Heft 1/2019 - Netzteil


Wenn die Sardinenbüchse den Blick erwidert

Über nicht menschliche Subjektivität und Handlungsfähigkeit

Rahma Khazam


„Alles in allem wird der kreative Akt nicht vom Künstler allein vollzogen“, bemerkte Marcel Duchamp 1957 auf einer Tagung in Texas. Er stellte damit die moderne Vorstellung von einer auf dem Mythos des künstlerischen Genies1 basierenden Kunst infrage und würdigte stattdessen die Schlüsselrolle der BetrachterInnen. Diese ist heute umso deutlicher zu erkennen: Die zeitgenössische Kunst funktioniert nach der Prämisse, dass in Ausstellungen präsentierte Kunstgegenstände aus der Perspektive der BetrachterInnen zu interpretieren sind – das geht oft so weit, dass Letzteren der Vorrang vor allem anderen eingeräumt wird. Wie Suhail Malik schreibt: „Die Kunstwerke und die diskursive Produktion der zeitgenössischen Kunst – Objekte, Ereignisse, Performances, Bilder, Pressetexte, Reviews, Zeitschriftenartikel, Auktionskataloge – festigen und formen einen Korrelationismus, der dem Publikum vorgibt, wie Kunst verstanden werden soll. Zeitgenössische Kunst fordert ihren Adressaten auf, sie mit seinen eigenen Begriffen zu bestimmen – miteingeschlossen die Uneinigkeit von Betrachtern, was den größten ‚demokratischen‘ Erfolg darstellt; Künstler haben ein ‚Interesse‘ an diesem oder jenem; das Kunstwerk oder die Ausstellung ‚untersucht‘, ‚spielt mit‘ oder ‚zeigt eine Sensibilität für‘ das oder das Thema. Die Beschreibung darf nicht eindeutig oder klar sein, würde das doch dem Betrachter die Möglichkeit nehmen, einen eigenen Zugang zur Kunst zu entwickeln.“2
In diesem Essay möchte ich der Frage nachgehen, inwiefern man sich die Kunst als etwas vorstellen kann, das nicht menschliches Handeln bzw. die menschliche Subjektivität reflektiert, sondern uns einen medialen Zugang zu nicht menschlichen Subjektivitäten gewährt. Allgemeiner gesagt möchte ich mich damit befassen, wie KünstlerInnen, PhilosophInnen und TheoretikerInnen sich zunehmend der Frage der nicht anthropozentrischen Erfassung und Definition von Handlungsfähigkeit, Empfindungsfähigkeit und Subjektivität widmen, indem sie diese Begriffe auf Objekte, Pflanzen, Tiere oder Maschinen anwenden.
Werfen wir zunächst einen Blick auf das Werk des Philosophen Quentin Meillassoux. Meillassoux stellt etwas infrage, das er – so wie Malik in der zuvor zitierten Passage – als Korrelationismus bezeichnet. Diesen definiert er als „die Vorstellung, dass wir immer nur Zugang zu der Korrelation zwischen Denken und Sein haben, aber nie zu nur einem dieser Begriffe, wenn er ohne den anderen betrachtet wird“3 – oder anders gesagt die Annahme, dass wir nichts wissen können, das über unsere Beziehung zur Welt hinausgeht. Meillassoux verweist in diesem Zusammenhang auf „Anzestralität“ und meint damit jegliche Realität, die der Entstehung der menschlichen Spezies vorangegangen ist. Er fragt sich, wie Aussagen über diese von der Wissenschaft weiterausgearbeitete Anzestralität von KorrelationistInnen erklärt werden können.4 Auf Meillassoux’ Argumentation stützt sich auch Steven Shaviro bei seiner Untersuchung der Idee des nicht korrelationalen Denkens, eines nicht phänomenologischen Denkens bzw. Empfindens, das nicht intentional und nicht kognitiv ist und nichts „erkennt“, wodurch das „menschliche Element“ im Denken eliminiert wird.5
Der objektorientierte Ontologe Graham Harman dagegen behauptet, es gäbe nur Objekte, und Menschen seien lediglich eine von vielen Objektarten. Seiner Ansicht nach können wir die Welt nur verstehen, wenn wir neben Mensch-zu-Mensch- und Mensch-zu-Objekt-Beziehungen auch Objekt-zu-Objekt-Interaktionen in den Blick nehmen. In seinem Buch Alien Phenomenology, or What It‘s Like to Be a Thing geht Ian Bogost näher auf diese Ideen ein und bemerkt, dass wir beispielsweise über Fledermäuse nur mittels subjektiver und anthropomorpher Analogien und Metaphern sprechen können.6 Anders gesagt: Wir können verstehen, wie von Fledermäusen gesendete und empfangene Hochfrequenztöne wirken; aber deshalb verstehen wir noch lange nicht, was es bedeutet, eine Fledermaus zu sein. Bogost fragt außerdem, wie sich Objekt-Objekt-Beziehungen verstehen lassen, zum Beispiel die zwischen einer Fledermaus und einem Ast, und behauptet, dass wir dabei die mit der menschlichen Wahrnehmung einhergehende Verzerrung nicht ausblenden können. Dies sind nur einige von vielen Möglichkeiten, wie innerhalb des spekulativen Realismus versucht wird, Zugang zum Nichtmenschlichen zu erlangen.
