Heft 3/2019 - Freedom Africa


Afropessimismus – Wem nützt er und wie äußert er sich?

Okwui Enwezor


Zunächst ist es nötig, dass wir uns mit dem weithin verbreiteten „essenzialistischen“ Afrikabild auseinandersetzen. Dazu müssen wir uns jedoch dem zentralen Paradoxon dieser Idee stellen, wonach Afrika immer am Abgrund steht, an der Schwelle zwischen Etwas und Nichts, zwischen Überleben und der Negativität von Lebenszyklen. Der essenzielle Kern des Begriffs ist also die unerbittlich trostlose Sicht, welche die Welt von Afrika hat. Schon betreten wir das Gebiet des Afropessimismus, demzufolge es der großen weiten Welt unmöglich ist, Afrika anders denn als trostlos zu begreifen. So kann man ohne Übertreibung sagen, dass der Afropessimismus gleich alt ist wie die Erfindung Afrikas als der dunkelste Ort in der gesamten Menschheitsgeschichte. Zunächst negiert der Afropessimismus den historischen Nutzen der afrikanischen Erfahrung. Dahinter steht bisweilen die Meinung, dass „aus Afrika niemals etwas Gutes kommt“, somit die Völker dort nichts zum Fortkommen der Menschheit beizutragen hätten. Die Medien sind voll von dieser bösartigen Objektivierung. Sie wird auch gestützt von all jenen, die die Unzulänglichkeit Afrikas zu erklären trachten. Sie beharren auf der Meinung, dass man, je mehr Kontakt man mit Afrika hat, umso besser versteht, warum sein „Human Development Index“ so gering ist. Umso logischer erscheint dann auch die Rückständigkeit, die den Kontinent und seine Völker plagt.1
Man neigt gerne dazu, die Diskussion über Afrika vor diesem altbekannten Hintergrund zu beginnen. Je nach Haltung des Kritikers oder der Kritikerin wird er oder sie die Verbrechen und Skandale, die dieser Kontinent erlitt, zu verteidigen oder zu rügen trachten. So eingefleischt der Afropessimismus als dominante Deutung Afrikas ist, so getreulich wurde er von vielen afrikanischen Intellektuellen und Kunstschaffenden auch zurückgewiesen (heute wird diese Tradition von der aktuellen Fotografie fortgeführt).2 Einige afrikanische DenkerInnen versuchen nuanciert und ambivalent ihre antiessenzialistische Haltung mit der Kritik an afrikanischen Regierungen abzuwägen.3 Andere wiederum folgen früheren ApologetInnen der Kolonialgewalt und rechtfertigen den Status quo, indem sie Afrika, wie weiland Hegel in Die Vernunft in der Geschichte Anfang des 19. Jahrhunderts, in den brutalsten und grausamsten Begriffen heruntermachen. Wir alle kennen diese Karikatur – der korrupte, fette „afrikanische Diktator“, der einen Potemkin’schen Staat dirigiert (irgendeine Bananenrepublik also), wie ihn der Romancier V. S. Naipaul in so giftigen Essays wie „Die Krokodile von Yamoussoukro“ gezeichnet hat. Die britische Presse unterhielt erst unlängst [gemeint ist 2005, Anm.] ihre LeserInnen mit grausamen Anekdoten über den simbabwischen Misanthropen Robert Mugabe, gegen den – ganz ohne Ironie – die Expertenmeinung von Ian Smith, ehemaliger rassistischer Führer des verblichenen Südrhodesiens, eingeholt wurde.
Es liegt in der Natur der Sache, dass, wenn man verstehen will, was Afrika ist und wie man es bezüglich anderer Kulturräume geschichtlich verorten kann, große Leidenschaft und bisweilen auch Reue aufkommt. Schließlich entscheiden wir selbst, welches Afrika am besten zu unseren Absichten oder auch Erfindungen passt.4 Jede davon versucht natürlich, eine „korrekte“ Darstellung des Kontinents vorzunehmen. So gesehen gibt es Afrika als konkrete Wirklichkeit gar nicht, sondern es irrlichtert buchstäblich durch unsere Fantasie wie ein glühendes Stück Kohle.
Im Folgenden behandle ich den Afropessimismus daher wie ein undurchsichtiges Glas, das unsere Sicht auf Afrika verdeckt, vor allem im Hinblick auf seine fotografische Herstellung, um die es hier zentral geht. Besonders interessiert mich, wie schillernd und blasphemisch das visuelle Narrativ der Fotografie unser Bild von Afrika prägt und dazu nutzt, Botschaften in die Welt auszusenden, die die Öffentlichkeit als Leben „dort unten“ aufnimmt. Die Analyse der wilden Halluzinationen der Fotografie über das „Phantom Afrika“5 enthüllt nicht nur, wie umfassend, sondern auch wie tiefgreifend sie den Afropessimismus in ihr eindimensionales, starres und verzerrtes Afrikabild integriert. Ihr Zugang und viele ihrer Prämissen führen zumeist zu Pauschaleindrücken, die alle regionalen und kulturellen Besonderheiten und Diversitäten zu einem indifferenten Ding verwischen.
Kann man der fotografischen Perpetuierung des Afropessimismus Einhalt gebieten, und wenn ja, wie? Dazu muss man sich zuerst einem großen Hindernis stellen. Die meisten vernünftigen BeobachterInnen stimmen überein, dass Afrika aus Sicht der globalen Medienindustrie mit ihrem 24-Stunden-Nachrichtenzyklus schlecht wegkommt. Wenngleich diese in dem schmutzigen Spiel bei Weitem nicht der einzige Akteur ist, so ist sie doch der mächtigste. Täglich ist der Westmensch skrupellos dem bösen Blick ausgesetzt, den die Medien auf Afrika werfen. Durch ihn werden alle AfrikanerInnen zu Gespenstern, die fürderhin die fotografische Einbildung bestimmen und durch sein Gewissen spuken. Ganze Industrien fußen auf dieser gespenstischen Szenerie, die, obwohl Fiktion, fast unmöglich auszumerzen ist. Seit Jahrzehnten zirkuliert das fotografische Imaginäre Afrikas durch das immer gleiche paradoxe Repräsentationsfeld: Entweder man zeigt uns prekäre Lebensbedingungen, denen gemäß alle AfrikanerInnen stets am Rande des Todes schwanken – an jener Grenze, wo es unklar wird, ob man noch Mensch oder schon Tier ist; oder aber wir bekommen Bilder der atemberaubenden Erhabenheit der afrikanischen Natur serviert, in der es im Grunde keine Menschen gibt, außer wenn ihr TouristInnen oder WissenschaftlerInnen mit ihren fetten Geldbörsen und Stipendien auf den Pelz rücken.
