„Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte.“ So beginnt eines der verstörendsten Märchen der Gebrüder Grimm mit dem Titel Das eigensinnige Kind. Dieser Satz steht auch am Beginn von Ligia Lewis’ Performance Water Mill (in Melody), die im Dezember 2018 im Hebbel am Ufer in Berlin uraufgeführt wurde und 2019 auf dem donaufestival in Krems zu sehen sein wird. Water Mill (in Melody) ist der Abschluss eines Triptychons im Zeichen dreier Farben – Blau, Rot und Weiß –, die jeweils atmosphärisch die einzelnen Performances prägen. Die in Miami aufgewachsene Choreografin und Tänzerin mit Wurzeln in der Dominikanischen Republik lebt seit einigen Jahren in Berlin, von wo aus sie nach Engagements als Performerin, unter anderem bei Mette Ingvartsen und Eszter Salamon, seit 2014 eigene Projekte lanciert.1 Auch wenn die Tradition an US-amerikanischen Choreografinnen, die von Europa aus ihre Karriere begonnen haben, lang ist – Meg Stuart ist aktuell die prominenteste Vertreterin –, so ist der internationale Erfolg von Ligia Lewis Ausdruck ihrer konsequenten Arbeit an einem unverwechselbaren choreografischen Gestus, der Grenzen zwischen Tanz und Theater aufbricht und dabei stets auf einem theoretischen Fundament aufbaut.
Was Lewis’ Arbeiten im gegenwärtigen Performancefeld darüber hinaus auszeichnet, lässt sich unter dem Begriff der Komplexität oder vielmehr Komplikation zusammenfassen. Finden sich in europäischen und US-amerikanischen Produktionen der letzten Jahre zahlreiche Verhandlungen des „Anderen“ bzw. „anderer Körper“, so ist – bei aller Dringlichkeit der entsprechenden Sichtbarmachung – dabei häufig eine Fortschreibung von Opferidentität, eine Affirmation des Leids ohne Potenzial zur Überschreitung erkennbar. Ligia Lewis geht mit ihrem Triptychon einen anderen Weg: Ihren Performances liegt eine Auseinandersetzung mit Gender und Blackness zugrunde, ohne dass dabei die Minorität von Identitätskategorien perpetuiert oder „reperformed“ würde. So verweist etwa Cédric Fauqs in seiner Aufforderung an KuratorInnen, Ausstellungen nicht über Blackness, sondern in und durch Blackness zu machen, auch auf Lewis’ Performances als herausragendes Beispiel für „unperforming blackness“2.
Im ersten Teil des Triptychons Sorrow Swag wurde für viele BetrachterInnen der Bezug zu Blackness erst durch das Erscheinen von Lewis bei der Verbeugung des Soloperformers Brian Getnick am Ende der Performance zu einem potenziellen Kriterium der Interpretation. Damit bezieht die Künstlerin ganz bewusst Stellung innerhalb des Kunstfeldes: „I know very few women and particularly women of color who can actually only make work and not have to explain it.“3 Der Auftritt der Choreografin bei der Verbeugung ist angesichts des Kanons an Solostücken, die entweder von weißen Männern und Frauen in Personalunion choreografiert und getanzt oder aber von Männern geschaffen und von Frauen getanzt werden, nicht bloß Dekorum, sondern vielmehr ein tatsächlicher Akt der Überschreitung. Basierend auf zwei kanonischen Theatertexten des 20. Jahrhunderts, Jean Anouilhs Antigone und Samuel Becketts Not I, erarbeitete Lewis für Sorrow Swag mit dem Performer eine körperliche Übersetzung des Method Actings, eine Variation über die Traurigkeit, einen Hybrid aus fließenden Bewegungen und Gemurmel, eindeutigen Gesten und Sprachzitatfetzen. In weißen Boxershorts, mit Halskette, Turnschuhen und furchterregendem Metallgebiss tritt Brian Getnick aus dem blauen Nebel wie ein Halbstarker, der sich die Gangster-Rapper-Attitüde ebenso aneignen muss wie die tragischen Frauenrollen der Textgrundlagen.
