Heft 3/2019 - Lektüre



Jean-Luc Nancy:

Noli Me Tangere und Sexistenz

Noli Me Tangere (2008) Übersetzt von Christoph Dittrich, Sexistenz (2019) Übersetzt von Thomas Lausten

Zürich/Berlin (Diaphanes) 2008 , S. 75 , EUR 18

Text: Gislind Nabakowski


Tizians Gemälde Noli me tangere von 1514 fußt auf dem Johannes-Evangelium: Als Maria Magdalena am Ostermorgen Jesu’ Leichnam salben will, ist das Grab leer. Entsetzen. Der junge Tizian formuliert in dem Hochrenaissancemotiv die Differenz der Figuren. Im Garten Gethsemane begegnet Maria Magdalena dem Gärtner. Was er mit dem Toten tat, fragt sie ihn. Als er sie mit ihrem Namen ,,Maria!“ anspricht, erkennt sie Christus in ihm.
Eine für beide zugespitzte Interaktion zeigt Tizians Gemälde. Der christliche Satz Noli me tangere, Berühre mich nicht, in Luthers Version Rühre mich nicht an, entspricht nicht dem griechischen Original Mè mou hapto. Haptein bedeutet vielmehr auch festhalten. Die Alternativdeutung, mit der Jean-Luc Nancy philosophisch argumentiert, ist: Halte mich nicht fest, halte mich am Weg zur Auferstehung nicht auf. Zur Erklärung der Szene nutzt Nancy den sprachlogischen Begriff des Oxymorons. So nennt man zugespitzte, sich ausschließende Widerspruchsfiguren: Maria begehrt Christus. Sie berührt ihn, obgleich sie dabei inbrünstig zum Himmel blickt. Er weicht aber mit dem halben, vom Tuch umschlungenen Körper der Berührung aus.
Jean-Luc Nancy, der sagt, dass Tizians Gemälde nur einen sehr kurzen Moment aufgreift, findet zur zusätzlichen Gleichnisvertiefung: Er macht den im Begehren nicht Besitz ergreifenden Gestus zum humanen Grund für jede Berührung. Biblische Gleichnisse definiert er als Bilderformeln mit prinzipiell moralischem Überschuss. Nicht nur Tizian setzte sich aufmerksam gegenüber den muskulös paternalistischen Mannsbildern von Michelangelo ab. Auch Nancy verlässt den exegetischen Reduktionismus bibelbezogener Patriarchate. So betonen beide, Maler und Philosoph, den Frohsinn. Denn, es soll und kann nicht berührt werden, weil der auferstandene Leib tatsächlich nicht mehr berührt werden kann. Sinnliches Interesse und christliche Furcht davor zeigen sich auch im Bild? Das Prinzip des leichtfüßig schwebenden Essays ist sehr zu loben.
In der Neuerscheinung Sexistenz spielt Jean-Luc Nancy auf der Klaviatur des Wissens, um Massen an mächtigen, kulturellen oder medialen Hindernissen, Entfesselungen und Exzesse des sexuellen Genusses in Schriftsprache zu pressen. Welche Worte findet er für etwas ihr derart Entschlüpfendes?
Sex ist eine Folge des Überraschtseins durch einen Drang. Er ist Folge des Begehrens, der ein Trieb ist, nicht umgekehrt. Zunächst, das Buch differiert nicht zwischen schwul, lesbisch, heterosexuell usw. Von singulären Vielheiten können wir immer ausgehen. Schon 2012 wandte sich Jean-Luc Nancy mit Es gibt Geschlechtsverkehr gegen das Axiom des Pariser Psychoanalytikers und Freudianers Jacques Lacan „Es gibt keinen Geschlechtsverkehr.“ Auch das neue Buch Sexistenz dominiert durch kein wissendes Zentrum; es sammelt Wortzusammenhänge, verschiebt sie, verknüpft sie, öffnet Leerstellen, löst sie wieder auf. Es ist wie ein Greifen nach, ein sich verausgabendes Sagen von schwer „sagbaren“ Phänomenen.
Ein Punkt ist, dass wir in üblen Kapitalzeiten, in außerordentlich brutalen und gefräßigen Konsumzeiten leben, dass „der Sex“ eine „Wegkreuzung“ ist, dass er Kriegsgeschehen und Genuss begleitet. Sexualisierte Gewalt, auch Vergewaltigung, ist Auslöschung und Negation von Sex, Person und Sprache. Einwenden könnte man, Sex und Konsum sind (leider) verschwistert. Es gibt Formen des Widerwillens, des Verdrusses, des anonymen „no satisfaction“ oder des Mangels „sex is so nothing“. „Sex is so abstract“, behauptete Andy Warhol. Der Popstar ließ im Experimentalfilm einen Schauspieler mit der Colaflasche masturbieren. Waren sie alle Unternehmer in eigener Sache? Nancy setzt Zärtlichkeiten wie kurze Liebesprosa von Walt Whitman dagegen. Es gibt Wörter, die für Sex zu kulinarisch oder zu himmlisch sind, heißt es gleich danach. Es geht einfacher: „Lass die Küsse Küsse sein, deine Finger lass sie wandern.“ (Sergeij Jessenin, 1925) Der sexuelle Trieb freut sich am Diesseits. Er möchte sich in der Lust fühlen.
Im Vagabundieren zwischen Liebenden liegt die Stärke des Texts. Kapitelweise zeigt er Chronologie, aber keine Anthologie. Er zitiert, kommentiert, wandert von Ohr zu Ohr, von Lippen zu Lippen, bleibt in der Nähe von beiden. In der Ziellosigkeit und Mannigfaltigkeit der Formen, sagt Nancy, haben Sex und Sprache Gemeinsames. Eine Kleinigkeit. Beide verweisen auf Zweckhaftigkeit ohne Zweck, während sie auch Getrenntes haben. Auch Sprache geht aus dem Begehren hervor. „Eine Blume“, „ich begehre dich“, ,,Hallo!“ sind immer Vergegenwärtigung, Regung, Klang, ein Leben, Leidenschaft. „Sex begafft uns wie … Schöpfung“ heißt es zum Kontext des von Gustave Courbet hinterlassenen, zugleich fiktionalen, später fragmentierten Gemäldes Ursprung der Welt.
Ins Buch gestreut findet man Zoten, Tragikomik, Humor und Witz. Zu Shakespeares Zeiten nannte man (egal welches) Geschlechtsteil thing. Und: „Im Othello sagt Emilia zu Jago, sie habe ‚something for you‘ – ein Taschentuch. Er hält es für ein sexuelles Angebot.“ Shakespeares Negativfigur Jago war ein Intrigant.
Der Autor weiß um ulkig geplauderte Schwatzhaftigkeiten, Illusionen, Triviales, auf dass er gern mal exzessiv philosophische Finessen zum Sex artikuliert. Während auch von der allgemeinen Kontrolle des Sex die Rede ist, sind die 29 Buchkapitel oft amüsant. Die Nachricht, dass noch eine andere Fortsetzung folgt, findet man in der Fußnote: „Wir müssten an anderer Stelle die Herkunft des christlichen Begehrens – zwischen griechischem Eros und biblischem Geschlecht – selbst untersuchen, wie auch die muslimischen Ausführungen über das Begehren.“