Reden wir über den postjugoslawischen Raum oder die postjugoslawische Gesellschaft, so betreten wir eine Angstzone, die dieser geopolitische Raum mit seinen permanenten Kämpfen wachruft: zwischen nationalistischen Mythen und nostalgischer Vergangenheit, unmöglicher Vergangenheit und gegenwärtiger Krise, permanenter Hoffnung und dystopischer Zukunft. Jugoslawien stellt heute weniger ein geografisches als vielmehr ein politisches Subjekt dar, einen gesellschaftlichen Vorboten für mögliche Veränderungen hin zu einer einvernehmlichen Wahrnehmung und Einschätzung der Bedeutung einer – für gewöhnlich antagonistischen – Zugehörigkeitspolitik, die für die Schaffung eines gemeinsamen historischen Wissens ungeheuer wichtig ist. Die Unfähigkeit, dieses Wissen gemeinsam zu produzieren, ist ein Symptom des Kriegs, der in dieser Gegend noch immer geführt wird, wenn auch mit anderen Mitteln – seien diese administrativ, nationalistisch, wirtschaftlich oder politisch. In diesem gemeinsamen Prozess der Produktion historischen Wissens über den jugoslawischen bzw. postjugoslawischen Raum stellt sich zunächst die Frage, worüber wir eigentlich reden. Über einen einzelnen Krieg, der zugleich das Ende der utopischen Ära des Sozialismus, der Revolution und des antifaschistischen Staates der jugoslawischen Völker bedeutete? Oder über eine Folge mehrerer nationalistischer Kriege, die auf Basis des nationalistisch-dissidenten Widerstands nach dem Zweiten Weltkrieg und der bewaffneten Wende in den 1990er-Jahren ein hegemoniales System schufen, das Menschen aufgrund von Nationalität, Religion oder anderer Minderheitszuschreibungen vernichtete? Ein System, das im Hinblick auf postsozialistische Privatisierungen, die verbrecherische Anhäufung von Reichtum, staatliche Korruption und andere Plagen des Kriegszeit-Neoliberalismus seine Übermacht in puncto Waffen, Bevölkerung und Habgier schamlos ausnutzte?
Die Orte des Leids, der Zerstörung und des Terrors, die Orte der Kriegstraumata und des Völkermords der 1990er-Jahre sind die Schauplätze, an denen – was das revolutionäre Gebilde namens Jugoslawien anbelangt – nicht nur das politische Ansinnen im Hinblick auf die gemeinsame Vergangenheit, sondern auch die sozialistische Vorstellung von der gemeinsamen Zukunft verloren ging. Die Politik der Erinnerung und der pazifistische Versöhnungsdiskurs, die seit den 1990er-Jahren entstanden sind, haben die Notwendigkeit einer politischen Subjektivierung, die sich auf die revolutionäre Bestimmung Jugoslawiens stützt, und damit auch das Bedürfnis nach einer gemeinsamen Historisierung des Kriegs neutralisiert. Genau genommen war dies ein Krieg, in dem es nicht gelang, die nationalistische Auslegung der bevorstehenden Demokratisierung der Gesellschaft in die Schranken zu weisen – einer Demokratisierung auf Basis des globalen, postsozialistischen und atomisierenden Kapitalismus, der alle neu etablierten jugoslawischen Staaten – von denen jeder auf seinem eigenen Krieg gründet – zur balkanisierten Peripherie Europas macht.