Der zweite Teil des Triptychons, minor matter – 2017 beim donaufestival zu sehen –, ist in die Farbe Rot getaucht. Lewis steht dabei gemeinsam mit Jonathan Gonzalez und Hector Thami Manekehla auf der Bühne, einer leeren Blackbox. Im Lauf einer Stunde entspinnt sich eine energiegeladene Choreografie für drei Körper – drei Individuen, die immer wieder aufeinandertreffen in einem Netzwerk aus musikalischen und gestischen Referenzen: Renaissancemusik trifft auf Maurice Ravels Bolero und A$AP Rockys L$D; Wrestling auf Stierkampf und den Death Drop des Voguing. Gegen Ende tritt die körperliche und räumliche Materie im hellen Licht hervor, und die Blackbox wird zu einem Ort des „Unperformings“ von Blackness. Diese Komplexität der Referenzen und das Sich-Entziehen eindeutiger Interpretationsvorgaben eint alle drei Performances von Lewis’ Triptychon. Dabei nimmt die Künstlerin die daraus folgende Komplikation der Rezeption nicht nur in Kauf, sondern setzt sie als Akteurin innerhalb des institutionellen Performancefelds bewusst als Mittel der Überschreitung ein: „And the institution, which tends to be white when we’re talking about contemporary art practices, demands too much from a black artist, of doing the white institution’s political work [for them], when actually maybe black artists need to be supported so that they can continue creating complicated, interesting, and rich work that might be impossible to capture.“4
Auch der dritte Teil, Water Mill (in Melody), bietet dem Publikum kein Narrativ an, sondern eröffnet, ausgehend von der Überlegung zur Charakteristik des Melodramas, eine dystopische Märchenwelt in Schwarz und Weiß. Letzterer kommt in ihrer immateriellen Form als Licht auch die Namenspatenschaft innerhalb des Triptychons zu, mag aber ebenso auf das „weiße“ Genre des Melodramas und seine Wurzeln in Hollywood anspielen. Das spektakuläre Lichtdesign von Ariel Efraim Ashbel kreiert eine nahezu körperlich fühlbare Atmosphäre des Unheimlichen und Katastrophalen. Vier Performerinnen, neben Ligia Lewis Susanne Sachsse, Dani Brown und Titilayo Adebayo, agieren wie Marionetten in einem Strom aus Slapstick, Minstrel, Sexyness und Trauma. Der Sprühnebel des zweiten Abschnitts taucht das Geschehen in eine versöhnliche Stimmung – die nicht weniger trügerisch ist, denn auch hier sind die Assoziationen und Referenzen flüchtig. Komplexität statt Eindeutigkeit steht am Ende des Triptychons ebenso über allem wie zu Beginn der Reihe. Das Märchen der Gebrüder Grimm über das eigensinnige Mädchen, das in Water Mill (in Melody) rezitiert wird, war ursprünglich wohl als disziplinierendes Mittel zur Einschüchterung von Kindern gedacht. Es kann aber auch als Geschichte bewusst widerständigen Handelns gelesen werden. Ligia Lewis wird sich auch nach dem Abschluss der Reihe weiterhin widerständig positionieren: „The black body will remain a problem in a white world, and rather than trying to fix the problem [with my work], I try to continue to make more problems. My position, both political and aesthetic, will remain complicated.“5
[1] Der erste Teil des Triptychons, Sorrow Swag (2014), wurde beim Wiener ImpulsTanzFestival mit dem Prix Jardin d’Europe ausgezeichnet, für den zweiten Teil minor matter (2016) erhielt Ligia Lewis einen Bessie Award.
[2] Cédric Fauq, Curating for the Age of Blackness, in: Mousse 66, Winter 2019, S. 226–234.
[3] Ligia Lewis, zitiert nach Jennifer Piejko, Refusing Directions, FLASH ART Online, Feature/315, June – July – August 2017; https://www.flashartonline.com/article/ligia-lewis/#_edn2.
[4] Ebd.
[5] Ebd.