Heft 2/2019 - Illiberal!


Den Backlash verstehen

Der Aufstieg der extremen Rechten – aus der Sicht der Social-Movement-Studies

Donatella Della Porta


In den Sozialwissenschaften wurde der Aufstieg der extremen Rechten traditionell mit sozialen und wirtschaftlichen Krisen und deren politischem Widerhall in Verbindung gebracht. Während das historische Aufkommen rechtsautoritärer Regime in Italien und Deutschland der Wirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg zugeschrieben wurde, wird die Entwicklung in der extremen Rechten seit den 1990er-Jahren häufig auf die sozialen und wirtschaftlichen Ungewissheiten im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung zurückgeführt. Vor dem Hintergrund von Arbeitslosigkeits- und Sicherheitsproblemen haben ausgrenzende Erzählungen, in denen MigrantInnen als Sündenböcke der extremen Rechten herhalten müssen, heute enorm an Anziehungskraft gewonnen. Doch wie hängen Krise und politische Bewegungen genau zusammen?
Der Verweis auf die Krise steht in der Tradition älterer Ansätze, nach denen unkonventionelles kollektives Handeln als Krisenverhalten gewertet wird. Psychologisch ausgerichtete Theorien haben kollektive Phänomene meist als Summe individueller Verhaltensweisen betrachtet. Sie definierten soziale Bewegungen als Manifestation individuell erlebter Gefühle der Entbehrung sowie der Aggression, die aus einem breiten Spektrum frustrierter Erwartungen resultiert. So wurde der Nationalsozialismus, aber auch der Neonazismus als aggressive Reaktion auf Frustrationen interpretiert, die auf ein schnelles, unerwartetes Ende von Zeiten wirtschaftlichen Wohlstands und weltweit gestiegenen Wohlstandserwartungen zurückzuführen ist. Die Forschung zur extremen Rechten folgte meist einem „Breakdown“-Ansatz, dem zufolge gesellschaftliche, politische und kulturelle Dysfunktionen und Pathologien kausale Voraussetzungen für das Wachstum der radikalen Rechten sind. Begünstigt worden sei das Aufkommen des politischen Extremismus durch die Schwächung der sozialen Bindungen (von der Familie bis zur Gemeinschaft) in einer Massengesellschaft. Während dieser Ansatz bei progressiven Bewegungen kaum Anwendung findet, schwingen in „Breakdown“-Theorien immer noch Interpretationen der extremen Rechten als nicht reflektierte Reaktionen auf soziale Krisen und gescheiterte Integration mit. Auf der Makroebene haben viele Studien in der Tat das Vorhandensein spezifischer Missstände aufgezeigt, insbesondere im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit oder der Anwesenheit von MigrantInnen, die durch allgemeine Modernisierungstendenzen oder mögliche Wirtschaftskrisen noch verstärkt werden. Auf individueller Ebene gelten soziale und wirtschaftliche Krisen als verantwortlich für psychopathologische Entwicklungen, welche eine Rekrutierung durch die extreme Rechte begünstigen. Diese Erklärungen tauchen in den verschiedenen Phasen der sozialwissenschaftlichen Forschung (neu adaptiert) immer wieder auf – konkret mit dem Aufstieg rechtsextremer Organisationen in den 1970er-Jahren und später in der sogenannten dritten Welle des Rechtsextremismus ab den 1990er-Jahren (vgl. von Beyme 1988; Husbands 2002).