Auch der Neue Materialismus nimmt eine nicht anthropozentrische Haltung ein. Während die objektorientierte Ontologie behauptet, es gäbe nur Objekte und diese seien letztendlich unerkennbar, hinterfragt der Neue Materialismus die Hierarchie des Menschlichen über das Nichtmenschliche, indem er die Welt in Bezug auf Kontinuitäten zwischen Subjekt und Objekt in Augenschein nimmt. Nehmen wir zum Beispiel Karen Barad, Philosophin und Spezialistin für theoretische Teilchenphysik und Quantenfeldtheorie, die in ihrer Theorie des „Agentiellen Realismus“ den Kern der Unterscheidung zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem hinterfragt, indem sie die Verflechtungen zwischen sozialer und natürlicher Handlungsfähigkeit hervorhebt. Barad schreibt: „Man beachte, dass ‚individuelle‘ Handlungsfähigkeit lediglich im relationalen Sinn individuell ist, nicht aber im absoluten, d. h. Handlungsfähigkeiten sind nur in Bezug auf ihre gegenseitige Verflechtung individuell; sie existieren nicht als individuelle Elemente.“7
TheoretikerInnen anderer Disziplinen sehen dies ähnlich. Auch der Anthropologe Tim Ingold teilt Barads Ansicht in Bezug auf die Handlungsfähigkeit, wenn er schreibt, dass die Form den Dingen nicht wie inerten Trägermaterialien von außen auferlegt, sondern innerhalb der Materialströme kontinuierlich erzeugt und wieder aufgelöst wird, und zwar an der Schnittstelle von Materie und den sie umgebenden Medien. Seiner Ansicht nach sind Dinge nicht aktiv, weil sie von Handlungsfähigkeit „erfüllt“ sind, sondern aufgrund der Art ihrer jeweiligen Verflechtung mit den Strömen der Lebenswelt. Demnach sind auch die Eigenschaften von Materialien keine festgelegten Attribute von Materie, sondern prozesshaft und relational.8 Laut Ingold hilft „Machen“ uns dabei, Materie zu begreifen. „Machen“ nicht im Sinne der Umsetzung eines vordefinierten Projekts oder der Übertragung von Ideen auf Objekte, sondern indem wir uns um das Wachstum und die Entwicklung des Potenzials von Materie kümmern und teilhaben an laufenden Prozessen9 – mit anderen Worten, indem wir zu diesen Prozessen beitragen und eine Beziehung zu ihnen herstellen, aber nicht nach unseren Regeln, sondern nach ihren.
Während Ingold die Dinge quasi aus dem „spektatorischen“ Rahmen befreit, indem er uns nach ihren Regeln spielen lässt, haben andere TheoretikerInnen ähnliche Gedanken in Bezug auf die Tierwelt entwickelt. Nehmen wir beispielsweise den Schweizer Zoologen Adolf Portmann (1897–1982), der in den 1940er-Jahren die Idee propagierte, tierisches Leben sei nicht nur vom Überlebenstrieb bestimmt, sondern auch vom Bedürfnis, seine Besonderheit visuell zu manifestieren. Dementsprechend sind die Farbmotive gewisser Tiere so etwas wie Sichtbarkeitsorgane, vergleichbar mit den Verdauungsorganen. Gleichwohl impliziert ein bestimmtes Erscheinungsbild nicht immer auch ein Subjekt, das in der Lage ist, dieses wahrzunehmen – bestimmte Lebewesen, etwa Seesterne oder Schwämme, besitzen keinen Wahrnehmungsapparat, zeichnen sich aber dennoch durch außergewöhnliche Formen und Farben aus.10 Damit unterstreicht Portmann die Bedeutung bestimmter Erscheinungsbilder oder rein visueller Erscheinungen, die selbst dann wichtig sind, wenn keine Möglichkeit der Wechselseitigkeit besteht, aufgrund derer die Polarität von Sehendem und Gesehenem hinterfragt werden könnte.11 Diese „unthematisierten“ tierischen Erscheinungsbilder, die auch ohne RezipientInnen existieren können, zählen ebenfalls zu den nicht spektatorischen Ansätzen, die hier untersucht werden.