Sowohl AfrikanistInnen als auch AfrikanerInnen haben die scheußlichen Darstellungen, mit denen die Medien einen Landstrich, der zehn Mal so groß wie Europa ist, aufs praktisch Unkenntliche reduzieren, seit jeher verurteilt. Wenn ich diesen Darstellungen gegenüber so wie so viele andere auch inzwischen abgestumpft bin, so hat das weniger damit zu tun, dass meine Sensibilität gegen diese Verwüstungen bereits gewappnet ist, die uns permanent anspringen, wenn Afrika ins Bild kommt. Auch stehe ich dem Zustand Afrikas nicht apathisch gegenüber. Ich folge auch nicht dem Bauchgefühl, meine Augen und mein Denken vor der Schwächung und Entwertung Afrikas zu verschließen, die viele Medienberichte zur Folge haben. Der einzige Grund meiner Abstumpfung ist, dass diese Geschichten, die seit Jahrzehnten die einzige Information über den Kontinent darstellen, nicht mehr plausibel sind. Der Katastrophenklatsch der Medien, worin Afrika die Möglichkeit, dort ein geistreiches und erfüllendes Leben zu führen, abgesprochen wird, ist schlicht unglaubwürdig geworden. Dies verlangt eine Art Gegenberichterstattung mit einem informierten und ausgewogenen Ansatz, wie man Afrika beschreiben und abbilden soll und wie ihn viele zeitgenössische KünstlerInnen und Fotografinnen bereits erkennen lassen. Ihre Arbeiten bieten keine schmackhaften Eindrücke von Afrika. Wichtig ist vielmehr, dass sie einen Blickwinkel auf Afrika einnehmen, demgemäß die Bilder, die in ihren Untersuchungen aufscheinen, zuvor gewissenhaft geprüft werden.
Um jede unnötige Sentimentalität zu vermeiden, muss ich vorausschicken, dass die Kritik an der Darstellung Afrikas andere Motive hat, als bloß ein „positives“ Bild oder Narrativ herstellen zu wollen. Dies wäre zwar an sich gut, aber eher Aufgabe einer Werbe- oder Marketingagentur.6 Intellektuelle und KünstlerInnen haben eine andere Aufgabe. Sie müssen ein neues Umfeld schaffen, in dem ein sinnvoller Diskurs über Afrika überhaupt möglich wird. Dieser Diskurs erst würde die Vorurteile und Fehldarstellungen, die das Werk von so unterschiedlichen Autoren wie Hegel, Naipaul, Joseph Conrad, Ryder Haggard usw. prägen, infrage stellen. Die Motive dafür sind nicht nur ethisch, sondern auch epistemologisch. Die Epistemologie des Afropessimismus zu ändern hieße, ein ganzes Denkgebäude und seine sichtlich unverbesserliche Weltsicht zum Einsturz zu bringen. In ethischer Hinsicht ist die Suche nach der Wahrheit anstatt nach dem Skandal entscheidend. Ein ethisches Bekenntnis zu Afrika muss daher die Komplexität jeder einzelnen Situation auf dem Kontinent anerkennen und das Gegebene als Teil der ganzen Welt sehen und beschreiben – und nicht als Flickenteppich unzusammenhängender Anekdoten.

Ein Atlas der Unordnung
Seit mehr als 150 Jahren ist die Fotografie ein stures Monster im visuellen Alltag der Moderne. Sie blickt entweder durch die verklumpten Schichten von Leben und Realität oder sie verschleiert sie mit ihrer unausgesetzten Produktion von Sentimentalität, Spektakel oder Existenzfragmenten. Für Roland Barthes ist das, was bei der Fotografie übrig bleibt – namentlich das Leben und Erleben vermischende Szenen –, weder unbedingt die Wahrheit noch die Realität. Fotos sind vielmehr Bildcodes für eine Mythenbildung, die heute im täglichen Konsum der Massenmedien kollektiviert ist.7 Im Gegensatz zur seriösen Fotografie, die mit hohem Affektaufwand quasi-wissenschaftliche Beobachtungen vorzunehmen versucht, bildet die wahnwitzige Fotografie in den Massenmedien nicht so sehr das Spezifische eines singulären Gegenstands ab, sondern vielmehr die Eschatologie einer ganzen Industrie – das, was Walter Benjamin „Bildwelt“ nannte.8 Die fotografische Bedeutung Afrikas pendelt – oder sollte man besser sagen: ist eingezwängt? – zwischen diesen beiden Modi. In Afrika wurden die Anekdoten über das Dasein und die Mythenbildung auf die Spitze getrieben. Besonders ein Genre inszeniert immer wieder eine wahre Phantasmagorie – afrikanische Körper. Sie erscheinen ganz besonders befremdlich, ja gerade monströs. Verschafft man sich in Zeitungen, im Fernsehen, in Dokumentarfilmen und Magazinen einen Überblick über diese Bilder, so tut sich einem ein ganzer Atlas der Unordnung auf. Umgehend ins Auge sticht die eintönige Sujetwahl, die resolut auf chaotischen Motiven verweilt. Wenngleich diese Sujetverengung den meisten BetrachterInnen der globalen Fotoindustrie gar nicht auffallen mag, so steht sie doch in krassem Gegensatz zu den Sujets vieler afrikanischer FotografInnen.9 Ohne die Zensur der jeweiligen Redaktion außer Acht zu lassen, nehme man eine beliebige Anzahl von Bildern, die in einer afrikanischen Zeitung oder Zeitschrift veröffentlicht wurden, und vergleiche sie mit jenen, die in Europa und den USA erscheinen. Der Gegensatz zwischen den beiden fotografischen Diskursen springt direkt ins Auge.
