Budapest. In der Kunstgeschichte Zentral- und Osteuropas werden in letzter Zeit verstärkt Methodenprobleme diskutiert, was letztlich sogar zu einer Neubestimmung des Felds beitragen könnte. Seit dem Tod von Piotr Piotrowski, der zentralen Figur bei der theoretischen Positionierung unserer Region, ist vielleicht die Zeit gekommen, einige der heute klassischen Ideen zu überdenken, die gemeinhin mit seinem Namen in Zusammenhang gebracht werden. Dabei denke ich an die „horizontale Kunstgeschichte“ oder das Problem der lokalen gegenüber der globalen Bekanntheit.
Der neue methodologische Trend, der auch im ungarischen Kontext typisch ist, verschiebt den kuratorischen Fokus weg von der Neoavantgarde und hin zu einer Interpretation der unterschiedlichen Perioden sozialistischer Kultur. Der viel diskutierte gegenkulturelle Charakter einiger Kunstpraxen in der Region, der indes oft auf persönlichen und kunsthistorischen Mythen oder der Projektion auf internationale Diskurse beruht, gehört ja auch in das kulturelle Feld, in dem er entstand – wenn auch als dessen Kritik. Wenn wir den Blick aber auf die Kontaktpunkte, die „Grauzonen“, oder die rhetorischen Parallelen von offiziellem Modernismus und Avantgarde lenken, erlangen wir vielleicht ein nuancenreicheres Verständnis der komplizierten Beziehung, die die Kunst mit der Politik verband.
1971 – Parallel Nonsynchronism, eine Gemeinschaftsschau von tranzit.hu und dem Kiscell Museum in Budapest, folgt dieser neuen Methodik. Ihre Relevanz erschöpft sich allerdings nicht in der kuratorischen Leistung, der Qualität und der Quantität von bislang ungezeigten Werken oder der kritischen Reflexion der Materie. Von den zahlreichen Aspekten der Ausstellung ist wohl der institutionsgeschichtliche derzeit beispiellos. Als mikrohistorischer Vorläufer einer Reihe von Ausstellungen, die der Entwicklung der Sammlung, der kuratorischen Rolle und den aktuellen Chancen des Historischen Museums Budapests (der Mutterinstitution des Kiscell Museums) galten, darf diesbezüglich Ferenc Grófs Ausstellung 2016 im selben Haus gelten. Parallel Nonsynchronism wiederum stellt das Schlüsseljahr 1971 in den Mittelpunkt, in dem gleich mehrere repräsentative Ausstellungen in diesem Museum stattfanden, was Ausdruck einer Modernisierungswelle in der Kulturpolitik des kommunistischen Ungarns war. Hauptmotiv dieser Ausstellungen war die bejubelte Rückkehr der Arbeiten von Gyula Hincz und József Somogyi, die mit ihnen das Land 1970 auf der Biennale in Venedig vertreten hatten, sowie die Vorausschau auf Endre Domanovszkys Debüt in Venedig im kommenden Jahr. Die Ausstellung staatsgeförderter KünstlerInnen war Teil ebenjener Modernisierung, die in den späteren Sechzigerjahren einer älteren Generation, aber auch einigen Jüngeren Zugang zu generöseren Mitteln aus der öffentlichen Hand gewährte.
Die Ausstellung handelt indessen von einem längeren Zeitraum um 1971 herum. Nachdem sich die Wirtschaftsreform als undurchführbar herausgestellt hatte, war die ungarische Politik die gesamte Zeit bis 1989 von einem Wechselspiel zwischen reformistischen und konservativen Kräften bestimmt. Das Jahr 1971 markiert insofern den Übergang in eine Zeit wechselnder politischer Öffnungen und Verschärfungen. Von nun an spaltete sich auch die Kunstszene Ungarns in zwei Lager, die sich durch ihre jeweilige Haltung zur Staatsmacht definierten. Abseits des offiziellen Kanons entstanden zwei Parallelwelten, nämlich jene der ModernistInnen, die sich zwar am Westen orientierten, aber die lokale Tradition als wichtigsten Bezugspunkt beibehielten, und jene der AvantgardistInnen, die der kulturellen Orthodoxie des Westens folgten. Diese historische Tatsache bringt uns umgehend in die Gegenwart, denn sie ist zugleich der wichtigste Themenstrang der Ausstellung. Wie sollen wir umgehen mit historischen Bezügen, wenn diese durch ideologische Staatsintervention so drastisch verzerrt wurden? Wie sollen wir eine Politik bewerten, die mit Staatsgeld die Kunst manipulierte, Kompromisse erzwang und bei allen sozialen Errungenschaften und Modernisierungsintentionen kein pluralistisches Denken zuließ? Und was lernen wir daraus im Hinblick auf unsere heutigen Rücksichten und Kompromisse?
