Heft 3/2018 - Netzteil


Re & Ra, Rosa & Erasure

Zur Aktualität des Afrofuturismus

Klaus Walter


Die Wahrheit über den Planeten ist eine böse Wahrheit. So lautet das Mantra von „The Truth About Planet Earth“, Sun Ra live 1978. Nach sieben Minuten bad & sad truth über die Erde zu Schlagzeug und Piano folgt der nächste Song. Gebetsmühlenfunky wiederholen die Stimmen: „Space is the place, space is the place …“
Nimmt man die beiden Songtitel als „hermeneutisches Fenster“ (Erik Steinskog) beim Wort, dann hat man die Essenz des Sun Ra. Und des Afrofuturismus. Die Erde ist ein feindseliger Ort für African Americans, also lasst uns ein besseres Morgen suchen – im Space. Wie die von ihm viral beeinflussten Afrofuturismus-Paten Lee Scratch Perry („Arkology“) und George Clinton („Mothership Connection“) gilt Sun Ra als Wahnsinnsgenie. Auf der Seite des Wahnsinns verorten auch viele Fans des kosmischen Dreigestirns die kryptoreligiöse bis synkretistische Rede vom Space, der „the place“ sein soll. Glücklicherweise folgen Sun Ra kluge Sternendeuter, die den Esoterikverdacht entkräften und seinen Space-Tic auf eine historisch-materialistische Grundlage stellen. Menschenhandel ist die Geschäftsbasis der USA, die Staatsbürgerschaft ist „freien weißen Personen“ vorbehalten. Daran erinnert Ta-Nehisi Coates in seinem Buch We Were Eight Years In Power: „Tatsächlich war es die Sklaverei, die die amerikanische Demokratie überhaupt erst ermöglichte. Es war die Sklaverei, die den Südstaaten eine arbeitende Klasse bescherte, die ohne jeden Schutz lebte und über Generationen angetrieben, geschlagen und verkauft werden konnte.“ Afrofuturismus ist nicht zu verstehen ohne die afrikanisch-amerikanische Erfahrungsmatrix namens Sklaverei, eine Erfahrung der Dislokation, der Auslöschung von Geschichte. Ein Initiationstrauma – so der britische Kulturwissenschaftler Paul Gilroy, Autor der Schlüsselbücher The Black Atlantic und There Ain’t no Black in the Union Jack.
Historische Antworten auf das Initiationstrauma: Nein, ich bin nicht Cassius Clay, ich bin Muhammad Ali. Mein Name ist X, Malcolm X, ich scheiß’ auf meinen Sklavennamen. Ich bin Sun Ra, Space ist mein Place. „Arkestra“ tauft Ra seine Band, noch ein doppelter Boden: Wie „Arkestra“ klingt es, wenn sie im Süden der USA „Orchestra“ sagen. „Ark“ ist die Arche aus der Bibel, das rettende Gegenmodell zu den Sklavenschiffen.
Ali, X, Ra, Clinton, Perry – alte, wenn nicht gar tote Schwarze Männer. Aber der Afrofuturismus ist auch ein Instrument, das junge Schwarze Frauen im 21. Jahrhundert für sich nutzen. R&B-Superstar Janelle Monáe zum Beispiel, ein Alien aus dem Weltraum, 1985 in Kansas auf der Erde gelandet: „I’m an alien from outer space. I’m a cyber girl without a face a heart or a mind“, singt Monáe in „Violet Stars Happy Hunting“, einem ihrer vielen Songs mit afrofuturistischer Färbung.
„Diese Musik war inspiriert von Science-Fiction und Afrofuturismus“, sagt Janelle Monáe. „Aus der Sicht einer jungen Schwarzen Frau spreche ich von einer Zukunft, in der wir dazugehören, in der wir nicht die Minderheit sind, sondern die Heroinnen, die Anführer, die Helden. So kam Cindi Mayweather zustande.“
Cindi Mayweather ist ein Cyborg, ein androides Alter Ego von Janelle Monáe. Im Video sehen wir Cindi Mayweather mitsamt ihren geklonten Cyborgs an einem Ort namens Metropolis bei der alljährlichen Auktion der Androiden. Die Bilder dieser Auktion erinnern fatal an die Versteigerungen von SklavInnen im alten Amerika. Monáe: „Es gibt nicht viele Konzeptalben, die davon handeln, ein Außenseiter der Gesellschaft zu sein, und der ‚Android‘ schien mir eine neue Form des Außenseiters zu sein. Ich wollte eine Vision von einer Figur erschaffen, auf die wir stolz sein können, magische Geschöpfe!“
Oder Jamila Woods, Erneuerin des R&B, auf der Erde in Chicago zu Hause, doch auch sie sieht ihren Place in Space: „Wir könnten uns im Weltraum treffen und dort eine Nacht zusammen verbringen, ich habe genug von dieser Erde, da draußen können wir neu anfangen.“ Mit diesen Worten lockt Jamila Woods in „Stellar“ ihr Liebesobjekt gen Outer Space. „Es geht darum, wie sich Schwarze Menschen in die Zukunft imaginieren“, erklärte Woods in der taz. „In der Science-Fiction oder in futuristischen Romanen kommen Schwarze Menschen nicht vor. Die unausgesprochene Annahme dahinter ist: Schwarze Menschen werden die Zukunft nicht erleben, sie werden nicht überleben. Afrofuturisten legen Wert darauf, dass Schwarze Menschen in ihrer Kunst repräsentiert sind, und sie erzählen eine revidierte Version der Geschichte.“