Dieser Gegensatz verweist historisch auf eine Weggabelung in der Beziehung zwischen der Fotografie und Afrika.10 Diese Beziehung war seit jeher kompliziert und angespannt. Seit das erste Foto in Afrika geschossen wurde, ist der Kontinent stets ein faszinierendes und doch schwer fassliches Thema geblieben – seltsam, rauschhaft, sinnlich, primitiv, wild und leuchtend zugleich.11 Der Wunsch, diese exotisch rätselhafte Schönheit des schwarzen Kontinents festzuhalten, hat wohl den Anstoß für jene Art von Jagdsport gegeben, bei dem eine allerlei Gerätschaften schwingende Figur Jägern gleich auf die Pirsch geht. Ihre Beute war manchmal unbestimmt abgründig, dann wieder von einem Übermaß bestimmt, das buchstäblich darauf wartet, eingefangen zu werden. Diese Frühphase des Fotografiesports, der in erster Linie von Ethnologen, Goldsuchern, Spekulanten und Kolonialisten ausgeübt wurde, resultierte in einem gigantischen Archiv aus Klischees über Afrika, die sich seitdem in der Fantasie der Menschen festgesetzt haben. Das Spiel Jäger und Gejagter/s ist bis heute mehr oder weniger gleich geblieben, außer dass die Beute nicht nur noch absonderlicher, sondern regelrecht mythisch geworden ist, sodass man sie aus der Wirklichkeit gar nicht mehr wegdenken kann. In der Spätphase des Sports wurde Afrika damit zu einem Brachland des Bizarren und Wahnwitzigen.
Keine andere Kulturlandschaft der Welt ist auf so problematische Weise mit dem Medium Fotografie verknüpft, und zwar nicht nur mit dessen Apparaten, sondern seiner ganzen Industrie, Wissensordnung und Machthierarchie. Wie gesagt ist der Akt des Fotografierens oft recht widersprüchlich, denn die AfrikanerInnen selbst sehen ihre Welt naturgemäß ganz anders als die Fremden. Der Konflikt umfasst also eine ganze Weltsicht – den Widerspruch, Afrika mit dieser oder jener durchaus verbindlichen, aber zugleich disparaten Sensibilität zu sehen und darzustellen. Die eine ist dicht verwoben mit der sozialen und kulturellen Welt Afrikas, die andere reist nur beiläufig in beliebigem Auftrag und Ansinnen durch sie hindurch. Letztere liefert jene Gespenster und Mythenanhäufungen, von denen Afrika bis heute verfolgt wird. Diese Auffassung von Fotografie beruht nicht darauf, was tatsächlich gesehen wird, sondern was der eingefleischte, internalisierte, jedoch lückenhafte Blick, der offenbar auf Afrika projiziert wird, sehen soll. Dieser Blick nährt das „Phantom Afrika“, das im Kern ein vorgefertigter Kanon an Faszinosa und Widerlichkeiten ist. Dieses Bild von Afrika, das alle anderen visuellen Werte in den Schatten stellt, resultiert in gleichem Maße aus Entfremdungsprozessen wie aus engagierten Positionen.

Eine vampirische Maschine
Nehmen wir zum Beispiel die Fotografie von Peter Beard, jenes US-amerikanischen Jetsetters, der mehr als 40 Jahre in Kenia gelebt und fotografiert hat. Seine Bilder strahlen schon auf den ersten Blick die unglaubliche Ambivalenz seiner Einstellung gegenüber den Einheimischen aus. Beard fotografiert Potpourris eines wilden, paradiesischen Afrikas sowie der kultivierten Verträumtheit des Siedlerlebens und veröffentlicht sie in Modemagazinen und Hochglanzbildbänden. Diese Produktion gewährt uns einen Einblick in eine gestörte Bildproduktionsmaschine. Die Fotos, auf denen Beard anmutige exotische Tiere mit AfrikanerInnen zu einer zusammenhanglosen Kolonialfantasie verrührt, bringen das Ethos dieser vampirischen Maschine perfekt zum Ausdruck, aber auch der Macht, etwas als primitiv hinzustellen. Beard steht den Einheimischen gleichzeitig nah und fern. Der Trick, mit dem er diese Wirkung erzeugt, ist der des Teleobjektivs. Wie ein Wachorgan kann der Fotograf eine gewisse Intimität vortäuschen, wenngleich er in Wahrheit von der Nähe unberührt bleiben möchte. Das Teleobjektiv erlaubt dem Fotografen/Jäger, sich auf seiner Fotosafari als Ethnologe und Landvermesser zu fühlen, umso mehr, als er damit die kulturellen Unterschiede zwischen sich und den Abgebildeten unterstreichen kann. Diese Distanz bildet eine Art Grenzwert im Hinblick auf Raum- und Zeitdimension, wodurch ein markanter Zivilisationsrückstand vor Augen geführt wird, während zugleich jede Art von sozialer Empathie vermieden wird. Was ich hier beschreibe, sollte uns bekannt vorkommen, denn es ist Ausdruck jener Ideologie, auf der die geopolitische Dynamik zwischen dem Norden und dem Süden beruht.
Um dieses quasi-räumliche Schema von Distanz und Nähe und die zeitliche Entrücktheit, die die Essenz der fotografischen Ethik von Beard ausmachen, noch besser zu verstehen, wendet man sich am besten den Erkenntnissen der Anthropologie zu. In seinem großartigen Buch Time and the Other: How Anthropology Makes Its Object erklärt Johannes Fabian diese phänomenologische Spaltung so: „Als die moderne Anthropologie begann, ihr Gegenüber entlang von Topoi zu konstruieren [meine Hervorhebung], die Distanz, Differenz und Gegensatz implizieren, wollte man vor allem – oder zumindest auch – einen geordneten Raum-Zeit-Kosmos zur Orientierung des Westens konstruieren und nicht ‚andere Kulturen verstehen‘“.12 Laut Fabian ist der Gegensatz zwischen „uns“ und „den anderen“ nur möglich, wenn man den zeitlichen Zusammenhang zwischen ihnen kappt, um so ihre Gleichzeitigkeit zu leugnen.13 Die Leugnung von Gleichzeitigkeit basiert gewöhnlich auf dem Prinzip, dass selbst wenn „wir“ und „die anderen“ denselben Raum teilen, so doch nicht dieselbe Zeit. Kurz gesagt, zwischen „uns“ und „ihnen“ gibt es keine intersubjektive Verbindung. Dies erklärt auch jene Dichotomie, die ein Hauptproblem der ganzen Moderne darstellt, nämlich die zwischen modern und primitiv, zivilisiert und wild, entwickelt und unterentwickelt, ja letztlich zwischen „Ich“ und „dem Anderen“.