Im Konzept der Krisenbewegungen spielt der Breakdown eine zentrale Rolle. In der betreffenden Literatur liegt der Fokus häufig auf Bewegungen in Zeiten des Wohlstands, insbesondere auf solchen, wie sie in fortgeschrittenen Demokratien mit ihren wachsenden Sozialleistungen sowie etablierten politischen Parteien und repräsentativen Institutionen entstehen. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass soziale Bewegungen mit den sich ihnen eröffnenden Möglichkeiten wachsen, doch bilden sie sich auch, um auf Bedrohungen zu reagieren, wenn auch mit anderen Merkmalen als jene, die in Zeiten der Prosperität entstehen. Harold Kerbo zufolge werden Krisenbewegungen ausgelöst durch Arbeitslosigkeit, Nahrungsmittelknappheit und soziale Umbrüche, wenn der Lebensalltag durch politische und soziale Krisen bedroht ist. Beteiligt sind, zumindest zu Anfang, hauptsächlich diejenigen, die von den geforderten Änderungen profitieren, die Proteste sind meist spontan und zuweilen mit Gewalt verbunden. Wohlstandsbewegungen hingegen finden sich in relativ guten Zeiten; sie entstehen hauptsächlich aus Überzeugungsgründen, sind besser organisiert und neigen weniger zu Gewalt (vgl. Kerbo 1982). Im Allgemeinen gelten Bewegungen des Wohlstands als stärker, größer, langlebiger, pragmatischer, optimistischer und häufiger erfolgreich, während die Bewegungen der Krise (und der Bedrohungen) meist schwächer, kleiner, kurzlebiger, radikaler, pessimistischer und eher erfolglos sind (vgl. della Porta 2013).
Das Rückwärtsgewandte der Krisenbewegungen wird im Konzept der Gegenbewegung nach Karl Polanyi hervorgehoben. In den zyklischen Schwankungen zwischen freiem Markt und sozialer Fürsorge entstehen als Reaktion auf das Drängen hin zum freien Markt spontan Gegenbewegungen, die eine moralische Ökonomie mit einem gewissen Maß an sozialer Sicherheit verteidigen (Polanyi 1957). Angesichts von Wirtschaftskrisen wie der großen Depressionszeit zwischen den beiden Weltkriegen drängten die Bewegungen auf eine Umkehrung des herrschenden wirtschaftlichen Paradigmas, vom Liberalismus hin zum interventionistischen Keynesianismus.
Soziale Härten sind zwar kein zentraler Aspekt des Studiums sozialer Bewegungen, gelten aber als wichtig, da „Proteste im Allgemeinen gegen etwas protestieren und wir ihre Bedeutung nicht verstehen, wenn wir nicht berücksichtigen, wogegen sie sich genau wenden“ (Crossley 2002, p. 188). Unabhängig von Studien über soziale Bewegungen im Norden wurde in Arbeiten zum globalen Süden besonders die Bedeutung wirtschaftlicher Belastungen als Auslöser von Protesten hervorgehoben. Es wird davon ausgegangen, dass außergewöhnliche soziale Verwerfungen benachteiligte Gruppen zum Handeln zwingen und jene, die Verlust verhindern wollen, Risiken in Kauf nehmen, um ihren Lebensunterhalt und ihren Lebensalltag zu verteidigen. David Snow und KollegInnen (1998) sprechen diesbezüglich von „quotidian disruption“, einer Störung des Alltags, und betonen die Bedeutung von Umbrüchen, die bisher als selbstverständlich angesehene Routinen stören oder gefährden. Wie Borland und Sutton (2007) anlässlich der argentinischen Krise Anfang der 2000er-Jahre feststellten, erhöhen