Zahlreiche künstlerische Arbeiten verweisen auf die Unmöglichkeit, den Krieg und seine aus Revolutionsgeschichte, Völkermord und neoliberaler Gegenwart geformte Vergangenheit einheitlich wahrzunehmen. Eine davon ist die Gemeinschaftsarbeit von Lana Čmajčanin und Adela Jusić mit dem Titel I Will Never Talk about the War Again (2011). Darin versuchen sie, die lineare Wahrnehmung von historischer Gewalt und identitätsstiftender bzw. „identifizierender“ Stigmatisierung zu unterlaufen. Diese äußert sich in ausgesprochen brutalen, jedoch verdeckten Mechanismen zur Wahrung ethnisch-nationalistischer, militanter, klassenbasierter, patriarchaler, administrativer oder sonstiger Machtsysteme. Aus der jahrelangen Beschäftigung mit dem Krieg und seinen (un-)menschlichen Ausprägungen und Traumata ist eine performative Videoarbeit hervorgegangen, in der die Künstlerinnen sich selbst und alle anderen mit dem Ergebnis dieser Auseinandersetzung konfrontieren. Sie dokumentieren eine Abfolge unterschiedlicher Affekte, die in den Stimmen und auf den Gesichtern der Künstlerinnen offenbar werden, während diese unaufhörlich den titelgebenden Satz wiederholen. So werden auch die BetrachterInnen zahlreichen wechselnden Affekten ausgesetzt: von Wut bis hin zu Genugtuung, von lautstarker Zustimmung bis hin zu vollkommener Stille, vom Wunschdenken bis zum Realitätsprinzip, von der möglichen bis zur unmöglichen Artikulation des Kriegs. Und genau dieses erstarrte bzw. stumm geschaltete Bild der Unmöglichkeit, den Krieg zu artikulieren, wird zu einer Zerreißprobe: Es trennt und schafft zugleich etwas, das man teilen kann, nämlich die affektive Verwicklung und die „abjekte“1 Konfrontation mit dem Krieg, der – aufgrund dessen, was wir, einzeln oder kollektiv, sind oder nicht sind oder schlussendlich (nicht) zu sein akzeptieren – weiter wütet.
Die Kunst- und Theoriegruppe Grupa Spomenik (Denkmalgruppe) setzt sich in verschiedenen Diskussions-, Ausstellungs- und Performanceaktivitäten mit Erinnerungspolitik, Kriegsökonomie und Jugoslawistik auseinander. Ausgangspunkt ist dabei die Unmöglichkeit der Konstruktion und Benennung eines gemeinsamen Denkmals, das den jugoslawischen Kriegen der 1990er-Jahre gewidmet ist. Grupa Spomenik wurde 2002 von der Künstlerin Milica Tomić gegründet. An den Forensik-, Recherche-, Diskussions- und Ausstellungsprojekten der Gruppe nahmen unterschiedliche Gäste teil, die sich in irgendeiner Weise mit dem Krieg auseinandersetzten oder ihn auch einfach nur überlebt hatten. Die Beschäftigung mit Jugoslawistik und das forensische Projekt über den Völkermord von Srebrenica mit dem Titel Mathemes of Re-Association warfen die Frage auf: „Wofür steht der Krieg heute?“ Daraus entwickelte sich ein Übersetzungs- bzw. Kunstprojekt mit demselben Titel (Čega je danas ime rat?). Das als Plattform angelegte Projekt brachte von 2010 bis 2011 KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen, AktivistInnen, AkademikerInnen, Kulturschaffende und andere, die sich für die Arbeit von Grupa Spomenik interessierten, aus unterschiedlichsten Orten zusammen: Pristina, Ljubljana, Maastricht, Zagreb, Tuzla, Belgrad, Mostar, Berlin. Die Grundlage für diese kunsttheoretische Gemeinschaftsarbeit bildete die Übersetzung des Texts Qu’appelle-t-on une guerre? Enquête sur le nom de guerre aujourd’hui (2001) von Catherine Hass, und zwar nach der Methode des „unwissenden Lehrmeisters“, das heißt in Abwesenheit jeglicher Autorität über die Wissensproduktion und ohne dass die ÜbersetzerInnen die Ausgangssprache vorher beherrschten.2 Die Arbeit an der Übersetzung führte schließlich zu einer Diskussion über Kriege in den 1990er-Jahren und daran anschließend über den „permanenten Krieg“, der von der Regierung Bush im Jahr 2001 als Form der Terrorismusbekämpfung angezettelt wurde. Zeitgenössische Vorstellungen von Krieg, auf die in dem Text von Catherine Hass verwiesen wird, warfen viele Fragen auf und führten schließlich zur Schaffung eines Netzwerks grundlegender Begriffe, um jenseits aller bestehenden Narrative und mainstreampolitischen Ansätze zum Verständnis der Geschichte des Kriegs in der SFRJ3 beizutragen. Das auf Partizipation und kollektivem Denken basierende Projekt war darauf ausgelegt, ein sozial engagiertes und historisches Wissen über den Krieg zu produzieren, das auch im Hinblick auf die gegenwärtige politische Subjektivierung von Bedeutung ist. Am eigentlichen Schauplatz von Krieg, Verbrechen und Völkermord sollte so das politische Bewusstsein über Jugoslawien gefördert und die Möglichkeit eröffnet werden, sich jenen geopolitischen Raum, den wir Postjugoslawien nennen, aus einer gemeinsamen Perspektive vorzustellen. Andererseits wies das Projekt auch auf die Unmöglichkeit hin, innerhalb dieses geopolitischen Raums einen gemeinsamen Namen für den Krieg der 1990er-Jahre zu finden, nachdem die revolutionäre Ideologie, das heißt die auf die SFRJ begrenzte Gesellschaftsutopie, verloren gegangen war.