Mit ihrem Blickwinkel auf das Fremde codiert die Fotografie diese Dichotomie zwischen zivilisiert und unzivilisiert. Als Kunst der Zeit kehrt sie deren Verlauf um und schafft ein künstliches Zeitgefühl, vor dessen Hintergrund man nicht mit dem Fremden, dem Anderen koexistieren möchte. Dagegen beobachtet Fabian, dass „die Anerkennung intersubjektiver Zeit diese Art der Distanzierung fast definitorisch verhindern würde. Immerhin hat die Phänomenologie mit ihren Analysen zu zeigen versucht, dass es ohne Intersubjektivität keine Interaktion gibt, die wiederum ohne das Postulat der Gleichzeitigkeit der Beteiligten undenkbar ist“.14 Auf Beards Fotos sind menschliche Eigenschaften praktisch nicht mehr als menschlich erkennbar, auf dass man sich ganz auf den exotischen Zauber von Mensch und Tier konzentrieren kann. Betrachten wir diese Bilder, sehen wir, wie die anthropologische Maschine arbeitet,15 denn menschliche Eigenschaften (die der AfrikanerInnen) bleiben stets in einen tierischen Kontext eingebettet. Beards Fotos sind damit der Inbegriff des Problems der Gleichzeitigkeit, das sich bei der Dokumentation des Alltags und der Völker Afrikas durch FotografInnen aus dem Westen auftut. Die Collagen – Beards Haupttechnik – spielen mit dem Kontrast zwischen Mensch und Tier. Die meisten davon bilden ein zerrissenes, wieder zusammengeflicktes und sodann übermaltes Durcheinander, das uns mit einem Wirrwarr aus Menschen, Dingen, Landschaften und Tieren verwirrt. Daher findet das Auge keinen Fixpunkt, an dem Afrika nicht als diese sorgsam inszenierte Unordnung erscheint, zumal man in diesem Chaos ja auch seine angebliche soziale Realität erkennen soll. Jedes Projekt zum Thema Fotografie und Afrika muss sich also zuerst diesem Problem der Manipulation durch Fotos stellen und es aus dem Weg schaffen.
Bislang war es unmöglich, über Fotografie und Afrika zu schreiben, ohne auf diese vampirische Maschine hinzuweisen, die im Grunde schließlich zur Geschichte der westlichen Haltung zu Afrika gehört. Eine der Ursachen dafür ist, dass das resultierende fotografische Archiv16 und sein Apparat bis heute ungebremst ihr Unwesen treiben können. Warum das so ist, ist klar. Die FotografInnen aus dem Westen haben die besten Veröffentlichungsmöglichkeiten und erreichen die Menschen weltweit viel besser, denn alle globalen Medien und modernen Bildarchive werden vom Westen kontrolliert. Folglich wird die fotografische Abbildung Afrikas in den globalen Medien in erster Linie von der Subjektivität westlicher FotografInnen geprägt und kontrolliert.17 Aber sehen wir einmal vom Profijäger ab und fragen uns, was mit all den AmateurfotografInnen ist, die mit ihrem Rucksack durch Afrika ziehen. Stellen wir uns vor, ein europäischer Tourist sieht auf einem westafrikanischen Markt – sagen wir in Mali oder im Senegal – ein paar prächtig gekleidete Afrikanerinnen vor ihren Ständen sitzen und will sie fotografieren. Freundlich bittet er um Erlaubnis, doch die Frauen lehnen ebenso freundlich ab. Er jedoch insistiert. Es stellt sich die Frage, warum er jemanden fotografieren will, der ihm und dem er fremd ist? Wie gestaltet sich diese Begegnung, und was kommt dabei heraus? Die Fotojagd nimmt oft den Charakter eines sanften Flirts zwischen Jäger und Gejagtem an, bei dem unklar ist, ob eine Grenze überschritten wird oder nicht, oder was erlaubt und was bereits ausbeuterisch ist.
Ein Gutteil meiner Recherche bestand darin, solche Begegnungen zu beobachten und zu überlegen, was es mit diesem Fotografiesport eigentlich auf sich hat. Dabei wurde mir mit der Zeit etwas klar: Der Tourist bzw. die Touristin ist in eine neue Ära des Konflikts mit den Einheimischen eingetreten, weil diese die ungebetene Aufmerksamkeit des Objektivs nicht mehr akzeptieren. Dieser Konflikt führt bereits zu Maßnahmen, mit denen dem touristischen Auge überhaupt Einhalt geboten werden soll. Zugleich aber muss der invasive Aspekt der Fotografie mit der allgemeinen Praxis (künstlerisch oder sonst wie) abgeglichen werden, innerhalb derer die Fotografie in Afrika immer noch angesiedelt ist. Doch selbst diese Geschichte muss sich mit der Industrie der Massenmedien und den pixeligen Überresten, aus denen ihr Archiv besteht, auseinandersetzen.