die Störung der alltäglichen Existenzsicherung sowie die Gefährdung etablierter Erwartungshaltungen die Neigung zu kollektivem Handeln und kollektiver Identitätsbildung. Wird der Alltag beispielsweise durch den Verlust von Arbeit, Gesundheit, Unterkunft oder Ähnlichem gestört, werden „das Handeln gehemmt, die Routine behindert, und es entstehen Unsicherheiten“ (Snow et al. 1998, S. 5). Diese Situationen, die Zweifel an zuvor als selbstverständlich geltenden Prämissen aufkommen lassen, sorgen dafür, dass Einzelpersonen risikofreudiger werden und „stark motiviert [sind], kollektive Maßnahmen zu ergreifen, um den Alltag wiederherzustellen und das Verlorene wiederzugewinnen“ (ibid., p. 17).
Die große Rezession, welche die Welt 2008 erfasste, stellte einen kritischen Punkt dar und löste sozioökonomische, aber auch politische Veränderungen aus. Einige der politischen Entwicklungen während der Krise führten zur Infragestellung bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte und zu einer „großen Regression“ (vgl. Geiselberger 2017). Zunehmende soziale Ungleichheiten summierten sich vor dem Hintergrund zunehmender Unsicherheit und der daraus resultierenden Fremdenfeindlichkeit zu einem wachsenden Misstrauen gegenüber den etablierten Institutionen. Während die Wissenschaft darüber diskutiert, wie viel Ungleichheit die Demokratie aushalten kann, ohne zerstört zu werden (vgl. della Porta 2015), wird dem „Backlash“ auch durch Mobilisierungen für soziale Gerechtigkeit und „echte Demokratie“ Widerstand geleistet (vgl. Meyer/Tarrow 2018). Diesbezüglich hat man sich in jüngster Zeit verstärkt mit Protesten gegen Sparmaßnahmen – insbesondere, aber nicht ausschließlich in Südeuropa – als progressiven Krisenbewegungen beschäftigt (della Porta/Mattoni 2014; della Porta 2015). Diese sind unter den Bedingungen einer schweren Rezession, mit einem Zurückfahren des Sozialstaats und zunehmend delegitimierten repräsentativen Institutionen gewachsen. Anders als nach Kerbos Definition von Krisenbewegungen gelang es den linken Protesten gegen die Sparpolitik, weite Kreise der Bevölkerung anzusprechen, überwiegend friedlich zu bleiben und sogar Resonanz in der öffentlichen Meinung und einige politische Erfolge zu erzielen; trotz ihrer gelegentlichen Rückwärtsgewandtheit konnten sie sogar alternative Vorstellungen zur Stärkung der Demokratie entwickeln (vgl. della Porta 2013).
Einige der genannten Ursachen haben sich jedoch weder als notwendig noch als hinreichend für eine Erklärung des Backlashs erwiesen: So ist beispielsweise die extreme Rechte bei einer hohen Einwanderungsquote nicht immer stark, kann aber umgekehrt auch ohne Einwanderung enorm mächtig sein. Inwieweit eine Wirtschaftskrise und die damit verbundenen Missstände links oder rechts mobilisieren, bleibt somit offen (vgl. Hutter 2015; della Porta 2017). Die Auseinandersetzung mit den Bedingungen, unter denen ähnliche Härten Bewegungen auf der linken oder aber auf der rechten Seite hervorbringen, erfordert es daher, über die Beurteilung von Missständen hinaus in eine Analyse der sozialen und politischen Verankerung der beiden Fronten sowie ihrer organisatorischen Dynamik zu gehen.

