Riga. Das hundertjährige Jubiläum der Staatsgründung Lettlands bietet die Möglichkeit, sich der turbulenten Geschichte dieses Landes zu erinnern: von der Ausrufung der Republik am Ende des Ersten Weltkriegs über die sowjetische und deutsche Besatzung bis zur Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit nach dem Fall der Berliner Mauer. Allerdings geht es bei der Geschichte einer Nation nicht nur um die Sicherung geografischer Grenzen. Es geht auch darum, was es bedeutet, diese Grenzen zu überschreiten und anderswo zu leben, wie die Ausstellung Portable Landscapes als einer der künstlerischen Höhepunkte der Hundertjahrfeiern nahelegt. Sie spürt den Lebenswegen lettischer ExilkünstlerInnen nach, die an so weit wie Gotland, Berlin, Paris, New York oder Montreal verstreute Orte auswanderten. Die Schau öffnet damit ein neues Kapitel in der Geschichte der Kunst Lettlands, das sich einem erweiterten kulturellen Kanon verschreibt.
Die so gründliche wie vollständige Ausstellung umfasst nicht nur Kunstwerke von zeitgenössischen KünstlerInnen, die über das Leben und ihre Arbeit im Exil berichten, sondern berücksichtigt auch die Nähe Lettlands zu seinen baltischen Nachbarländern – wie zum Beispiel David Holmerts Schwarz-Weiß-Fotos belegen. Datiert mit 1944–45 dokumentieren sie den Alltag lettischer und estnischer Asylwerbenden in jenen Flüchtlingslagern, die Schweden damals auf der Insel Gotland betrieben hatte. In thematischer Nähe handelt Ingela Johanssons Video The Nearest Point To The Free World, 1989 aus dem Jahr 2018 von der sogenannten Studienwoche Gotland, die im August 1989 ExillitauerInnen aus aller Welt versammelte, um über die Wiedererlangung der Freiheit ihrer Heimat zu debattieren – parallel fand diese Debatte damals auch unter LettInnen statt. Andere Arbeiten betonen die Ähnlichkeiten zwischen ehemaligen Sowjetrepubliken im Allgemeinen. So handelt Karol Radziszewskis Film America Is Not Ready For This (2012) vom Aufenthalt der polnischen Künstlerin Natalia LL in New York 1977, der unter anderem durch Gespräche mit Douglas Crimp, Vito Acconci und Natalia LL selbst kommentiert wird. Diese sprechen über viele Themen, die von der Armut von Künstlerinnen über die Nachteile, damals als feministische oder homosexuelle Künstlerin zu gelten, bis zu Natalia LLs Exzentrik reichen. Dabei tritt auch deutlich die Kluft zwischen dem osteuropäischen Kunstbegriff und dem kommerzielleren Ansatz der westlichen Kunstszene zutage.
„Treffen von Exilierten und Émigrés und Flüchtlingen; Treffen am Rande ‚fremder‘ Kulturen, Treffen an den Grenzen, Treffen in den Ghettos oder den Cafés oder den Innenstädten; Treffen im Halbverstehen, im Halbdunkel fremder Sprachen“, schreibt Homi Bhabha.1 Dieses dauernde Am-Rand-Stehen oder Dazwischensein ist nicht nur in Radziszewskis Film ein wiederkehrendes Motiv, sondern auch in den Leben der lettischen Exilierten, die in der Ausstellung porträtiert werden. Da ist zum Beispiel der in Berlin lebende Valdis Abolins, dessen Umtriebe von der Organisation eines wichtigen Fluxus-Ereignisses 1964 und dem Betreiben einer Avantgardegalerie bis zur Organisation von Ausstellungen von KünstlerInnen aus dem Ostblock in Westdeutschland reichen. Abolins linke Ansichten standen dabei im krassen Gegensatz zur Exil-Community, die seine Kontakte in die Kulturszene des sowjetischen Lettlands als Zeichen der Zustimmung für das kommunistische Regime sahen.
Auch die Pariser Abteilung der Ausstellung widmet sich der verwickelten Beziehung der Exilierten mit ihrem Heimatland. Beispielhaft steht hierfür die lettische Tänzerin und Schriftstellerin Aia Betrand. Sie entschloss sich 1911, nach Paris zu ziehen, wo sie bald ein aktives Mitglied einer utopischen Kommune namens Akademia und ihrer Schule wurde. Später heiratete sie deren Gründer Raymond Duncan, den Bruder von Isadora Duncan, veranstaltete Ausstellungen lettischer KünstlerInnen und übersetzte lettische Literatur ins Französische. Raymond Duncan und Aia Bertrand trugen selbstgemachte Kleider und Schuhe und vervielfältigten mit ihrer eigenen Druckmaschine Aufsätze und Pamphlete. Ihre egalitären Ideale, aber auch Raymond Duncans Begeisterung für die griechische Antike, regten Ieva Balode zu ihrem Video Equal Tense (2017/18) an, das Tanzstunden in Akademia mit Lesungen von Texten Raymond Duncans kombiniert. Adrejs Strokins’ Untitled aus 2017 wiederum setzt die Stücke, die in Akademia aufgeführt wurden, mit Bildern lettischer Laientheater aus der Zwischenkriegs- und der Sowjetzeit in Verbindung. Unter diesem Blickwinkel erscheint Aia Bertrands antikapitalistische Utopie in Paris als eine Art Nachempfindung eines reinen und ungekünstelten lettischen Lebensstils.
In einer geschickten Volte kontrastiert schließlich Kristina Normans Video Common Ground (2013) die Misere osteuropäischer Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs mit jener der momentan in Osteuropa eintreffenden Flüchtlinge. Die Arbeit stellt Interviews mit EstInnen, die im Krieg nach Schweden flohen und sich nicht nur ihrer Not, sondern auch der Gastfreundschaft jener erinnern, die sie damals empfingen, den Aussagen nicht europäischer Flüchtlinge gegenüber, die erst kürzlich nach Estland kamen, wo sie nun in einem abgelegenen Sammellager auf ihre Asylbescheide warten müssen. Diese Bilder stehen im krassen Gegensatz zu den Pictures from our future, pictures from our past (2015–17), einer Fotoserie der in Teheran geborenen und heute in Helsinki und Metsakivi lebenden Bita Razavi. Sie zeigen die Künstlerin im Kaffeehaus selbstbewusst Zeitung lesen oder genau wie „Einheimische“ die Sauna besuchen.
Indem Portable Landscapes diese und noch weitere Verbindungen zwischen historischen Ereignissen, der Kunstgeschichte und der aktuellen Flüchtlingskrise offenlegt, betont die Ausstellung nicht nur die Rolle, die Exilierte bei der Verbreitung lettischer Sitten und Traditionen in anderen Länder spielten. Sie bietet auch einen Ausblick, welche Rolle die heutigen Exilierten in der Zukunft Lettlands spielen werden.
Übersetzt von Thomas Raab