Das Unbehagen durchbrechen
Zahlreiche KünstlerInnen und Kunstschaffende, die sich mit den Themen Krieg, Übergang und Erinnerungspolitik auseinandersetzen, verbindet das Gefühl der Sorge. Diese macht es unmöglich, an einem Ort, der seine geopolitische Bestimmung verloren hat und erneut zum „Balkan“, zu „Südosteuropa“ oder sonst etwas wurde, gemeinsam über den Krieg nachzudenken. Einerseits spürt man in allen postjugoslawischen Staaten den inneren Druck der nationalistischen neoliberalen Politik, andererseits aber auch den äußeren Druck einer politischen Exotisierung und der neokolonialen Wahrnehmung der Kriege in dieser sogenannten Region. Dementsprechend bleiben alle, die sich innerhalb der zeitgenössischen Kunstszene mit diesen überlappenden Zuschreibungen befassen, weiterhin in dem postjugoslawischen Raum „gefangen“, selbst wenn sie versuchen, sich der gewalttätigen geopolitischen Kennzeichnung ihrer Identitäten zu widersetzen.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten der geopolitischen Differenzierung – alte, wie die kolonialen, kapitalistischen und patriarchalen Mechanismen der gesellschaftlichen und geografischen (Re-)Produktion, und neue, wie die technologischen, informatorischen, forensischen (wissenschaftlichen) und (techno-)kulturellen Methoden der sozialen und territorialen Identifikation. Sie alle sagen einiges aus über die Tatsache, dass unsere globalisierte Welt zu einem geopolitischen Raum geworden ist, zu dem der größte Teil der Menschheit nicht wirklich dazugehört. Umgekehrt ist es fast unmöglich geworden, irgendeine Art von geografischer Zugehörigkeit zu bestimmen, die außerhalb der globalen geopolitischen Landkarte liegen würde, wie sie aus dem Prozess der neoliberalen Machtverteilung hervorgegangen ist. Bezogen auf den postjugoslawischen Raum nach den 1990er-Jahren wird deutlich, dass die von dieser immer noch funktionierenden geopolitischen Zone hervorgerufene Angst durch die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Umstände weiter verstärkt wird: menschenunwürdige Migration, Klimawandel, globale Umweltverschmutzung, ein als Mittel der Selbsterhaltung in den Rissen des globalen Kapitalismus geschaffener permanenter Krieg. Sowohl im lokalen also auch im globalen Kontext wird deutlich, wie unmöglich und „erschöpft“4 die Geografien sind, mit denen wir es im 21. Jahrhundert zu tun haben. Viele Zurschaustellungen solcher erschöpfter Geografien in Kunstpraktiken, Theorien, Ausstellungen und Kritiken beziehen sich auf geopolitische Zonen des Unbehagens – wie sie auch die postjugoslawische Zone darstellt –, die sich nicht in eine Politik der globalen Dominanz und der (post-)humanen Ausbeutung für territoriale, nationale, ethnische, religiöse, wirtschaftliche oder andere Zwecke einspannen lassen. All das zusammen macht die Politik der heutigen Kunst aus. Doch die Frage der Erschöpfung steht weiterhin im Raum, nämlich als die Unmöglichkeit, ein Kunstsystem zu durchbrechen, das die neoliberalen und prekären Bedingungen seiner eigenen Produktion akzeptiert.