Status, Konfliktlinien und Klasse

Ist eine Backlash-Politik reine Statuspolitik? Missstände sind häufig mit ganz unterschiedlichen strukturellen Bedingungen verbunden, wobei Schicht bzw. Klasse und Status als Grundlagen der Mobilisierung tendenziell interagieren. Soziale Schichten sind sowohl in der Arbeitsforschung (zu ArbeiterInnen, aber auch Angestellten) als auch in der Revolutionsforschung ausführlich analysiert worden. In jüngster Zeit hat sich diese in einer marxistischen Tradition stehende Forschung mit den politischen Folgen des Wandels in den Klassenstrukturen beschäftigt, einschließlich der Finanzialisierung des Kapitals, der Proletarisierung des Bürgertums und der Prekarisierung der Arbeit (vgl. della Porta 2017). Zusammenhänge zwischen der Klassenzugehörigkeit (als Stellung im Produktionssystem) und anderen soziografischen Merkmalen (biologisches und soziales Geschlecht, Generationszugehörigkeit, ethnischer Hintergrund, Bildung) müssen in Zeiten starker Regression hingegen noch systematischer untersucht werden.
Als eines der zentralen Kriterien hat die Forschung zur extremen Rechten die Sorge um den Statusverlust herausgearbeitet. Auf der Mikroebene wurden die soziografischen Merkmale der Mitglieder (WählerInnen, SympathisantInnen, AktivistInnen) rechtsextremer Gruppen erforscht. Anomie, soziale Desintegration, relative Deprivation, Statusverlust und ethnischer Wettbewerb wurden dabei als Hintergründe von Fremdenfeindlichkeit herausgearbeitet (vgl. Rydgren 2007). Ähnlich hatte bereits Lipset (1959) den Ku-Klux-Klan als ein Ergebnis des Widerstands gesellschaftlicher Gruppen in Zeiten zunehmenden Statusverlusts aufgrund von Modernisierung, aber auch von Statusunsicherheit, Statusdiskrepanz bzw. Statusinkonsistenz und relativer Deprivation betrachtet.
Wechselt man vom Fokus auf den Status zu konkreteren Konfliktlinien, so lässt sich die radikale Rechte als erfolgreiche Rebellion der GlobalisierungsverliererInnen ansehen. So haben Hanspeter Kriesi, Edgard Grande und ihre MitarbeiterInnen (2008; 2012) die Bildung einer Kluft zwischen den GewinnerInnen (denjenigen, die eine Exit-Option haben) und den VerliererInnen (denjenigen, die keine Exit-Option haben) hervorgehoben. Mit der Erosion geschützter Eigentumsrechte und einer zunehmenden kulturellen Vielfalt gesellt sich zu wirtschaftlichem und politischem Wettbewerb auch noch der kulturelle Wettbewerb. Was die Frage der Integration oder Abgrenzung betrifft, kommt es zu einer Überschneidung von kultureller und ökonomischer Dimension, wobei die VerliererInnen den globalen Wettbewerb eher ablehnen und die GewinnerInnen ihn meist unterstützen. Was diese Entwicklung allgemein befördert, ist die Befriedung traditioneller Konfliktlinien im Zusammenhang mit der Klassen- und Religionszugehörigkeit, ein hohes Maß an wirtschaftlicher Entwicklung, zunehmende Einwanderung und Schwankungen bei den Wählerstimmen. Die ursprünglich rechts mobilisierte Weltanschauung der VerliererInnen wird von einer kulturellen Abgrenzung dominiert, die häufig in einem ausgrenzenden Nationalismus zum Ausdruck kommt. Während der politische Rahmen zweidimensional bleibt, wird davon ausgegangen, dass die Bedeutung der dominanten Konfliktlinien sich wandelt, mit der Intensivierung von Konflikten um die Frage nach mehr