Heft 3/2019 - Netzteil
Miao Ying 苗颖 gehört zu den erfolgreicheren Künstlerinnen der jungen Generation in China. Zuletzt war sie etwa in den Ausstellungen Chinese Whispers. Neue Kunst aus der Sammlung Sigg im Museum für Angewandte Kunst Wien (MAK) sowie Hysterical Mining in der Kunsthalle Wien vertreten. Als Millennial und daher fast unweigerlich auch Vertreterin der Post-Internet-Art thematisiert Miao Ying ein ambivalentes Verhältnis zwischen den grellen Bilderströmen und der Schattenseite von Macht und Kontrolle. In GIFs und Objekten feiert sie eine flirrende User Culture, nicht ohne die technologischen Barrieren sichtbar zu machen, die Zensur und Profitstreben errichtet haben. Ihr künstlerisches Material, digitale Bilder und die dazugehörigen Kulturtechniken, findet sie in den sozialen Medien. Im Ausstellungsraum verdichtet sich dieses zu einem lebendigen Pastiche, als seien die User-Hände gerade noch zugange gewesen.
Miao Ying arbeitet zurzeit an einem künstlerischen Kommentar zum chinesischen Sozialkredit-System. In westlichen Medien wird vielfach befürchtet, dass mit dem 2014 angekündigten System eine neu dimensionierte, bislang unerreichte Verschaltung von Kontroll- und Überwachungsmechanismen – Stichwort Orwell – realisiert wird. Zurzeit befindet sich das System in einer nur oberflächlich einsehbaren Aufbau- und Testphase, 2020 soll es landesweit wirksam werden. Neben einseitig dystopischen Warnungen gibt es bereits auch kritischere Reflexionen dazu: So vergleicht die Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff in ihrem Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (Campus, 2018) das Sozialkredit-System mit den Praktiken der Userdaten-Extraktion von Firmen wie Google oder Facebook. Dabei verweist sie auf strukturelle Unterschiede, die in den jeweiligen Staat-Industrie-Beziehungen begründet liegen. Auch in der aktuellen Ausgabe des Technologiemagazins Logic (Issue 7: China 中国) versuchen die AutorInnen, ein realistisches Bild zwischen Propaganda und technologischer Machbarkeit zu zeichnen. Eine im vergangenen Winter erschienene China-Ausgabe der MIT Technology Review (The China Issue) stellt unter anderem KünstlerInnen vor, die sich kritisch mit dem Internet befassen, darunter auch Miao Ying.
Vera Tollmann: Wie gehen Sie bei der Recherche vor? Folgen Sie UserInnen auf WeChat, Insta und TikTok? Und wie recherchieren Sie die Aktivitäten der chinesischen Regierung in der digitalen Welt?
Miao Ying: Meine Recherchen führe ich größtenteils im Internet durch. Egal, ob auf Bilibili [Video-Sharing-Website für Anime-, Manga- und Game-Fans, wo Userkommentare live in den Videobildern erscheinen], Douyu [Livestreaming-Service für Games] oder Tiktok [Videoplattform, die es UserInnen ermöglicht, lippensynchrone Musikvideos aufzunehmen], mich hat stets die Kreativität der chinesischen Netizens fasziniert (die durch die notwendige Selbstzensur oft einfallsreicher sind als andere) und wie schnell die Menschen in China sich neue Technologien zu eigen machen. Dies geschieht so schnell, dass die wissenschaftliche Theorie nicht mehr Schritt halten kann.
Tollmann: Seit Ihrem Studium in den USA sind Sie mit beiden digitalen Welten und ihren kulturellen Unterschieden vertraut: auf der einen Seite das westliche, von US-Firmen beherrschte Internet, auf das sie in New York zugreifen, auf der anderen Seite das von der chinesischen Tech-Industrie dominierte Netz, auf das Sie in Shanghai Zugriff haben. Welchen Einfluss haben die beiden unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen auf Ihre künstlerische Arbeit?