Auch KünstlerInnen definieren nicht menschliche Subjektivität neu, indem sie die Empfindungsfähigkeit von Steinen, Metall, Pflanzen oder Maschinen erforschen. So ruft Verena Walzls Installation Dialectic Libido (2015), eine von einem gesprochenen Text begleitete Diashow über antike Ruinen, spekulativ-realistische Gedanken wach: „Wie fühlt es sich an, ein Stein zu sein ... nichts ist befremdlicher als diese Menschen, die uns zu interpretieren suchen. Wir waren lange vor ihnen da und werden lange nach ihnen da sein ... Über das Ding an sich Bescheid zu wissen, mag erstrebenswert sein, ist aber nicht zu schaffen.“ Die von dieser Arbeit heraufbeschworene Welt ist dem Menschen gegenüber gleichgültig, entwickelt ihr eigenes Tempo bzw. ihren Rhythmus und ist geprägt von „unthematisierten“ Erscheinungen, die ohne das Bedürfnis nach Sichtbarkeit existieren.
Indessen setzt Raphael Hefti in Underlay Push Sticks (Arbeitstitel) (2016) eine Reihe massiver Stahlstangen über fünf Jahre lang den täglichen Temperaturschwankungen eines Industrieofens zur Härtung von Metallen aus. Dieser kontinuierliche Temperaturwechsel von 20°C auf 1.200°C und zurück beschleunigt den Alterungsprozess und simuliert somit eine Zeitspanne von circa 1.000 Jahren unter normalen Außenwetterbedingungen. Die Arbeit verleiht der Art von nicht menschlichen Zeiträumen Ausdruck, die Meillassoux in seine Vorstellungen von Anzestralität einschließt: Sie macht diese Zeiträume erfahrbar und begreifbarer für unser menschliches Vorstellungsvermögen.
In Jean-Luc Bichauds Carcasses (2017) wurden den Beinen des Lehnstuhls von Ludwig XV. grüne Zweige aufgepfropft. Hier demonstriert die erzwungene Verbindung von lebendigem und totem Holz, von einem funktionalen und einem nicht funktionalen Objekt, von einem menschengemachten und einem natürlichen Objekt, dass Objekt-Objekt-Interaktionen auf mehreren Ebenen stattfinden können, und zwar auch ohne die Anwesenheit des Menschen.
Ein letztes, hier erwähntes Beispiel betrifft das Aufkommen digitaler Bilder, die, wie Trevor Paglen betont, der Maschinenlesbarkeit eine höhere Priorität einräumen: So benötigt ein mit dem Handy aufgenommenes Foto beispielsweise eine weitere Anwendung, um für das menschliche Auge sichtbar zu werden.12 Diese Bilder kehren die Beziehung zwischen Sehendem und Gesehenem um, denn die entscheidende Frage scheint hier nicht mehr, ob wir in die Kameras blicken, sondern ob die Kameras uns anblicken. Eine Umkehrung, die uns Jacques Lacan ins Gedächtnis gerufen hat, der mit Verweis auf eine im Meer schwimmende Sardinenbüchse behauptete, nicht er beherrsche sie, sondern sie ergreife und umwerbe ihn.
Derweil werden die vom maschinellen Blick der von Überwachungskameras und dergleichen produzierten Bilder für gewöhnlich von uns weder gesehen noch erfasst, erfordern aber dennoch eine neue Sichtweise, um das von ihnen dargestellte Paradigma zu verstehen. Wie Paglen schreibt: „Wenn wir die unsichtbare Welt der zwischenmaschinellen Sehkultur verstehen wollen, müssen wir verlernen, wie Menschen zu sehen. Wir müssen lernen, wie man ein aus Aktivierungen, Keypoints, Eigenfaces, Feature-Transformation, Klassifikatoren, Trainingssets und Ähnlichem bestehendes Paralleluniversum sieht. Doch das ist nicht so einfach wie die Aneignung eines anderen Sprachschatzes. Formale Konzepte beinhalten erkenntnistheoretische Annahmen, die wiederum ethische Konsequenzen mit sich bringen. Die von uns für die Analyse der visuellen Kultur verwendeten theoretischen Konzepte sind zutiefst missverständlich, wenn man sie auf Maschinen anwendet, und führen zu Verzerrungen, massiven blinden Flecken und wilden Fehlinterpretationen.“13
Unsere Schwierigkeiten beim Zugang zu nicht menschlicher Subjektivität könnten sehr wohl darin begründet sein, dass Menschen immer noch nicht in der Lage sind, neue theoretische Konzepte zu formulieren, die nicht menschlichen Entitäten den Platz einräumen, der ihnen gebührt. Allein über die Definition nicht menschlicher Handlungs- und Empfindungsfähigkeit zu reden, ist ein typisch menschliches, anthropozentrisches Unterfangen, ist es laut Tim Ingold doch fraglich, ob Handlungsfähigkeit, wie wir sie kennen, überhaupt existiert. Wir beginnen gerade erst, Antworten auf diese Fragen zu formulieren, und haben noch einen langen Weg vor uns.