Markt oder mehr Staat und der verstärkten Opposition gegen einen kosmopolitischen Liberalismus (vgl. Kriesi et al. 2008). Der Aufstieg der extremen Rechten seit den 1990er-Jahren wird als Reaktion der VerliererInnen auf die wirtschaftliche, insbesondere aber die kulturelle Globalisierung und den damit verbundenen Wettbewerb angesehen. Dabei fallen diese höchst unterschiedlich aus: „Der radikale linke Widerstand gegen die Öffnung der Grenzen ist vor allem ein Widerstand gegen die wirtschaftliche Liberalisierung und gegen die Bedrohung, die sie für die Errungenschaften der Linken auf nationaler Ebene darstellt. Der Widerstand der populistischen Rechten gegen die Öffnung der Grenzen ist in erster Linie ein Widerstand gegen die sozialen und kulturellen Formen des Wettbewerbs und der damit einhergehenden Gefahr für die nationale Identität“ (ibid., p. 18). Der Erfolg der extremen Rechten bei der „Mobilisierung der VerliererInnen“ gilt, zumindest in einigen Parteiensystemen, als verantwortlich für eine Verlagerung des Interesses von der wirtschaftlichen Dimension in den 1970er-Jahren zu der kulturellen Dimension von heute.
Laut dieser Analyse verläuft die neue Konfliktlinie zwischen den VerliererInnen und den GewinnerInnen der Globalisierung: „Zu den wahrscheinlichen GewinnerInnen der Globalisierung gehören UnternehmerInnen und qualifizierte MitarbeiterInnen in Sektoren, die für den internationalen Wettbewerb offen sind, sowie kosmopolitische BürgerInnen. VerliererInnen der Globalisierung sind dagegen UnternehmerInnen und qualifizierte MitarbeiterInnen in traditionell geschützten Sektoren, alle unqualifizierten MitarbeiterInnen und BürgerInnen, die sich stark mit ihrer nationalen Gemeinschaft identifizieren“ (ibid., p. 8). Die Analyse der Positionen von gut Ausgebildeten im Vergleich zu weniger Gebildeten und von soziokulturellen SpezialistInnen im Vergleich zu ManagerInnen oder zu ungelernten Arbeitskräften zeigt, dass Bildung toleranter und offener macht, weniger gebildete Personen hingegen eher dazu neigen, fremdenfeindliche kulturelle Positionen zu entwickeln, da kulturelle Nähe zu einem gemeinsamen Nenner für eine sozial fragmentierte Schicht wird (vgl. Kriesi et al. 2012).
Obwohl verschiedene Studien bestätigen, dass (einige) rechtsradikale Parteien verstärkt in der Arbeiterschaft Unterstützung finden, so scheint die Backlash-Politik insgesamt ein klassenübergreifendes Phänomen zu sein, das sich in unterschiedlichen Ländern jeweils anders auf die sozialen Schichten verteilt. So wurden in Lateinamerika oder Südeuropa VerliererInnen meist auch von aufstrebenden linken Parteien mobilisiert (vgl. della Porta et al. 2017). Darüber hinaus scheint die Unterstützung für Backlash-Positionen auch in verschiedenen sozialen Gruppen, wie der absteigenden Mittelschicht oder sogar der Oberschicht (die zu den wichtigsten Geldgebern der Backlash-Politik gehört und auch unter deren WählerInnen vertreten ist), höchst relevant zu sein. Um den klassen- oder statusspezifischen Rückhalt von Backlash-Bewegungen (und Backlash-Politik) zu verstehen, wäre jedoch, wie bereits erwähnt, eine genauere Analyse der Klassenstruktur ihrer AnhängerInnen sowie des Zusammenspiels von Klassenhintergrund mit Generations-, Geschlechts- und ethnischer Zugehörigkeit erforderlich.