Miao: Das Internet interessiert nicht, von wo aus ich zugreife. In Shanghai versuche ich immer, Zugang zum westlichen Internet (das dort blockiert wird) zu bekommen. Das wird zwar auch über VPN-Verbindungen immer schwieriger, aber bisher hat es funktioniert. Wenn ich in New York bin, kann ich natürlich auch das chinesische Internet nutzen. Wenn es einen Unterschied gibt, dann den, dass ich China von den USA aus viel klarer sehen kann.
Tollmann: Huawei hat kürzlich ein faltbares Smartphone präsentiert, dessen Display nach außen geklappt wird. Könnte dies als neue Herangehensweise an digitale Bilder und Sichtbarkeit im öffentlichen Raum verstanden werden? Und können Sie sich vorstellen, welche Auswirkungen dies auf die User Culture sowie auf Überwachungs- und Kontrollmechanismen hat?
Miao: Als ich vor vielen Jahren zum Studium in die USA kam, habe ich nicht verstanden, warum Menschen Wäschetrockner benutzen. In China machen wir uns die Sonne zunutze und hängen die Wäsche auf dem Balkon auf, also in der Öffentlichkeit. Die digitale Zukunft Chinas wird mit Sicherheit dystopisch sein. Die Einführung des Sozialkredit-Systems wird zweifellos das Schlimmste sein, was ich je erlebt habe. Ich bin in China aufgewachsen und an öffentliches Anprangern, mangelnde Privatsphäre usw. gewöhnt. Aber ich finde, Big Data in Verbindung mit öffentlichem Anprangern ist noch einmal etwas anderes.
Tollmann: Ich erinnere mich an Proteste gegen die chinesische Internetpolitik, etwa den Studenten, der 2011 seinen Schuh auf Fang Binxing geworfen hat, den sogenannten „Vater“ der Firewall. Gibt es heute auch Proteste, die in der globalen Berichterstattung nicht erwähnt werden?
Miao: Daran erinnere ich mich auch! Aber heute ist alles ganz anders. Die GFW (Große Firewall von China) existiert in dieser Form nicht mehr. Alles wurde ersetzt, und man weiß gar nicht mehr, wo die Mauer beginnt.
Tollmann: Folgen Werbung und Propaganda denselben Regeln? Sie haben ja mit Bildmaterial aus beiden Bereichen gearbeitet?
Miao: Ich denke, Tech-Firmen sind in Sachen Propaganda weitaus besser, sowohl in den USA als auch in China.
Tollmann: Um auf Ihre Installation Chinese Dream zu sprechen zu kommen: Verweist die darin verwendete Matratze auf das Thema Obdachlosigkeit, auf Menschen, die auf der Straße leben und in „Möbeln“ aus Werbung, Bushaltestellen und Ähnlichem Schutz und ein Gefühl von Sicherheit finden? Dachten Sie dabei an die sozialen Spannungen zwischen den sehr Reichen und den sehr Armen?
Miao: In China gibt es die Reichen, die Armen und Vetternwirtschaft. Reiche, die keine Beziehungen haben, dürfen auch auf meiner Matratze schlafen. Der „Chinesische Traum“ geht nur im Traum in Erfüllung.
Tollmann: Sie arbeiten gerade an einem neuen Werk über die Auswirkungen des Sozialkredit-Systems. Wie untersuchen Sie dieses System? Ist es wirklich allgegenwärtig? Und wie gehen die ChinesInnen damit um? Ist es zum Beispiel mit den Facebook-Untersuchungen zur Manipulation von Gefühlen und personalisierter Werbung vergleichbar?
Miao: Was Technologie angeht, bin ich generell eine Optimistin, sogar in China mit all den Problemen rund um die GFW (Große Firewall von China). Aber was das Sozialkredit-System angeht, bin ich ganz und gar pessimistisch. Ich möchte das nicht vergleichen, denn gemessen an dem, was Big Brother mit Big Data anrichten kann, ist Facebook reine Spielerei. Der Ausblick auf die zukünftige Entwicklung in China stimmt mich sehr traurig.
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Übersetzt von Gülçin Erentok