Heft 1/2019


Post-Jugoslawien

Editorial


Nahezu 30 Jahre ist es inzwischen her, dass die Föderative Republik Jugoslawien zu zerfallen anfing. Kurze Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs gerieten die Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Teilrepubliken, befeuert von teils ultranationalistischen Tendenzen, zu einer besonderen Bewährungsprobe für eine lange Zeit unmöglich erscheinende
südosteuropäische Friedensordnung. Anhaltende Kriege, immer wieder aufflammende Konflikte sowie ethnische „Säuberungen“, wie sie in den 1990er-Jahren stattfanden, wirken bis heute auf traumatische, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert kaum noch für möglich gehaltene Weise nach.
Inzwischen wurden teils instabile Friedensabkommen etabliert, die jedoch nicht unumstritten sind und bis heute Zündstoff für weitere Auseinandersetzungen liefern. Separatistische Tendenzen sowie Grenzverläufe innerhalb und entlang der Region sind nach wie vor virulente Themen, die – überschattet von anderen, „sichtbareren“ Konfliktregionen – aktuell oft unbemerkt weiterschwelen.
Auch die Erinnerung bzw. Erinnerungspolitik im Hinblick auf die heftig und grausam geführten Kriege ist immer noch kontrovers. So gibt es in den einzelnen Nachfolgestaaten höchst unterschiedliche
Erinnerungskulturen, weswegen bis heute keine einheitliche Interpretation der Balkankriege existiert. Und auch der demokratische Prozess ist, ähnlich wie in anderen Regionen, häufig jedoch zurückgehend auf bereits in den 1990er-Jahren zutage getretene Spannungen, spürbar ins Stocken geraten. Jedenfalls ging der Transformationsprozess von zunächst oft autoritären Systemen hin zu einer Ordnung nicht so glatt und reibungslos vonstatten, wie man dies anfänglich erhoffte.
Was bedeutet dies für die Kunst und Kultur dieser Region? Welche Auswirkungen hat das für eine jüngere Generation von KünstlerInnen, die während der Kriege oft noch Kinder waren, nichtsdestotrotz aber von den damaligen Ereignissen entscheidend geprägt wurden? Wie machen sich der noch nicht lange zurückliegende Zerfall des Staatengebildes und dessen teils horrende Begleiterscheinungen in gegenwärtigen künstlerischen Herangehensweisen bemerkbar?
Die Ausgabe Post-Jugoslawien widmet sich diesen Fragestellungen und überlässt KünstlerInnen und AutorInnen aus der Region das Wort. Entstanden ist das Heft in Kooperation mit dem Artist-in-Residence-Programm „Westbalkan“, welches das österreichische Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (BMEIA) seit 2016 zusammen mit dem Q21 im MuseumsQuartier Wien betreibt. Auf Initiative von Karin Cervenka, der unser ausdrücklicher Dank für die Zusammenarbeit gilt, haben in den vergangenen drei Jahren viele namhafte KünstlerInnen aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens sowie aus Albanien Projekte im Zuge dieses Programms realisieren können. Einige dieser Projekte sind, begleitet von bzw. eingebettet in weiterführende kritische Reflexionen, in dieser Ausgabe dokumentiert bzw. für das Magazinformat adaptiert. Obgleich es unmöglich ist, die gut zwei Dutzend KünstlerInnen, die bislang an dem „Westbalkan“-Programm teilnahmen, hier vollständig zu repräsentieren, sollen die ausgewählten Projekte einen aufschlussreichen Querschnitt durch das betreffende Kunstschaffen gewähren. Ein Schaffen, das sich dem langen Schatten der Kriege nicht
entzieht und umgekehrt diverse Erinnerungskulturen und -politiken kritisch in sich aufnimmt.
Lana Čmajčanins zu Beginn des Thementeils abgebildetes Project Blank Maps steht emblematisch für dieses historischkritische Schaffen. Das Palimpsest übereinandergeschichteter historischer Landkarten der Balkanregion bringt in verdichteter Weise auf den Punkt, welche Konflikte, Auslöschungen und Neuziehungen von Grenzen die Region bis heute bestimmen. Jelena Petrović macht daran ihre Überlegungen zu den Rahmenbedingungen einer dezidiert „postjugoslawischen“ Kunst fest. Ihr Augenmerk gilt dabei vor allem der Sorge bzw. dem Unbehagen, das zahlreiche KünstlerInnen in Bezug auf die ihnen auferlegte geopolitische Festschreibung hegen. Derlei Fixierungen bildet Alban Muja in seiner konzeptuellen Fotoserie Borders Without Borders ab: Zu sehen sind Grenzstationen, die irgendwann an der EU-Außengrenze errichtet wurden und heute funktionslos geworden sind, während sie zugleich an die jederzeit wieder aktivierbaren (und historisch kontingenten) Grenzregime gemahnen.
Wohin ein Europa steuert, das Teile Ex-Jugoslawiens in sich aufgenommen hat, andere aber ausschließt, thematisiert auch die Arbeit EE-O von Lala Raščić. Das Werden „neuer“ Nationalstaaten,
das bei Raščić von der mythischen Spinnenfigur Arachne symbolisiert wird, erfährt in weiteren Beiträgen eine kritische Beleuchtung: So geht Danilo Prnjat den Verlockungen und Gefahren nach, national konnotierte Kunst (in diesem Fall die von serbischstämmigen KünstlerInnen) unter einem gemeinsamen Signet vereinheitlichen zu wollen. Derlei einschränkende Recodierung wird vom historischen Rückblick auf wichtige Episoden der jugoslawischen Kunst- und Kulturmoderne ad absurdum geführt: In ihrem Text-Bild-Essay führen Jelena Vesić und Darinka Pop-Mitić vor Augen, wie weitreichend der Gedanke einer den nationalen Rahmen sprengenden Solidarität in den 1970er-Jahren war, als sich die Idee des Gemeinsamen mühelos über Kontinente hinweg erstrecken konnte.
Die Kehrseite dieses Gemeinsamen rollt Damir Arsenijevićs eindrücklicher Beitrag über die schmerzhafte, gleichwohl notwendige Erinnerungspolitik in Bosnien und Herzegowina auf.
Nicht nur werden darin Schlüsselmomente dessen aufgezeigt, was der grausame Zerfallsprozess für ein Land wie BIH konkret bedeutete, sondern auch individuelle (in diesem Fall klassenspezifische)
Perspektiven geltend gemacht.
Gerade in der unerlässlichen Vermittlung solch individueller Perspektiven mit Ideen eines größeren, über das Nationale hinausgehenden Gemeinsamen liegt eine der größten Herausforderungen der Gegenwart. Eine, für die der Anlassfall „Post-Jugoslawien“ überaus aufschlussreich sein könnte.