Die Untersuchung der politischen Geografien des postjugoslawischen Raums in und mittels der Kunst unserer Zeit bedeutet, sich in zeitlicher und räumlicher Hinsicht mit ihnen auseinanderzusetzen und sich die spezifische wie auch die allgemeine Bedeutung der (post-)sozialistischen Utopie und ihrer Ideologie noch einmal näher anzuschauen. Die nach wie vor ungezähmte geopolitische Zone zwischen dem Zentrum, das nie stärker war als jetzt (der ehemalige Westen), und der im Übergang befindlichen Peripherie (der ehemalige Osten) wurde anhand vermeintlich postideologischer Begriffe neu definiert: als Zentral-, Ost- oder Südosteuropa auf der einen und als Balkan auf der anderen Seite, wobei das, was diese Zone auf der Weltkarte tatsächlich darstellt, politisch nie eindeutig geklärt wurde. Was im Prozess der Rebalkanisierung offensichtlich wurde – wobei Balkan hier eher eine semiotische Hysterie andeutet als ein klares geopolitisches Konzept –, war ein tief verwurzeltes Bild vom Balkan als Europas „Bastard“, seinem dunklen Abgrund seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Prozess des gesellschaftlichen Rückschritts, von Jugoslawien zum Balkan, war gekennzeichnet von nationalistischer Kriegspolitik, einer Übergangsökonomie und politischer Amnesie. Darin zeigt sich, dass die geopolitische Konstruktion des Raums keinesfalls ein eindimensionaler homogener Prozess ist, der Raum und Zeit auf willkürliche Weise politisieren würde, sondern vielmehr auf eine (Re-)Produktion der verstörenden und antagonisierenden Identitäten der Schwachen, Ausgegrenzten, Anderen hinausläuft. Politische Exotisierung, soziale Ausgrenzung und die Schaffung von stereotypem kolonialisierendem Wissen über die Anderen (den Balkan) werfen daher ganz grundlegende politische und ideologische Fragen auf, denen sich die Geografie der Zugehörigkeit widmen muss – und das tut auch die Kunst auf ihrer Suche nach entkolonialisierten Freiräumen.
Bei dem Versuch, die Region innerhalb der posthistorischen und postideologischen Parameter der heutigen neoliberalen Gesellschaft näher zu bestimmen, offenbart sich die Problematik dieses geopolitischen Raums in mehreren Schichten von Vergangenheit, unsicheren Grenzen und bestimmten Vorstellungsmustern vom Balkan. In dem Projekt Blank Maps (2016–18) visualisiert Lana Čmajčanin dieses Thema anhand von 32 ausgewählten Landkarten der Grenzen Bosnien und Herzegowinas im Laufe der letzten 551 Jahre, also vom Römischen Reich bis zur Unterzeichnung des letzten Friedensvertrags, dem Dayton-Abkommen im Jahr 1995. Auch mit der Installation 551.35 Geometry of Time (2014) weicht die Künstlerin von den bisherigen Lesarten und Verinnerlichungen der geopolitischen Fakten ab. Čmajčanin kontrahiert, überlagert und verdichtet bestehende geografische, militärische, schulische und andere Landkarten und setzt dabei auf herkömmliche kartografische Methoden und Techniken der Gravur, Zeichnung oder Reproduktion. Auf diese Weise ermöglicht sie völlig neue Einsichten in die statisch objektivierte Geschichte dieses geopolitischen Raums. Sie stellt sowohl die Historisierung der bosnischen Grenze infrage als auch die systematische Fabrikation historischer und geopolitischer Wahrheiten. Die auf einem beleuchteten Hintergrund übereinandergelegten Karten bringen Grenzverschiebungen, Abweichungen und Instabilitäten zum Vorschein, die durch koloniale, imperiale, erobernde, migratorische, kriegerische wie auch „friedenserhaltende“ Umgestaltungen verursacht wurden. Die militärischen und politischen Einschreibungen von Staatlichkeit und Souveränität in die geografischen Landschaft wurden so zu den widerständigsten und statischsten Loci der faktografischen Geschichte, die trotz der sich ständig verändernden Machtpositionen, aus denen heraus die Landkarten gezeichnet werden, kaum je angezweifelt wird. Die monumental konzipierte und auf die Darstellung „objektiver“ Grenzen ausgerichtete Installation unterläuft die „Geometrie“ der Geschichte, denn sie ersetzt die erwarteten oder bekannten Grenzen durch ein Palimpsest immer wieder überschriebener und daher vergessener Wahrheiten. Das Palimpsest als Metapher, die von der Textebene auf die Bildebene transponiert wurde, stellt die Linearität historischer Zeit ebenso infrage wie die politischen und vor allem militärischen Strategien der geografischen Organisation. Auf diese Weise werden auch wiederkehrende Muster der Schaffung (dis-)kontinuierlicher Geschichte und die Zyklizität des Kriegs beleuchtet. Čmajčanin liefert uns nicht nur einen kritischen Einblick in die faktenschaffende und stagnierende Geschichte derer, die geopolitische Grenzen ziehen, sondern sie macht auch das Kommen und Gehen von Grenzlinien sichtbar. All diese Grenzen hinterlassen unklare Grauzonen sich überlappender, auflösender und neu konfigurierender Gebilde, was die Konstruktion von neuen und widerständigen künstlerischen Narrativen geradezu einfordert: jene eines unaufhörlichen Kampfs gegen die Kräfte, die uns objektivieren, kontrollieren und beschränken, während sie uns gleichzeitig in einer Position der politischen Unterdrückung und der sozialen Ausbeutung halten oder in einem andauernden Krisenzustand, dem permanenten Krieg.