Die Ausstellung beantwortet diese Fragen nicht direkt, sondern stellt „bloß“ Rollen und Standpunkte gegenüber, die je nach kulturpolitischer Laune hin und her wogten (man denke nur an Konjunkturschwankungen der Kunst Béla Kondors) und sich dabei bisweilen erstaunlich annäherten. Modern und aktuell zu sein war allen KünstlerInnen zur Zeit des Kalten Kriegs äußerst wichtig, immerhin waren sie schließlich von den technisch-wissenschaftlichen Perspektiven beeinflusst. Das Dogma des Sozialistischen Realismus wurde, wenn auch innerhalb der eigenen paradigmatischen Grenzen, für künstlerische Experimente geöffnet. Eine Schlussfolgerung von 1971 – Parallel Nonsynchronism ist demgemäß, dass die Grenzen zwischen ModernistInnen und AvantgardistInnen zunehmend unschärfer wurden, oder, um Worte von damals zu verwenden, dass sich die „Geförderten“ und die „Tolerierten“ annäherten, während der Graben zu den „Verbotenen“ sogar breiter wurde. Die Ausstellung steckt diese Kategorien ab, indem sie jene Werke, die besser zu den Repräsentationsstrategien des Staats passten, in den Tempelraum gruppiert und unter dem heutigen Blickwinkel beleuchtet. So wirkt beispielsweise Tamás Kaszás’ Installation vor der Folie von El Lissitzkys 1927 in Hannover realisiertem Abstrakten Kabinett als Pointe auf das Thema Fortschritt in der linken Politik des 20. Jahrhunderts. Dadurch, dass das Dezső Korniss’ Space Grid für die Schau realisiert wurde, erkennt man erst, dass sich der zweite Ausstellungsbeitrag von Kaszás auf László Bekes Projekt Imagination/Idea aus 1971 bezieht. Eben erst als Kunsthistoriker diplomiert, bat Beke 28 KünstlerInnen, sein Statement „das Kunstwerk ist eine Dokumentation seiner Idee“ zu kommentieren. Imagination wird füglich heute gemeinhin als erstes Konzeptkunstwerk Ungarns betrachtet. Es sollte im Jahr darauf von der Kunsthistorikerin Márta Kovalovszky in einem Museumskontext fortgesetzt werden, wozu allerdings die Behörden ihre Erlaubnis verweigerten. Es ist hier also das erste Mal, dass Materialien beider Werke gemeinsam ausgestellt werden.
Die Abteilung im Obergeschoss bettet das Jahr 1971 in den größeren Zeitrahmen von 1968 bis 1973 ein. Dabei wird auf die Unterscheidung zwischen „offizieller“ und „inoffizieller“ Kultur gänzlich verzichtet. Chronologisch angeordnet demonstrieren die ausgestellten Werke (vorwiegend aus der Sammlung des Museums) die Wechselfälle der Kulturpolitik, wodurch scheinbar so verschiedene KünstlerInnen wie Endre Bálint und Lili Ország, Ignác Kokas und Aurél Bernáth, László Lakner und Ilona Keserü Seite an Seite mit den „radikalen“ und „verbotenen“ Leuten zu betrachten sind, deren ablehnende Haltung indes vom selben System erzeugt wurde, das ihre Kunst verbot und sie aus der Kunstszene verbannte. Die Geschichte des Kapellenateliers in Balatonboglár, die auch in der Ausstellung zur Sprache kommt, macht nicht nur die Trennlinien innerhalb der „inoffiziellen“ Szene deutlich, sondern auch die verzweifelte Lage der KünstlerInnen auf der schwarzen Liste, die alles taten, um sich mit ein wenig Kooperation ein bisschen Freiheit zu erkaufen. Ohne Erfolg, versteht sich.
Erst an diesem Punkt wird das Ausstellungskonzept, das auf dem Prinzip der Horizontalität beruht, problematisch. Wenn wir, wie hier, keinen Standpunkt einnehmen, riskieren wir dann nicht, in die alten unreflektierten Muster der Kunstgeschichte zurückzufallen? Sollte diese Methode gar unabsichtlich die ästhetischen Vorlieben und Narrative wiederholen, die, gestützt durch die traditionellen Medien und Museumskanons, ebendiese Kanons perpetuieren? Spielen wir damit nicht die Bedeutung jenes konzeptuellen Wandels herunter, der ein Resultat der Jahre war, die die Ausstellung behandelt, und demgemäß Kunst in erster Linie als Verhaltensform gesehen wird?
Die gute Nachricht ist jedenfalls, dass diese Fragen weiter diskutiert werden können und sollten, und dass die Ausstellung im Kiscell Museum aktiv dazu anregt.
Übersetzt von Thomas Raab