Um eine Revision der Geschichte geht es auch dem kommerziell erfolgreichsten Afrofuturisten der Menschheitsgeschichte: Ryan Coogler, Regisseur von Black Panther, Hautfarbe Schwarz. Der Science-Fiction-Blockbuster hat die Rede vom Afrofuturismus in die Feuilletons katapultiert und dafür gesorgt, dass das A-Wort zum Allzweck-Wortcontainer für alles wird, das irgendwie mit Science-Fiction und Afrika zu tun hat. „Ich habe schon als Kind Batman- und Spiderman-Comics geliebt, aber keiner von denen sah so aus wie ich, es gab keinen Schwarzen Superhelden“, sagt Ryan Coogler. „Also habe ich den Typ im Zeitungsladen in Oakland gefragt, ob es keinen Black Superhero gibt, und er hat mir Black Panther gezeigt.“
Im kalifornischen Oakland wurde die Black Panther Party gegründet, im Oktober 1966. Drei Monate vorher tauchte der Black Panther alias King T’Challa zum ersten Mal in einem Marvel-Comic auf. Heute streiten sich die Gelehrten, wer da wen beeinflusst hat, wer wem den Namen „Black Panther“ geklaut hat. Sicher ist: Sowohl die militante Black Panther Party als auch der Black Panther-Film haben Geschichte gemacht und Geschichte revidiert.
Neben dem Ra des ägyptischen Free Jazz-Sonnengotts spielt die Vorsilbe „Re-“ eine große Rolle im Afrofuturismus. Afro-Tech and the Future Of Re-Invention ist der Titel einer gefeierten Ausstellung, die bis April 2018 in Dortmund zu sehen war. Weitere „Re’s“, über die wir stolpern, zum Beispiel in Erik Steinskogs aktuellem Buch Afrofuturism And Black Sound Studies:
Re-Interpretation: die Geschichte neu schreiben und damit auch die Zukunft. Re-Cycling: Elektroschrott in Schmuck verwandeln, gebrauchte Beats wiederverwenden, auch bekannt als – Re-Mix: Es waren afroamerikanische und afrokaribische MusikerInnen, die in Dub, HipHop und Techno die grenzenlosen Möglichkeiten der Remixability entdeckt haben. Weitere afrofuturistische Kulturtechniken mit der Vorsilbe „Re“: Re-inscribing, Re-Kontextualisierung, Re-Make-Re-Model, Re-Vision, Re-use, Re-Konstruktion, Re-visiting. Re-volution. In Black Panther taucht mehrfach „The Revolution Will Not Be Televised“ auf, der Proto-Rap-Klassiker von Gil Scott-Heron. Auch Schwarze Geschichte wird nicht im Fernsehen übertragen, noch nicht mal in der Schule, sagt Jamila Woods: „In der Schule habe ich nie etwas gehört von Schwarzer Geschichte. Deswegen finde ich es wichtig, solche Themen in meiner Musik zu erwähnen. Ella Fitzgerald, wer ist das? Rosa Parks, wer ist das? Ich habe oft nach Namen gegoogelt und auf diese Art viel gelernt.“
Schwarze Geschichte, sie wird ausradiert. Das bestätigt auch der afroamerikanische Autor Greg Tate und plädiert für eine Gegenstrategie: „Erasing the Erasure“, die Auslöschung der Auslöschung. Allerdings lauert hier ein Problem: Es greift zu kurz, afrofuturistische Kunstproduktion zu reduzieren auf die Counter History, also auf den Aspekt der Reaktion. Darauf weist Fabian Saavedra-Lara hin, zusammen mit Inke Arns hat er die Dortmunder Afro-Tech-Ausstellung kuratiert: „Kunstwerke entstehen ja nicht aus dem Impetus ‚ich möchte dem etwas entgegensetzen‘, sondern sie entstehen aus eigenem Recht, gerade in afrikanischen Ländern. Man tut ihnen Unrecht, wenn man sie immer nur begreift als Gegenmodell zu … oder als etwas, das sich abarbeiten muss an den großen westlichen Beispielen.“ Unsere freundliche Umarmung des Afrofuturismus birgt eben auch die Gefahr einer zweiten Kolonisierung im Namen des guten (West-)Willens.

Ausstellungen:
Afro-Tech and the Future Of Re-Invention, Hartware MedienKunstVerein, Dortmund, 21. Oktober 2017 bis 22. April 2018;
Arthur Jafa – A Series of Utterly Improbable, Yet Extraordinary Renditions, Julia Stoschek Collection, Berlin, 11. Februar bis 25. November 2018;
Jean-Michel Basquiat – Boom For Real, Kunsthalle Schirn Frankfurt, 16. Februar bis 27. Mai 2018.

Bücher:
Erik Steinskog, Afrofuturism And Black Sound Studies. Culture, Technology and Things to Come. Palgrave Studies in Sound 2017.
Ta-Nehisi Coates, We Were Eight Years In Power. Eine amerikanische Tragödie. Übersetzt von Britt Somann-Jung. Berlin: Hanser 2018.