Liberalität ist aktuell in aller Munde. Und nicht nur das: Sie ist zu einem der am heftigsten umkämpften Begriffe der Gegenwart geworden. Was genau auf dem Spiel steht, wenn das liberale Denken einerseits in einer Art Rückzugsgefecht verteidigt werden muss, während andererseits permanent seine Limitiertheit beschworen wird, beginnt man erst allmählich zu erahnen. Defensive hier, Offensive dort: auf der einen Seite die wachsende Sorge darum, ob sich ein universell geltender Freiheitsbegriff in irgendeiner Form retten lässt; auf der anderen die inzwischen bekannten Attacken genau darauf unter dem Motto einer emphatisch propagierten Illiberalität.
Aber was genau meint man, wenn man Liberalität (oder Illiberalität) in diesem Sinne für sich in Anspruch nimmt? Sicher nicht nur die ihrerseits umstrittene Wirtschaftsliberalität, die viel von den gegenwärtig sich verschärfenden sozialen Gegensätzen mitzuverantworten hat. Auch nicht bloß das Modell der liberalen Demokratie, die lange Zeit in staatspolitischer Hinsicht das einzige gültige Erfolgsversprechen darstellte. Und sicher auch nicht nur ein (westlich geprägtes) Wertegefüge, das vom Individuum als Subjekt eines freien, authentischen Willens ausgeht. Liberalität scheint eine komplexe Konstellation aus all diesen Zutaten, bei gleichzeitiger wechselseitiger Beschränkung, zu sein. Und vielleicht noch viel mehr als das. Jedenfalls trägt die in ihr angelegte Mehrdeutigkeit entscheidend dazu bei, dass man sich umso weniger auf einen harten Kern – eine Art Grundgerüst moderner, individueller wie kollektiver Freiheit – einigen kann. Weswegen ein heftiger Widerstreit um sie entbrannt ist.
Eine, die vielleicht bedenklichste, Tendenz liegt darin, diese Weitläufigkeit durch gezielte Autorität kappen zu wollen. So versucht der heute weithin beobachtbare Hang zum „Unfreiheitlichen“ das in jahrhundertelangen Mühen durchgesetzte liberale Menschen- und Weltbild durch ein negatives Zerrbild zu ersetzen: die separierte, oft rassistisch verfasste Freiheit der wenigen, national bzw. ethnisch Auserwählten. Anstatt Sorge zu tragen, dass Freiheits- und Menschenrechte auf alle ausgeweitet werden, die nicht das Privileg genießen, weiß, männlich oder westlicher Herkunft zu sein, wird hier der entgegengesetzte Weg eingeschlagen – und das bewusst. Die Grenzen der Aufklärung, lange Zeit umkämpfter Diskursgegenstand, werden so noch einmal „proaktiv“ bekräftigt, wie es in heutiger Diktion oftmals heißt.
Die Wirkungen sind verheerend: Nicht nur gerät die liberale Demokratie, eine Errungenschaft der politischen Moderne, zunehmend unter die ideologischen Räder neuer Autoritarismusformen. Auch ist die soziale Gemengelage – man denke nur an die beachtliche Zustimmung zu neurechter Politik – beständig am Kippen. Aber wie, durch welche konkreten Mittel, lässt sich dieser tendenziellen Spaltung entgegentreten? Und findet überhaupt eine Spaltung statt, wie uns konstant einzureden versucht wird, oder handelt es sich dabei um einen rhetorisch-ideologischen Kniff, von dem in erster Linie wieder das neurechte Lager profitiert? Schließlich ist es genau dieses Lager, das die Abspaltung bzw. Privilegierung ganz bestimmter „Freiheitssubjekte“ vorantreibt.
Freiheit der wenigen also, während die unfreien vielen immer mehr zur Spiel- und Manipulationsmasse einer technisch fortschreitenden „crowd control“ werden. Ist dies nicht das Szenario, das durch eine beschleunigte Globalisierung und Digitalisierung heraufbeschworen wird – Entwicklungen, die mit einem liberalen Menschenbild schlichtweg nicht vereinbar sind?
Die Ausgabe Illiberal! nähert sich diesem weitläufigen Themenkomplex auf verschlungenen Pfaden. Über die Freiheit der Kunst etwa – und die Frage, wie diese sich neu justieren muss, um nicht nolens volens einem Klima der Liberalitätsbeschränkung zuzuarbeiten bzw. in einem solchen Klima bestehen zu können. So diskutierten der Künstler Roee Rosen und die Kritikerin Ana Teixeira Pinto in ihrem Beitrag unterschiedliche Ansätze, ja Gegensätze, wenn es darum geht, mit Faschismusvorwürfen im Feld der bildenden Kunst umzugehen. Rosens und Pintos Austausch ist getragen von Respekt und Wertschätzung für den/die andere/n, auch wenn man komplett konträrer Ansicht ist.
Eine konträre Haltung gängigen Vorstellungen von Liberalismus gegenüber führt auch Felix Klopotek ins Treffen. Er sieht Liberalität nicht als Allheilmittel, das automatisch aus aufklärerischen Ansinnen resultiert, sondern vielmehr als kritischen Prüfstein, dessen Wertigkeit anhand zweier paradigmatischer Exempel erörtert wird. Geht es darin um den angemessenen, auch emanzipatorischen Umgang mit Zensur bzw. der Frage, ob man „mit Rechten reden“ soll, so macht Isabell Lorey einen darüber hinausführenden Aspekt geltend. Ihr Beitrag über die gegenwärtig Fahrt aufnehmende feministische (Streik-)Welle lenkt das Augenmerk auf eine große Fehlstelle jeglicher Auseinandersetzung um Liberalität und Illiberalität – nämlich jene Subjektpositionen, die im herkömmlichen Diskurs gar nie wirklich vorgesehen waren (und dies zum Teil noch immer nicht sind).
Erweiterte Perspektiven bringen auch Donatella della Porta und Chua Beng Huat in die Thematik ein. Chua, Autor des Buchs Liberalism Disavowed (2017), rekapituliert, inwiefern der Geltungsbereich westlich-liberalen Denkens immer schon an entscheidende Grenzen stieß, wenn es um seine Anwendung bzw. Akzeptanz in asiatischen Gesellschaften ging. Donatella della Porta beleuchtet aus soziologischer Sicht, welche Faktoren für ein angemessenes Verständnis des neurechten „Backlash“ umfassend in Betracht zu ziehen sind.
Boris Buden schließlich schlägt eine Brücke zurück zur Gegenwartskunst, genauer gesagt zu dem in Verruf geratenen „International Art English“. Budens scharfsinnige Analyse legt offen, inwiefern sich hinter Vorbehalten gegen ein allgemeines, lose und frei gehandhabtes Verständigungsmittel ein möglicherweise viel bedrohlicheres Moment verbirgt. Eine Gefahr, auf die auch die künstlerischen Beiträge dieser Ausgabe – von Natascha Sadr Haghighian und Mikhail Tolmachev bis hin zu Renate Bertlmann – mit unterschiedlichem Nachdruck verweisen. Sie alle machen darauf aufmerksam bzw. zeigen auf, welche neue „Dialektik der Befreiung“, ja welch neues Verständnis von Liberalität es für die Kultur der Gegenwart zu entwerfen gilt.