranationalen Organisationen und internationalen Großkonzernen – immer mehr zu zergehen droht. Kurzum: Der Bürger verliert heute durch die Schwäche des Staates, die dieser durch repressive Manöver zu kompensieren trachtet, den Referenzpunkt seines politischen Handelns. Und in dieser Staatsverdrossenheit könnte, so Woznickis Volte, nun tatsächlich der Flüchtling eine Form der Orientierung bieten, und zwar alleine dadurch, dass er einfach um Asyl ansucht. Wie das? Nun, jene aus der Not geborene Handlung entspräche zwar nicht einem rationalen politischen Akt, wonach zuerst ein Problem adressiert, dann eine Lösung formuliert und schließlich um Unterstützung dafür geworben werden müsste. Sie wäre aber trotzdem bereits als ein solcher zu werten, weil sie erstens zu Friktionen und Konflikten und damit letzten Endes zu „Verhandlungen“ über soziale Standards führte (wer hat eigentlich wann und warum das Recht auf eine Wohnung, Essen, medizinische Versorgung etc.?), und weil sie zweitens, obwohl von einem Einzelnen ausgeführt, doch im Namen aller gesetzt wäre, was bei der Aussicht darauf, dass sich in naher Zukunft durch Kriege, ökonomische Krisen und Klimakatastrophen möglicherweise bis zu 700 Millionen Menschen auf der Flucht befinden werden, durchaus Gewicht gewinnen würde. Nur – und so viel Kritik sei einem gestattet: Wenn eine solche Handlung wirklich bereits für sich sprechen und einen politischen Akt konstituieren würde, warum müssen dann doch so viele Worte über sie verloren werden? Und ist nicht der Essay, also die von Woznicki gewählte Form, dasjenige, was sie erst in den politischen Diskurs einspeist und damit tatsächlich verhandelbar macht?