Heft 1/2019 - Artscribe


Wendelien van Oldenborgh – Future Footnotes

24. Oktober 2018 bis 12. Januar 2019
Significant Other / Wien

Text: Aleksei Borisionok


Wien. Giorgio Agamben definiert den Begriff Dispositiv als Anordnung, die die Diskurse von Menschen zu brechen, zu steuern und vorherzubestimmen vermag1. Mit ihm könnte man die Ausstellung der in Rotterdam lebenden Künstlerin Wendelien van Oldenborgh als kleines filmisches Dispositiv verstehen, das seine eigene Anordnung gleich zu Beginn preisgibt. Oldenborgh friert mit ihrer Kunst aktuelle audiovisuelle Dispositive ein, indem sie nicht nur zeigt, wie diese innerhalb des sozialen Netzes funktionieren, sondern auch, dass filmische Produktionen und Darstellungsweisen immer mit Kapital, Architektur, ethnischer Herkunft und überhaupt Subjektivität verbunden sind.
Bereits mit Cinema Olanda, einem Auftragsprojekt für den holländischen Pavillon auf der Venedig Biennale 2017, legte Oldenborgh den Fokus auf das verworrene Leben der Bauhaus-Architektin Lotte Stam-Beese, die es in mehrere östliche und westliche Städte verschlug, um schließlich in Rotterdam zu landen, wo sie nach dem Zweiten Weltkrieg Chefarchitektin des städtischen Wohnbaus wurde. Ihre Arbeit sowie ihr privater Austausch mit dem Architekten Hannes Meyer ist nunmehr auch Thema von Oldenborghs Schau im Offspace Significant Other. Stam-Beeses Geschichte wird hier mit den Erlebnissen der karibischen Marxistin Hermina Huiswoud und dem schwarzen Autor Langston Hughes enggeführt, der ebenfalls die Sowjetunion bereist und in den 1930er-Jahren sogar dort gearbeitet hat.
Wie bei ihren früheren Projekten verknüpft Oldenborgh auch hier unbekanntere Personen aus der Geschichte mit aktuellen Debatten und parallelisiert damit ältere antikapitalistische und antikoloniale Kämpfe mit den entsprechenden Entwicklungen heute. Dieser Dialog wird begleitet von den Urbanistinnen Ievgeniia Gubkina und Hannah Dawn Henderson, die über postkommunistischen Städtebau, Reproduktionsarbeit und ethnische Konflikte in Charkiw bzw. Rotterdam diskutieren.
Die räumliche Gestaltung der Ausstellung erinnert an die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, zum Beispiel an Friedrich Kieslers oder Lina Bo Bardis experimentelle Bühnenbauten, aber auch an frühe Agitationspulte in der UdSSR. Die rechtwinkelige Holzkonstruktion trägt drei Mehrfachbilder, die als Lentikulardrucke wie Kippbilder wirken. Jeder Druck besteht aus drei Bildern, die ineinander übergehen und erst dann fix erscheinen, wenn die BetrachterInnen den Standpunkt oder Blickwinkel nicht mehr verändert. Es gibt also keinen wirklichen Film, sondern nur Standbilder, die vom Publikum aktiv bewegt werden. Die Präsentation ist damit nicht nur, wie ihr Titel deutlich macht, eine zukünftige Fußnote für die 2019 geplante Ausstellung Bauhaus Imaginista im Haus der Kulturen der Welt Berlin, sondern auch Material für einen noch unfertigen Film. Dennoch funktioniert sie mit ihren zahlreichen Minibezügen auf den eigenen Mikrokosmos, in dem die ProtagonistInnen in Dialog treten, auch als singuläre Installation. Jedes der drei Mehrfachbilder wird nämlich von Untertiteln begleitet, die mehrere, auf Briefwechseln, Tagebüchern und Tonaufnahmen von Gesprächen beruhende Geschichten erzählen. Wie im Kino sind also auch hier nicht nur die Schnitte, sondern auch die Untertitel asynchron. Die präfigurierte Narration wird verformt und verschiebt die Wahrnehmung unmittelbar in den Körper der BetrachterInnen. Je nachdem, wo man steht, sieht man andere Untertitel und liest den Film daher anders, nicht am Stück.
Im Vergleich zum Cinema Olanda, das mit denselben ProtagonistInnen operiert, tendiert die Ausstellung allerdings gen Osten. Die Lentikulardrucke sind Standbilder aus dem Distrikt KhTZ, einem sozialistischen Experiment im ostukrainischen Charkiw, das Stam-Beese in den frühen 1930er-Jahren geplant hatte und in dem Gubkina nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufwuchs. Ihre politische Haltung hatte Stam-Beese einst auf das Konzept der Sozgorod oder sozialistischen Stadt gebracht, die hier als proletarisches Viertel für etwa 100.000 Menschen angelegt wurde und in der alle Alltagsroutinen in Kindergärten, Kantinen und Kulturhäusern zentralisiert waren. Das Viertel wurde ausgerechnet in den frühen Dreißigerjahren errichtet, die in der Sowjetunion sehr dramatisch verliefen, weil die fortschrittlichen Impulse schwächer wurden, Stalins Repressionen bereits ihre Schatten vorauswarfen und in der kommunistischen Ukraine eine Hungernot ausbrach. Gleichzeitig blieb Moskau aber ein beliebtes Reiseziel für KommunistInnen und linke Intellektuelle aus der ganzen Welt. Unterstützung und Enthusiasmus gingen daher oft Hand in Hand mit Selbstzensur, Wirrnis und Systemkritik. Der Nexus von Architektur und Lebenswelt, zwischen Reproduktionspolitik und ethnischer Herkunft sowie seine historischen Folgen kommen dementsprechend auch zwischen Gubkina und Henderson zur Sprache, die sich über den sowjetischen Kommunismus und die Stadtentwicklung in Holland nach dem Krieg austauschen. Ihre Diskussion beweist, dass das Postkoloniale und das Postsowjetische gewisse Fragen teilen, aber auch trennen.
Für Oldenborgh ist Film ein produktiver Ort – eine Möglichkeit, Verbindungen zwischen geschichtlichen, architektonischen und zivilgesellschaftlichen Themen herzustellen. Ihre fragile Anordnung von Bildern und Untertiteln bildet die Bühne für einen vielstimmigen Chor aus Gegenwart und Zukunft. Oldenborghs Kunst unterläuft damit die „Meistererzählung“ der filmischen Form. Ihr „Film“ ist in Bewegung und bleibt eine Fußnote für einen Film, der erst im Entstehen ist.

Der Text entstand im Rahmen des vom Verein K organisierten Residency-Programms für internationale KunstkritikerInnen "Visiting Critics Vienna 2018"

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] Giorgio Agamben, Was ist ein Dispositiv. Zürich 2008.