An Bildern ersticken
Das Foto schockiert. Das Zittern, das es bei der ersten Betrachtung auslöste, wirkt nach wie ein wuchtiger Schlag gegen das Gewissen und die humanitäre Idee als Ganzes.18 Kevin Carters Aufnahme eines ausgehungerten, erschöpften, nackten Kindes im staubigen Sand Sudans, das auf dem Boden kauert und seinen Schädel wie ein Bettler beugt, wirkt so ikonenhaft wie verstörend. Umgeben ist das Kind von einer unheimlichen Stille, im Hintergrund kaum sichtbar die Umrisse eines Strohzelts. Die Nacktheit des einsamen Kindes wirkt umso krasser, als es zwei Schmuckstücke trägt, und zwar eine schwere weiße Perlenkette, die an seinem fragilen Hals zu zerren scheint, und ein weißes Krankenhausarmband um das abgemagerte rechte Handgelenk – so als würde es statistisch erfasst. Das Foto erschien am 26. März 1993 auf Seite drei der New York Times und bebilderte den Bericht über eine Massenflucht von Familien, die durch Hunger und Langzeitdürre von ihren einst so fruchtbaren Feldern vertrieben werden. Doch Carters Foto schockiert nicht nur, weil es das Leid des Kindes zeigt, sondern auch weil es so redundant ist.19
Sinnbildlich steht das Bild auch dafür, dass die ganze Welt Afrika mit bedrohtem Leben assoziiert. In Afrika, so das Bild, herrschen Hunger, Seuchen, Bürgerkrieg, Genozidwahn, Schulden, Gesetzlosigkeit. Das Foto verkörpert und nährt eine hartnäckige Tendenz – nämlich dass Afrika vergeblich damit kämpft, sich aus den Klauen seines Daueralbtraums zu befreien. Das Foto hat somit eine Doppelfunktion. Einerseits bildet es das tatsächliche Schicksal dieses Kindes ab – seine Hilflosigkeit und Ohnmacht, an Nahrung zu kommen. Andererseits ist es doch nur eine Variante des Klischees von Afrika als „Land der leblosen Materie und des blindwütigen [...] und tragischen Chaos der Schöpfung“.20 Dieses Chaos wird häufig in einer visuellen Bandbreite dargestellt, von wo aus sich das Bild als Klischee einzubrennen beginnt. Ein tragisches Einzelereignis wie beispielsweise eine Hungersnot wird gezeigt, um daraus ein größeres Panorama abzuleiten. Etwas Besonderes gerinnt zu einer Verallgemeinerung. So entsteht ein Bildrepertoire. Jedes Foto von Afrika, das mit dieser Haltung aufgenommen wurde, wiederholt mithin Einzelszenen als bloße Platzhalter für das große Ganze. So wird die Praxis der Fotografie zu einer Mythenfabrik. Jedes Bild muss nun einer bestimmten Typologie folgen: Da ist einmal das Groteske in Form des Diktators, dann der miefige Slum als Inbegriff des geometrischen Chaos, das feuchte Horrorspital, überquellend vor PatientInnen, die an Krankheiten verrecken, welche die Medizin noch nicht einmal kennt, und dann wieder die unberührte Erhabenheit der Urwälder voller Wildtiere. Sie alle bedeuten und symbolisieren ein und dasselbe: Afrika. Für die AfrikanerInnen heißt dies, dazu verdammt zu sein, stoisch auf das nächste Live Aid oder Live 8 warten zu müssen, oder welche Demütigung sich Bob Geldof und seine MitstreiterInnen diesmal einfallen lassen, um mit ihrer Barmherzigkeitsblechdose Almosen für ein unglückliches Volk in einem unglücklichen Land zu sammeln.
„Wenn jedes Wort [oder Bild] vor Dringlichkeit strotzt – der Dringlichkeit der Ignoranz –, kann man den Weg zur Vernunft nur auf umgekehrtem Weg beschreiten, nämlich indem man die Worte so lange exzessiv wiederholt [...], bis die betreffenden Bilder erstickt sind“.21 Anlässlich von Live 8, des 2005 abgehaltenen Nachfolgespektakels von Live Aid 20 Jahre davor, wiederholte ausgerechnet Geldof diesen Exzess mit einer Diashow der Hungersnot in Äthiopien 1984. Im weitläufigen Hyde Park wanderten auf mehreren Riesenleinwänden in Zeitlupe die Fotos eines ausgehungerten Kindes vorüber, das wie ein zerfetzter Stoffbeutel in den Armen seiner wie wahnsinnig wirkenden Mutter zusammengesackt war, während ein dichter Fliegenschwarm seinen klaffenden Mund malträtiert. Lebt das Kind noch oder ist es schon tot? Die Antwort auf diese Frage war der Grund, warum es uns überhaupt dargereicht wurde. Denn Geldof walzte hier grotesk das Samariterklischee aus, bei dem eine Horde gelbäugiger Armer uns in ihrem Elend verzweifelt anstarren und buchstäblich um ihr Leben betteln. An der Seite von Madonna stellte uns Geldof hernach eine hinreißende junge Frau vor, die niemand geringerer war als – das sterbende Kind auf dem Foto! Hurra, sie ist gesund und wohlauf, gerettet vom nährstoffreichen Haferschleim der humanitären Industrie! Worauf man uns in Kenntnis setzte, dass die Frau nunmehr studiert, um – ausgerechnet! – Agraringenieurin in ihrer Heimat zu werden.
Betrachtete man dieses Medienspektakel unter dem Aspekt seines vorgeblichen Zwecks, dem Schuldenerlass für afrikanische Staaten,22 konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Frau gleich zweimal gerettet worden war – einmal aus den Klauen von Hunger und Tod, und ein zweites Mal unter dem tosenden Applaus der Massen anlässlich jenes weltlichen Kreuzzugs, bei dem sie Sir Bob als Heiland vor unseren Augen wieder auferstehen ließ.

Dokumentarischer Heroismus
Aber Schluss mit dem Zynismus. Live Aid, das erste Wohltätigkeitskonzert 1985, wäre ohne die erschütternden Dokumentarfotos und Fernsehaufnahmen der äthiopischen Hungersnot nicht zustande gekommen. Genau das macht die Lage der fotografischen Medien in Afrika so paradox: Auf der einen Seite lenken sie unsere Aufmerksamkeit auf schiere Überlebensprobleme der Menschen dort; gleichzeitig kann man mit ihnen aber offenbar nichts außer Verzweiflung darstellen. Live Aid und seine unzähligen Nachkömmlinge haben ihren Anteil an der Reproduktion dieser fotografischen Praktiken. Sicherlich war die Veranstaltung ein nobler Akt. Dennoch sollte man nicht vergessen, dass Geldof erst nach seinem Scheitern als „Rockstar“ durch sie weltweit berühmt wurde. Mit dem Event eine profitable Karriere im Dienst unglücklicher Hungeropfer anzukurbeln, die zum Teil humanitäres Theater, zum Teil infantile Schulmeisterei im Namen Afrikas ist, sagt uns etwas über die faktische Macht von Bildern, Leben zu verändern. Umso mehr, als die Inszenierung von Live 8 eher von Opportunismus zeugt denn von humanitärer Verpflichtung. Fotografien des Elends von 1984 mit der Forderung nach einem Schuldenerlass zu verbinden, gehört wohl zu den übelsten Exzessen des dokumentarischen Heroismus,23 der dort auf Riesenbildschirmen zur Schau gestellt wurde.