Die Kunst des Widerstands gegen die aufgezwungene geopolitische Bestimmung sowie konstante Bestrebungen, diese mittels einer ideologisch-emanzipatorischen Politik zu überdenken, hinterfragen und subjektivieren, ist inzwischen selbst in einen gewissen Erschöpfungszustand eingetreten, nicht nur in der postjugoslawischen Zone, sondern auch darüber hinaus. Mit anderen Worten, die Unfähigkeit, den Teufelskreis der geopolitischen Neudefinition unserer aller Alltagsleben zu durchbrechen, hat zu einem Zustand des permanenten Konflikts in Bezug auf unterschiedliche Geografien geführt, mit all den Metaebenen, die diese Geografien aufgrund ihrer turbulenten Vergangenheit mit sich führen. Und im aktuellen postjugoslawischen Raum bedeutet diese Vergangenheit, wie die genannten Beispiele – allen voran Lana Čmajčanins Blank Maps – zeigen, immerfort Krieg. Die Einstellung der politisch engagierten postjugoslawischen Kunstszene zum Krieg ist nicht nur geprägt von Erinnerungspolitik, der Konfrontation mit dem Trauma und den Konsequenzen des gesellschaftlichen Verfalls, sondern auch vom Versuch, eine gemeinsame Wahrheit über den Krieg zu artikulieren, das heißt eine allgemeingültige Aussage über die politischer Subjektivierung der Gesellschaft zu formulieren.
Postjugoslawische Kunstpraktiken werden in dieser Hinsicht zum gemeinsamen Nenner dessen, was unweigerlich auf die soziale Utopie folgt, nämlich der Widerstand gegen die bestehende Politik, die mit ihrer Strategie, unablässig die Festlegung von mehr oder weniger bedeutsamen und vor allem im Konflikt stehenden Identitäten einzufordern, eine dystopische Welt in diese Geografie einschreibt. So ermöglichen diese Praktiken die Entstehung neuer Zonen für das revolutionäre Denken und das politische Bewusstsein einer befreiten zukünftigen Gesellschaft, zumindest innerhalb der gemeinsamen Meta- und Gegengeografien, in Gang gesetzt durch transgressive Stimmen, visuelle Einschreibungen, ästhetische Störimpulse und andere Formen künstlerischer Unternehmungen in- und außerhalb des postjugoslawischen Raums.
Übersetzt von Gaby Gehlen
[1] Der Begriff Abjektion hat eine komplexe Bedeutung, die immer noch nicht genau definiert ist. Julie Kristeva verwendet ihn für alles, was abstoßend, grenzwertig und für das Subjekt inakzeptabel, aber gleichzeitig auch konstituierend ist und somit emanzipatorisches Potenzial im politischen Sinne besitzt. Die performative Wiederholung von Abjektion führt zu einer Reihe von Affekten, die mehr darstellen als bloße Emotionen, da sie sowohl das Positive als auch das Negative zum Ausdruck bringen; beide sind im Konstitutionsprozess des Subjekts miteinander verbunden (vgl. Julia Kristeva, Powers of Horror: An Essay on Abjection. Übers. von Leon S. Roudiez. New York 1982).
[2] Diese Methode stammt von dem Psychoanalytiker Branimir Stojanović, einem Mitglied der Grupa Spomenik. Sie basiert auf den revolutionären Erkenntnissen des französischen Pädagogen Jean Joseph Jacotot und setzt auf die radikale Abwesenheit von Lehrkräften im Lernprozess.
[3] Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien, abgekürzt SFRJ.
[4] Der Begriff exhausted geographies wurde von Irit Rogoff als ein Konzept definiert, das durch politische, wirtschaftliche, kriegerische, klimatische und andere Krisen bestimmt ist und sich mit der (un-)möglichen Politik von Identität und Zugehörigkeit unserer Zeit beschäftigt. Ihrer Ansicht nach sind erschöpfte Geografien „materielle Manifestationen von nicht mehr haltbaren Territorialitäten und Territorialansprüchen“. Vgl. Irit Rogoff, Exhausted Geographies (Vortrag), Crossing Boundaries Symposium, INIVA, London, 2010; https://www.youtube.com/watch?v=PJOP9l0_nbI.