Moskau. Mit der für 2019 geplanten Eröffnung eines Museums in einem vom italienischen Architekten Renzo Piano adaptierten Kraftwerksbau wird die russische Stiftung V-A-C (Victoria – the art of being contemporary) zu einer der einflussreichsten privaten Kunstinstitutionen Moskaus avancieren. In den letzten Jahren war die Stiftung, die Oligarch Leonid Michelson zunächst für seine Tochter Victoria, eine Kunsthistorikerin, gegründet hat, primär im Ausland in Erscheinung getreten: In Venedig hatte sie ein eigenes Haus eröffnet, mit der Whitechapel Gallery und Tate Modern in London, mit M HKA in Antwerpen kooperiert und die Manifesta 11 in Zürich unterstützt.
In der russischen Hauptstadt bespielte die Stiftung zuletzt Räumlichkeiten des staatlichen Moskauer Museums für zeitgenössische Kunst (MMOMA), wo sie mit Generalprobe (Generalnaja repetizija) auch eines der wichtigsten Moskauer Ausstellungsprojekte des Jahres 2018 organisierte. Als Ausgangsmaterial dieser Schau dienten die Sammlungen des Gastgebers MMOMA, von V-A-C sowie der Pariser Stiftung KADIST: Das 16-köpfige Kuratorenteam wählte aus diesen sehr unterschiedlichen Sammlungen einige Hundert Werke aus, die im zweiten Stock des MMOMA-Stammhauses vergleichsweise konventionell in Themenblöcke geordnet und ästhetisch ansprechend als Quasi-Schausammlung präsentiert wurden.
Die zentrale Innovation von Generalprobe spielte sich ein Stockwerk tiefer ab: Das Theater wechselseitiger Operationen, ein Theater- und Kunstkollektiv um die Regisseurin Ksenija Peretruchina und die Künstlerin Schifra Kaschdan, der österreichische Philosoph Armen Avanessian sowie die russische Literatin Marija Stepanowa waren von den KuratorInnen eingeladen worden, sich Kunstwerke aus der „Schausammlung“ auszuborgen, um mit ihnen in der Logik eines Theaterstücks eigene Subausstellungen zu gestalten.
Das Theater wechselseitiger Operationen, das den Anfang machte, inszenierte etwa ihren „Akt“ als Anton Tschechows Die Möwe. Sie wiesen konkrete Kunstwerke ihrer „Regiearbeit“ sowie den konkreten Handlungsabschnitten des Tschechow-Dramas zu und organisierten einen Parcours in der Abfolge der historischen Vorlage. Zu Beginn werden etwa Reflexionen über SchauspielerInnen mit Juri Alberts Selbstporträt I am not Andy Warhol (1990), Wladislaw Mamyschew-Monroes Reenactments zur russischen Geschichte Märchen über eine verlorene Zeit (2001) und Cindy Shermans Rollenspiel in Untitled Film Stills № 25 (1978) illustriert. Den Monolog der Tschechow-Figur Boris Trigorin, der von der Verarbeitung exakter Beobachtungen zu literarischen Texten handelt, repräsentierten Peretruchina und Co. mit Phillipe Parrenos Rauminstallation mit schwebenden Ballons in Fischform My Room is Another Fish Board (2016) und Evariste Richers Würfel aus 8.000 kleinen Würfeln Cumulonimbus capillatus incus (2008).
Völlig andere Wege gingen die AutorInnen der zwei weiteren Teile: Philosoph Avanessian stellte in seinem „Akt“ Fragen zu grundsätzlichen philosophischen Kategorien, die er mit ausgewählten Kunstwerken beantwortete. Literatin Stepanowa reflektierte in ihrer Inszenierung indes über das Wesen des Kunstwerks und griff auch auf private Objekte zurück: In einem ihrer Ausstellungsräume ergänzte sie Gemälde von Timur Nowikow und Wiktor Piwowarow mit Sandalen sowie einem Abendkleid. Diese Gegenstände aus den 1990ern, die über keinerlei erkennbaren künstlerischen oder historischen Wert verfügten, schärften dabei den Blick auf die umgebenden Kunstwerke.
Ob und wie V-A-C die Erfahrungen aus der Generalprobe ab 2019 in den regulären Betrieb aufnehmen wird, ist unklar. Die leichtfüßigen Inszenierungen regten erfolgreich zu wiederholten Museumsbesuchen an, das Konzept, derart eine größere Aufmerksamkeit für eine ansonsten eher banale Sammlungsausstellung zu generieren, ging auf. Auch die von der Stiftung angestrebte gleichwertige Präsentation russischer und internationaler Kunst funktionierte.
Freilich hat die Relevanz des Ausstellungsprojekts insbesondere auch mit lokalen Entwicklungen zu tun. In Russland existieren einerseits kaum größere Sammlungen zeitgenössischer internationaler Kunst. Seit die staatliche Tretjakow-Galerie im Sommer 2018 einen Teil ihrer bisherigen Präsentation abbaute, gibt es andererseits nicht einmal mehr eine Dauerausstellung in Moskau, die einen repräsentativen Überblick über russische Kunst der letzten Jahrzehnte bieten würde. Zwar begründete die Tretjakow-Galerie ihre Maßnahme formal mit Platzgründen, der Schritt steht jedoch wohl in einem größeren Kontext: Contemporary Art gilt derzeit politisch als eher verpönt, staatliche Institutionen, die sich primär damit beschäftigen, sind einem zunehmenden Druck durch das Kulturministerium ausgesetzt. Das Staatliche Zentrum für Zeitgenössische Kunst (NCCA) wurde 2016 in seiner bisherigen Form zerschlagen, auch die Zukunft des von der Moskauer Stadtregierung subventionierten MMOMA in seiner Größe und mit seinen aktuellen Möglichkeiten ist realpolitisch gefährdet. Die aktuelle Kooperation der Stiftung des Kreml nahen Oligarchen, dessen Vermögen 2018 von Forbes auf 18 Milliarden Dollar geschätzt wurde, darf deshalb auch als eine kleine Solidaritätskundgebung interpretiert werden.
Programmatisch war aber auch der Verweis auf darstellende Kunst: Während es diesbezüglich in Moskaus Kunstinstitutionen vergleichsweise ruhig blieb, kam Widerstand gegen die kulturpolitische Reaktion vor allem aus der Theaterszene. Diese Haltung, aber auch der Erfolg von avancierten Bühnen beim Publikum inspirieren nunmehr auch die Kunstszene der russischen Hauptstadt.