Im Rückblick auf die Verarbeitung der äthiopischen Hungerkatastrophe in den Medien sieht man erst, wie man Carters Foto vom sudanesischen Kind, von dessen Schicksal man bis heute nichts weiß, richtig verstehen könnte. (Vielleicht erfahren wir ja beim nächsten Benefizkonzert, dass es überlebt hat, weil ein mutiger weißer Ritter rechtzeitig ins Flüchtlingslager eingeritten ist, um die Agenten der Apokalypse zu zerschmettern, die Afrikas Abhängigkeit andauernd noch größer machen. Denn in dem Moralstück, in dem auch der dokumentarische Heroismus seine Rolle spielt, sind die AfrikanerInnen permanent in Gefahr und die weißen EuropäerInnen müssen sie permanent retten.) Jedenfalls ist es kein gewöhnliches Foto. Der ausgezehrte Rumpf des Kindes dominiert die Bildmitte, während im Hintergrund geduldig ein fetter Geier lauert. Das Gefühl beim Betrachten übersteigt unser Mitleid. Das Kind ist mehr als ein statistischer Stellvertreter – es ist ganz buchstäblich Aas. Diese krasse Tatsache berührt den Kern unseres humanitären Instinkts. Als Afrikaner empfand ich angesichts dieses Skandals eines Fotos eine Mischung aus Scham, Wut und Ekel. Und es brachte fürchterliche Erinnerungen zurück, weil ich fast 40 Jahre davor selbst in einem jener infernalischen Flüchtlingslager leben musste, in denen so viele Kinder aus dem vom brutalen Bürgerkrieg heimgesuchten Biafra Krankheit, Verzweiflung und Tod ausgesetzt waren. Der britische Fotograf Don McCullin dokumentierte damals mit seiner Kamera zahlreiche Szenen aus den traurigen Ruinen, die vom Traum der Unabhängigkeit Biafras übrig blieben. Darunter befinden sich Bilder, die die leeren Blicke trauriger Kinder festzuhalten suchten. Durch den Hunger sehen sie aus wie hohläugige Zombies. Wenn ich McCullins Fotos betrachte, darf ich mich also zu den Glücklichen zählen, an denen nicht nur der Grauen des Todes, sondern auch der pittoreske kleine Tod durch die autistische Kamera dieses Fotoreporters vorübergegangen ist. Seine Bilder werfen schwerwiegende Fragen über die Natur der Fotografie, der Repräsentation und der Ethik, wie man über Afrika berichten kann, auf. Da sie so große Verbreitung fanden, haben sie unsere Augen bis zum Glaukom abgestumpft. Wir sehen die Bilder gar nicht mehr, sondern nur noch den Heroismus des Fotografen. Aber mehr noch erschreckt mich die Gewalt, die solche Fotos allen AfrikanerInnen körperlich antun. Im Mittelpunkt jener Fragen, die sich angesichts solcher Katastrophenbilder stellen, steht neben der unmittelbaren Trauer, die einen angesichts dieser schrecklichen Vernichtung von afrikanischem Leben befällt, die Beziehung zwischen FotografIn und Fotografiertem. Auch bei den Debatten um Carters sudanesisches Kind geht es letztlich nur darum: Welche ethische Verantwortung hat der Fotograf bzw. die Fotografin für die Schutzlosen, die er bzw. sie da abbildet? Ist eine lebende Leiche, wie sie von Carter letztlich insinuiert wird, überhaupt noch ein Mensch? Kann die Fotografie diesem leblosen Körper Leben einhauchen, indem sie ihm Aufmerksamkeit verschafft? Kurz, kann Carters Foto das namenlose Kind wieder zu einer Person machen? Ich stelle diese Frage hier nicht nur hinsichtlich dieses einen Bildes, sondern im Hinblick darauf, wie man eine Balance zwischen dem Anliegen von Bildern und der Gewalt der Darstellung finden kann.

