Heft 2/2019 - Lektüre



Tristan Garcia:

Wir

Berlin (Suhrkamp) 2018 , S. 73 , EUR 28

Text: Peter Kunitzky


Man könnte fast den Eindruck gewinnen, als ob identitätspolitische Debatten erst mit der Erfindung des Hashtags über uns hereingebrochen wären; als ob Menschen erst ab dem Moment, wo sie sich unter Schlagworten wie #MeToo oder #MeTwo versammeln, aufgeht, dass ihre je eigene Erfahrung auch von anderen, sogar vielen anderen geteilt wird. Doch der Schein trügt, denn die sozialen Medien haben die Vergemeinschaftung bloß beschleunigt bzw. im Sinne der Bequemlichkeit vereinfacht, früher – womit eigentlich nur das Ende des 20. Jahrhunderts gemeint ist – musste man beispielsweise noch wochenlang montags kollektiv auf die Straße gehen und „Wir sind das Volk!“ skandieren, um ein hinfälliges Regime endgültig mürbezumachen. Aber die Menschen haben sich eben schon immer zusammengetan, damit ihrem politischen Willen Ausdruck verliehen werde, zumindest mag das seit der Französischen Revolution gelten – jenem Fanal, das die einzelnen Völker nach und nach dazu animierte, die Macht an sich zu reißen; nicht umsonst beginnt deshalb etwa die amerikanische Verfassung mit den berühmten Worten: „We the people ...“ Und mit dem „Wir“ ist nun auch das entscheidende Stichwort gefallen. Denn: „Erkennen wir es an: ,Wir‘ ist das Subjekt der Politik.“ So wiederum der erste Satz des vorliegenden Buchs von Tristan Garcia, und die hier primordial eingeforderte Zustimmung ebnet gewiss nicht zufällig – weil überaus themengerecht – einer augenblicklichen Gemeinschaftsbildung unter den LeserInnen den Weg, einer Gemeinschaftsbildung, die gerade am Schluss seiner Ausführungen noch von erheblicher Bedeutung sein wird; dazu aber später mehr.
Garcia, Jahrgang 1981, Schüler von Alain Badiou und in Lyon lehrender Philosoph, der in seiner französischen Heimat als eine Art Wunderkind gehandelt wird, trat im deutschsprachigen Raum bisher vor allem mit seinem Essay Das intensive Leben hervor. Und das, was er dort dem modernen Menschen unterstellt, nämlich eine Überreizung, eine Überhitzung der Kategorien etwa in der Liebe oder der Kunst, die einen nur noch das Extreme goutieren lässt, das bescheinigt er hier, jedenfalls von der Dynamik her, auch dem pronominalen Subjekt der Politik, indem er die Geschichte der Menschheit als eine „Geschichte der konzentrischen Expansion des ,Wir‘ ausweist: vom ersten Paar, also gleichsam Adam und Eva, zur Sippe, zur Stadt, zur Nation, zur Weltbevölkerung, die aber, wohl entgegen jeder Intuition, noch immer nicht das Ende des menschlichen Wachstums bezeichnet, wo doch die Tierethik schon seit längerer Zeit die Inklusion aller biologischen Lebewesen wünscht und der Posthumanismus wenig demütig der Heraufkunft des maschinellen Übermenschen entgegenfiebert. Bei einer solch exorbitanten Ausdehnung und kategorialen Grenzverwischung nimmt es dann auch nicht wunder, dass die Menschen heute eine eindimensionale Identität verschmähen und sich und die anderen stattdessen gleichzeitig mit mehreren „Wir“ im Verbund sehen. Diese Wir imaginiert Garcia schließlich als „Bildschichten“, das heißt als transparente Folien, die jeder für sich einer Ordnung unterziehen und damit übereinanderstapeln muss: ein Sehmodell, das zwar erlaubt, auch die unteren Bildschichten, wenn auch immer undeutlicher, im Blick zu behalten, das aber der zuoberst liegenden Folie die höchste Priorität einräumt, die damit auch die vorrangige Identität bestimmt. Nach Garcia ist also jedermann so frei, bei der Einteilung der Wir eine strategische Wahl zu treffen, die Identität, die ich mir und auch den anderen zuschreibe, ist mithin keineswegs definitiv festgelegt, sondern kann situativ geändert werden.
Möglich wird diese Freiheit, weil die hergebrachten Klassifikationssysteme wie Rasse, Klasse und Geschlecht, die die Menschen traditionell voneinanderschieden, keine absolute Gültigkeit mehr besitzen, denn sie wurden im Laufe der Moderne, wie das mit einer schönen Formulierung gefasst wird, „entgründet“, das heißt als soziale Konstruktionen entlarvt. Bemerkenswerterweise trifft das sogar noch für eine scheinbar ungebrochen natürliche Kategorie wie das Alter zu, die, wie Garcia etwa eindrücklich an der Figur der „Frau von dreißig Jahren“ darlegt, je nach Epoche völlig anders beurteilt wird. Trotzdem diese Klassifikationen nun, weil ohne echtes Fundament in der Wirklichkeit, desavouiert wurden, bleiben sie aber, vor allem sobald auch noch Machtfragen gestellt werden, weiterhin in Gebrauch. Da heute jedoch niemand mehr, und schon gar nicht der alte weiße heterosexuelle Mann – der wahre Gottseibeiuns der Identitätspolitik! –, Herrschaftsansprüche anzumelden wagt, führt das ironischerweise zu einem großen Opferwettbewerb, bei dem derjenige den Sieg davonträgt, der nachweisen zu können glaubt, von der Mehrheitsgesellschaft am meisten diskriminiert zu werden. Kurzum, es tobt zurzeit ein identitätspolitischer „Bürgerkrieg“, den Garcia – ganz in der Pose des geschichtsphilosophischen Sehers, die ihm überhaupt sehr eigen ist – in eine längere Phase der „Destabilisierung und politischen Zerrissenheit“ einrückt. Doch kann dies bereits das Ende sein? Nein, denn Geschichte vollzieht sich schließlich in einer Pendelbewegung, weswegen auch schon „der Moment gekommen ist, da man [...] ein neues ,Wir‘ hervorquellen sieht“: ein kommendes universelles Wir, dass alle bisherigen besonderen Wir einbegreifen wird. Und wie dürfte man sich das vorstellen? Nun ja, auf den letzten Seiten verrät Garcia, dass seine LeserInnen sich ohnehin schon auf dem besten Wege dazu befinden, denn wer sich bei ihm, in seiner Erzählung, wiedererkennt, der wird auch zum Hoffnungsträger eines neuen Humanismus.
Also man muss schon sagen: Diesem Wunderkind mangelt es wahrlich nicht an Selbstbewusstsein.