Neoliberaler Backlash

Wenn Backlash-Politik Krisenpolitik ist, erfordert ihr Verständnis auch einen genaueren Blick auf die spezifischen Merkmale des sogenannten „späten“ Neoliberalismus – jenes der großen Rezession – in verschiedenen Ländern und Makroregionen (vgl. della Porta et al. 2017). Der Neoliberalismus mit seinem Schwerpunkt auf dem freien Markt und der Abkehr von sozialer Absicherung hat in unterschiedlichen Formen zu einer zunehmenden Ungleichheit und einer abnehmenden Unterstützung für die Institutionen geführt. Im späten Neoliberalismus kamen noch Sparmaßnahmen hinzu, um auf die Finanzkrise zu reagieren, die durch Deregulierungsmaßnahmen ausgelöst worden war. Derlei Maßnahmen zur Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung haben die Fähigkeit des Staats, seine Versprechen an die BürgerInnen zu erfüllen, massiv eingeschränkt. Die ungleiche Vermögensverteilung, wie wir sie aktuell erleben, ähnelt der gegen Ende des späten 19. Jahrhunderts, zumal die Kapitalrendite höher als das Wirtschaftswachstum ist (vgl. Piketty 2014). Eine hohe Ungleichheit führt zu sozialer und politischer Instabilität, mit oft dramatischen existenziellen Auswirkungen im Sinne einer radikalen Störung des Lebensalltags (vgl. Therborn 2013).
Die Finanzkrise, wiewohl eine globale Entwicklung, manifestiert sich in den einzelnen Ländern jeweils zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Erscheinungsformen, bedingt durch strukturelle Bedingungen sowie ihr kontingentes Fortschreiten. Zu den Variablen, die Einfluss auf die Entwicklung der weltweiten Krise hatten, gehören im Allgemeinen die Höhe der Staatsverschuldung, aber auch deren Zusammensetzung, die Höhe des Staatsdefizits, das Verhältnis zwischen privater Verschuldung und privaten Rücklagen, die Finanzierung von Schulden durch inländische oder ausländische Finanzinstitutionen, die Zahlungsbilanz und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Auch das Timing und die Geschwindigkeit, mit der sich die große Rezession manifestierte, hatten wahrscheinlich Auswirkungen auf die Backlash-Politik.
Die große Rezession brachte auch einen Wandel der Klassenstruktur mit sich, es kam zu einem Schrumpfen der Mittelschicht und einer zunehmenden Prekarisierung der Arbeit. Tatsächlich hat der Begriff der Klasse wieder Einzug gehalten in die Debatte über progressive soziale Bewegungen. In der Weltsystemtheorie bezeichnen antisystemische Bewegungen allgemein Reaktionen auf die Ausbeutung im Weltkapitalismus. Der Begriff entstammt einer analytischen Sichtweise auf das „Weltsystem des historischen Kapitalismus“, das ebendiese Bewegungen hervorgebracht hat, da „Klassen- und Statusbewusstsein die beiden zentralen Konzepte zur Rechtfertigung dieser Bewegungen waren“ (Arrighi et al. 1989, S. 1). In der Weltsystemtheorie wird mit zunehmender Ausbeutung auch eine Zunahme der Proteste erwartet, denn: „Wenn Unterdrückung besonders akut oder Erwartungen besonders stark enttäuscht werden oder die Macht der herrschenden Klasse bröckelt, haben die Menschen immer schon geradezu spontan aufbegehrt, um dem Einhalt zu gebieten“ (Arrighi/Hopkins/Wallerstein 1989, S. 29). Während die Ausbeutung der Peripherie dem hegemonialen kapitalistischen Land das Überleben sichert – da zusätzliche Gewinne im Zentrum des kapitalistischen Weltsystems sich in Zugeständnisse an die Arbeiterschaft investieren lassen –, haben staatlicher Schutz und merkantilistische Politik zu einer „zunehmenden Verlagerung des weltweiten kapitalistischen Wettbewerbs aus dem Bereich der Beziehungen zwischen Unternehmen in den Bereich der Beziehungen zwischen den Staaten“ (ibid., p. 12) geführt. Der sogenannten Weltsystemtheorie zufolge bestand die Aufgabe antisystemischer Bewegungen darin, dem gierigen Kapitalismus Widerstand zu leisten und sich der Logik des Systems zu widersetzen. Immanuel Wallerstein meinte dazu: „Anti-systemisch zu sein, heißt zu argumentieren, dass Freiheit und Gleichheit unter dem herrschenden System unmöglich und wahrscheinlich nur in einer grundlegend gewandelten Welt möglich sind“ (Wallerstein 1990, S. 36).
Die Weltsystemtheorie sagt wenig darüber, welche Kontexte die Entstehung und die Form dieser Bewegungen bestimmen. In jüngster Zeit hat man sich den Auswirkungen des kapitalistischen Wandels auf die Klassenstruktur, einschließlich der Entwicklung extremster Formen der Ausbeutung, zuzuwenden begonnen. Hier hat die Forschung zu den schichtenspezifischen Grundlagen der Proteste gegen Sparmaßnahmen eine breite, länderübergreifende Vielfalt herausgearbeitet. Nichtsdestotrotz sind weitere empirische Belege erforderlich, um antisystemische Bewegungen der Rechten und der Linken miteinander vergleichen zu können (vgl. della Porta 2018).

 

Übersetzt von Anja Schulte

 

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