Die Anomie der dokumentarischen Praxis
Über die Jahre ist die Empörung vieler AfrikanerInnen über die negative Darstellung Afrikas in den Medien immer lauter geworden. Achille Mbembe, der zu diesem Thema sehr detailreich gearbeitet hat, nennt zwei Kritikpunkte: „Einer betrifft die Beliebigkeit, die sich nicht vermeiden lässt, wenn man etwas abbildet und also dem Tod anheimstellt, den man zuvor als ein Nichts, als eine nichtige Figur abgetan hat. Der andere ist, dass dieses Negierte in seiner Ohnmacht auch noch so weit weggeschoben wird, dass es auf der anderen Seite landet – hinter der Welt, aus der Welt. Dort muss es nicht nur seine eigene Zerstörung gewahren, sondern auch noch eine Kreuzigungszeremonie erdulden.“24
Wie kann man sich als AfrikanerIn also der Teilnahme an diesem grotesken Ritual, dieser Demütigung als nichtige Figur entziehen? Die paradoxe Frage lautet: Darf man sich von diesen grausamen Bildern von Menschen in riskanten Situationen, Not und Elend, ja in dämmriger Unsicherheit ohne jede Handlungsmacht, die Carter et al. für die Weltöffentlichkeit fotografiert haben, abwenden? Die Antwort ist nicht trivial. Man darf nicht vergessen, dass sich die Fotos des Leids in Afrika einer hohen medialen Wertschätzung erfreuen. Reportagen in der New York Times zeigen AfrikanerInnen niemals in normalen Alltagssituationen. Heute sind es Darfur und Niger, morgen vielleicht die Not der SlumbewohnerInnen Nairobis.25 Das sind die einzigen Storys und Fotos, die geschätzt werden, und damit viele JournalistInnen in einen Teufelskreis zwischen Märtyrer und Held zwingen. So gewann Carter mit seinem „mutigen“ Bild den Pulitzer-Preis und noch andere Auszeichnungen, was eine heftige Debatte über seine Verantwortung für das abgebildete Kind auslöste. Worin also besteht die Verantwortung des Bilderjägers? Sehr oft enthüllen Dokumentarfotos über Afrika eine gewisse Anomie bzw. ein Orientierungsproblem. Denn auch Carter, der selbst Südafrikaner war und solche Bilder nicht nur aus eigener Erfahrung als Bildredakteur des Johannesburger Mail and Guardian, sondern auch als Mitglied der Viererbande namens Bang Bang Club26 kannte, empfand bei den Aufnahmen, die ihn zu einem Star in der Elite der Katastrophen- und Kriegsfotografen machte, sehr dunkle und aufwühlende Gefühle. Ihre Kraft war letztlich zentrifugal. Unfähig, seinen Ruhm einerseits und all die Beschimpfungen andererseits zu verarbeiten, wurde der sensible Fotograf in den Strudel einer psychischen Katastrophe gezogen – mit tragischem Ausgang.27

Erstveröffentlichung auf Englisch in: Snap Judgments. New Positions in Contemporary African Photography. ICP New York/Steidl Göttingen 2006.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Chika Okeke-Agulu. © Estate of Okwui Enwezor

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] Vgl. Léopold Sédar Senghor, Négritude und Humanismus. Düsseldorf/Köln 1967. Heute könnte man die Négritude-Bewegung – insbesondere in der Formulierung eines ihrer Gründer, des Philosophen, Dichters und Staatsmanns Léopold Sédar Senghor – als Versuch deuten, den kolonialen Pessimismus in Bezug auf Afrika neu zu inszenieren. Obwohl Senghor mit seiner Theorie der Négritude, die unter anderem den Unterschied zwischen Afrika und Europa als den zwischen Gefühl (Afrika) und Vernunft (Europa) definierte, ungewollt Vorurteile über Afrika perpetuierte, bestand sein Hauptziel darin, eine afrikanische Ethik zu skizzieren, auf die alle AfrikanerInnen stolz sein sollten und könnten, selbst wenn einige dieser Werte so gar nicht dem entsprechen, wie man sich als moderne/r AfrikanerIn selbst versteht.
[2] Kritiken des Afropessimismus finden sich bei Chinua Achebe, Hopes and Impediments: Selected Essays. New York 1988 sowie ders., Ein Bild von Afrika. Berlin 2000 (darin besonders „Rassismus in Conrads ‚Herz der Finsternis‘“, S. 9ff.); vgl. auch Ngũgi wa Thiong’o, Dekolonisierung des Denkens – Essays über afrikanische Sprachen in der Literatur. Münster 2017 und natürlich Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt am Main 1985.
[3] Vgl. Manthia Diawara, In Search of Africa. Cambridge, Mass. 1998, Kwame Anthony Appiah, In My Father’s House: Africa in the Philosophy of Culture. New York 1992 sowie Achille Mbembe, Postkolonie: Zur politischen Vorstellungskraft im Afrika der Gegenwart. Wien/Berlin 2016.
[4] Vgl. V. Y. Mudimbe, The Invention of Africa: Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge. Bloomington 1988 sowie ders., The Idea of Africa. Bloomington 1994.
[5] 1931 nahm der französische Ethnologe und Surrealist Michel Leiris als Sekretär an einer „Expedition“ Dakar-Djibouti teil. Im Zuge dieser „Expedition“ wurden nicht nur Artefakte und anderes Material geplündert, sondern Leiris schrieb auch ein Buch mit dem Titel L‘Afrique fantôme (1934 erschienen). Die Tradition, in der es stand, ist lange und legendär. Zu ihr gehören nicht nur Joseph Conrads Herz der Finsternis (1902), sondern auch André Gides Voyage au Congo (1927) und Retour du Tchad (1928), oder dass sich Rimbaud einst nach Abessinien (Äthiopien) zurückgezogen hatte. Der Afropessimismus als Denk- und Bildtopos hat also eine lange und berühmte belletristische Geschichte.
[6] Unlängst [2005, Anm.] sah ich auf CNN eine Werbung des nigerianischen Touristenverbands, die die Schönheit des Volks, die kulturelle Dynamik der Städte und die Natur des Landes anpries. Auch Südafrika hat schon viele Gelegenheiten genutzt, um global für sich zu werben. Zweifellos haben viele afrikanische Länder erkannt, welchen Imageschaden die negative Berichterstattung anrichtet und wenden sich nun dagegen.
[7] Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964. In diesem faszinierenden Buch entfaltet Barthes seine Mythologie anhand von massen- und popkulturellen Phänomenen im Nachkriegsfrankreich, zugleich versuchte er allgemein zu zeigen, dass Mythen in der Sprache wurzeln. Im Kapitel „Der Mythos heute“ definiert er den Mythos als „Aussage“. Der Kontext dieser Aussage gibt ihr einen Wert als „Mitteilungssystem, eine Botschaft“. Diese Botschaft nennt Barthes eine „Weise des Bedeutens“: Sie gibt an, wie sich anhand von etwas so Banalem wie einem Auto die kulturellen Auswirkungen von Mobilität in der öffentlichen Wahrnehmung kommunizieren lassen. Man bedenke nun, welchen Mythos die Botschaft des Afropessimismus transportiert. Jedenfalls verstärkt er Dinge, die in Afrika selbst nur sekundär sind, und lässt uns erahnen, wie mächtig der Mythos auf Gefühle und Affekte wirkt, obwohl er eine Verschiebung dessen bewirkt, was er vorgeblich aussagt.
[8] Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: ders., Gesammelte Schriften II-1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1977, S. 368–385.