Eine erste Version dieses Essays wurde bei der vom Art Laboratory Berlin organisierten interdisziplinären Konferenz Nonhuman Agents in Art, Culture and Theory vorgestellt (24. bis 26. November 2017, Berlin).

 

Übersetzt von Gaby Gehlen

 

[1] Julian Jason Haladyn, On „The Creative Act“, toutfait.com, April 2015; http://www.toutfait.com/on-the-creative-act/.
[2] Suhail Malik, Reason to Destroy Contemporary Art, in C. Cox, J. Jaskey, S. Malik (Hg.), Realism Materialism Art. Berlin/New York 2015, S. 186 (deutsche Version: Warum die zeitgenössische Kunst zerstört werden muss – Theorien für das 21. Jahrhundert; https://www.spikeartmagazine.com/de/artikel/warum-die-zeitgenoessische-kunst-zerstoert-werden-muss).
[3] Quentin Meillassoux, After Finitude. Aus dem Französischen ins Englische übersetzt von Ray Brassier. London/New York 2008, S.
[4] Vgl. ebd., S. 10.
[5] Vgl. Steven Shaviro, Non-Correlational Thought, in: Realism Materialism Art, S. 197.
[6] Vgl. Ian Bogost, Alien Phenomenology, or What It’s Like to Be a Thing. Minneapolis 2012, S. 73–74.
[7] Karen Barad, Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham 2007, S. 33.
[8] Vgl. Tim Ingold, Materials against materiality, in: Archaeological Dialogues, 2007; http://home.zcu.cz/~dsosna/SASCI-papers/Ingold%202007-materiality.pdf.
[9] Vgl. Tim Ingold, Les matériaux de la vie, in: Multitudes, Winter 2016.
[10] Vgl. „Relire Adolf Portmann pour voir les animaux autrement“, in: The Conversation, Februar 2017; https://theconversation.com/relire-adolf-portmann-pour-voir-les-animaux-autrement-71251.
[11] Vgl. Véronique Fóti, Tracing Expression in Merleau-Ponty. Evanston 2013, S. 88.
[12] Vgl. Trevor Paglen, Invisible Images (Your Pictures Are Looking at You), in: The New Inquiry, Dezember 2016; https://thenewinquiry.com/invisible-images-your-pictures-are-looking-at-you/.
[13] Ebd.