[9] In der Ausstellung Snap Judgments findet sich ein gutes Beispiel dafür, nämlich dass Mamadou Gomis täglich in der in Dakar erscheinenden Zeitung Le Journal ein Foto veröffentlichte.
[10] Man vergleiche bspw. die Fotos von Gomis mit jenen im Afrika-Themenheft des National Geographic vom September 2005.
[11] Leni Riefenstahls Buch Die Nuba: Menschen von einem anderen Stern (1972) ist ein prächtiges Beispiel dieses fotografischen Diskurses. Zu erwähnen ist auch die regelrechte Fotoindustrie, die Carol Beckwith und Angela Fisher rund um die optischen Reize afrikanischer „Stammesrituale“ errichtet haben.
[12] Johannes Fabian, Time and the Other: How Anthropology Makes Its Object. New York 1983, S. [11]f.
[13] Ebd., S. 38.
[14] Ebd., S. 30.
[15] Vgl. Giorgio Agamben, Das Offene: Der Mensch und das Tier. Frankfurt am Main 2003.
[16] Ich verwende den Ausdruck „Archiv“ hier im Sinn von Jacques Derrida, demzufolge das Verhältnis von Wissen und Autorität im Dienst einer interpretativen institutionalisierten Funktion steht. Derrida hält fest: „Eine Wissenschaft des Archivs muss eine Theorie dieser Institutionalisierung umfassen, will sagen, eine Theorie des Rechts, die sich in diese Institution einschreibt, und des Rechts, das ihr Macht verleiht“ (Dem Archiv verschrieben: Eine Freudsche Impression. Berlin 1997).
[17] In den Wochen, während ich an diesem Aufsatz schrieb, verfolgte ich die Artikel und Bilder über Afrika, die eine Zeitung an meinem Wohnort – die New York Times – brachte. Täglich kam etwas Neues, manchmal ein Text, dann wieder ein Bild. So berichtete Nicholas Kristof am Sonntag, den 23. Oktober 2005, auf der Meinungsseite von seinem Besuch eines Spitals in Zinger (Niger) wie folgt: „Als ich die Geburtenstation betrat, hätte ich gewünscht, Präsident Bush könnte das sehen. Eine 37-jährige Frau lag auf einer Trage und stöhnte unter Konvulsionen in ihren Wehen. Sie war fast blind und machte den Eindruck, aufgrund ihrer Schwangerschaftskrämpfe ins Koma zu fallen. Diese Komplikation tötet jährlich 50.000 Frauen in der Dritten Welt. Unter ihrer Trage stoben die Kakerlaken dahin.“ Am 1. November 2005 veröffentlichte Michael Wines auf Seite A3 eine Story über die Abholzung in Malawi mit einem Schwarz-Weiß-Foto von Jeffrey Barbee, das eine Gruppe Menschen offenbar beim Schneiden von Feuerholz zeigt. In derselben Ausgabe schaltete der Ölriese ExxonMobil eine Anzeige über Malaria in einem ungenannten Land Afrikas mit einem Farbfoto von Schulkindern, die direkt in die Kamera blicken. Am 2. November schrieb abermals Michael Wines einen Aufmacher mit der Schlagzeile „Dürre verstärkt Armut, noch mehr Afrikaner hungern“. Daneben wieder ein Bild von Jeffrey Barbee, und zwar von Männern, die in einem Laden Mais kaufen. Die Thematik der Berichte macht einmal mehr klar, wie die LeserInnen der New York Times Afrika sehen und wie eine spannende Geschichte über diesen riesigen Kontinent auszusehen hat.
[18] Susan Sontag analysiert in Das Leiden anderer betrachten (Frankfurt am Main 2005) ausführlich die Beziehung zwischen Fotografie und humanitärer Gesinnung.
[19] Am 6. November 2005 brachte die New York Times einen ausführlichen Artikel über die Lage in afrikanischen Gefängnissen. Faszinierend daran ist, dass die dazugehörigen Fotos von João Silva die schrecklichen Lebensbedingungen der Häftlinge noch krasser erscheinen lassen. Online veröffentlichte die Zeitung eine ganze Diaschau dieser Bilder, von denen einige in der Tat – als Fotos – beeindruckend sind.
[20] Mbembe, Postkolonie, S. 253.
[21] Ebd.
[22] Seitdem hat der Rockstar Bono, Sänger der irischen Band U2, Geldof als Säulenheiliger des afrikanischen Schuldenerlasses und der Kampagne gegen die Armut verdrängt.
[23] Der in Paris lebende brasilianische Fotograf Sebastião Salgado ist der unbestrittene Meister des dokumentarischen Heroismus. Die satten Grau- und Silbertöne seiner Fotos machen Afrikas Elend monumental. Grausiges Leid wird auf seinen Fotos zu sorgsam gestalteten Pietas, als kämpfe er innerlich, ob er nun die Realität abbilden oder sie im Namen der Kunst transzendieren soll. In starkem Gegensatz zum dokumentarischen Heroismus von Salgado oder auch von Gilles Peress steht das Werk des kenianisch-amerikanischen Fotografen Fazal Sheikh, der erst dann Aufnahmen in Katastrophengebieten macht, wenn es wieder erste Anzeichen von Normalität im Leben von Traumatisierten, zum Beispiel Flüchtlingen, gibt.
[24] Mbembe, Postkolonie, S. 250.
[25] Vor Kurzem [2005, Anm.] hat CNN seinen neuen Anchorman Anderson Cooper als neuen Starreporter in Katastrophengebieten wie Niger, Ruanda oder New Orleans präsentiert.
[26] Der Bang Bang Club bestand neben Carter aus João Silva, Ken Oosterbroek und Greg Marinovich. Silva und Marinovich, die einzigen noch Lebenden dieses informellen Clubs, veröffentlichen ihre Fotos bis heute in Zeitschriften auf der ganzen Welt. Kürzlich erschienen auch die Memoiren der Gruppe.
[27] Am Höhepunkt des Aufschreis, den der Abdruck dieses Fotos hervorrief und der die edlen Motive Carters bezweifelte sowie seine Distanziertheit gegenüber dem Kind verurteilte, verübte dieser, ohnehin schon an Despressionen und Überlastung leidend, Selbstmord [Juli 1994, Anm.].