Heft 3/2019 - Lektüre



Jürgen Link:

Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne Krise, New Normal, Populismus

Göttingen (Vandenhoek & Rupprecht) 2018 , S. 74 , EUR 52

Text: Michael Hauffen


Die kritische Theorie des Normalismus als Versuch einer Generalkritik gesellschaftlicher Machtstrukturen mag ein theoretischer Sonderweg sein, sie wartet aber mit einer Fülle von Einsichten, Belegen und Konzepten auf, die den Anspruch eines solchen Unternehmens rechtfertigen. Insbesondere widmet sich das neue Buch von Jürgen Link an vielen Stellen einer Auseinandersetzung mit dem Konzept der Multitude (Hardt/Negri), demgegenüber es auf mehr empirischer Überprüfbarkeit und konkreteren Handlungsoptionen insistiert. Detaillierte Anwendungen der entwickelten Diskurskritik erstrecken sich außerdem bis hin zu Szenarien der jüngsten Gegenwart.
Der Theoretiker verfolgt das Konzept bereits seit seiner Zeit als Student von Michel Foucault, hat die Aufstände des Pariser Mai 68 miterlebt, und auch das ist eine Realität, deren Potenzial seine Analysen sowohl verteidigen, als sie auch die Gründe für ihr Scheitern in einen Gesamtzusammenhang stellen, der einer bis heute dominierenden Logik gehorcht. Soweit sich die vielen verschiedenen Stränge des Buchs zusammenfassen lassen, geht es um die Idee, dass für die Steuerung gesellschaftlicher Prozesse ein zentrales Dispositiv maßgeblich ist, was vor allem die Möglichkeit impliziert, Krisensituationen, die sich in einem Teilprozess entwickeln, mithilfe von Ressourcen aus anderen Teilen zu korrigieren. Akteure sind dabei nicht nur politische, militärische oder finanzökonomische Eliten, sondern auch alle anderen, die sich an Normalitäten orientieren, und das waren etwa im Frankreich des Jahres 1968 die großen Gewerkschaften, die eine „Retour à la normale“ forderten.
Mit traditioneller marxistischer Kapitalismuskritik genauso wie mit anderen dialektisch argumentierenden Auffassungen, die einen Grundwiderspruch als entscheidendes Moment für durch Krisen erzwungene Systemwechsel unterstellen, kommt man gegen diese Logik nicht an, die übrigens auch für die Versprechungen der Sozialdemokratie seit ihren Anfängen von zentraler Bedeutung ist.
Mit der Einsicht, dass die moderne Gesellschaft aus verschiedenen autonom prozessierenden Systemen besteht, radikalisiert der Normalismus die Systemtheorie von Niklas Luhmann, was einerseits ihrer Unterbelichtetheit in Bezug auf den Begriff der Normalität selbst, andererseits der Vernachlässigung militärischer Komplexe geschuldet ist. Ähnliches kann man auch für die medialen Diskurse behaupten, in denen der Begriff des Normalen häufig verwendet wird, ohne hinterfragt zu werden. Und nicht nur dieser Begriff, auch seine operativen Elemente, nämlich Kurven, Verteilungen und Häufungen, die auf erhobenen Daten basieren, spielen in diesen Diskursen bekanntlich eine große Rolle, etwa wenn die Rede von der Mitte, vom Auf- oder Abschwung, von Trendabweichungen oder einem Kippen der Balance ist.
Wichtige Kapitel werden auch den eher metaphorisch abgeleiteten Narrativen gewidmet, die eine zentrale Position einnehmen, insbesondere diejenigen, die mit dem Auto, und vor allem mit (gefährlichen) Fahrten zu tun haben. Es sind Situationen, in denen es um Handlungsbedarf geht. Da ist von „Gas geben“, „Bremsen“ und „Gegensteuern“ die Rede oder auch von „Fahrt aufnehmen“. Nicht nur im Kontext wirtschaftlicher Entwicklungen wird eine kontinuierlich aufwärts gerichtete Bewegung angestrebt, also ein konstantes Wachstum, in dem sich verschiedene Phasen (Aufschwung, Abflachung, Rezession) abwechseln, wobei die Ideallinie eine langsam ansteigende Schlangenform bildet. Die Wette darauf, dass sich mit adäquaten Maßnahmen eine solche Aufwärtsbewegung dauerhaft realisieren lässt, scheint heute zumindest in den Köpfen der globalen Eliten ungebrochen attraktiv, wobei zwar Krisenszenarien einkalkuliert werden – unter dem Begriff „New Normal“ haben Grad und Häufigkeit dieser erwarteten Krisen nochmals zugenommen –, jedoch grundsätzlich von der Beherrschbarkeit drohender „Entgleisungen“ ausgegangen wird.
Mit Verweis auf den Club of Rome und seine These der „Grenzen des Wachstums“, die seit den 1970er-Jahren im Raum steht, bestreitet Link diese Erwartung, und hier kommt der Begriff des Antagonismus ins Spiel. Mit Antagonismus wird die Tatsache bezeichnet, dass ein gesellschaftlicher (Produktions- oder Reproduktions-)Prozess durch einen Widerspruch zwischen den daran beteiligten Akteuren gekennzeichnet ist, der auf Dauer zu einem endgültigen Kollaps führen muss.
In den immer wahrscheinlicher werdenden gesellschaftlichen Ausnahmesituationen könnten sich Massen bilden, die zu radikalen Veränderungen der herrschenden Ordnungen bereit wären, so die Hoffnung. Dafür werden dann alternative soziale Modelle vorgestellt, die ein Zusammenspiel verschiedener Prozesse jenseits von Normalität möglich erscheinen lassen. Allerdings zeichnen sich derzeit mit der Bildung von rechten Blöcken andere Negativszenarien ab, auf die ebenfalls eingegangen wird.
Das Thema wäre nicht umfassend erkundet ohne die moderne Subjektivität, die an die globale Regelung der Reproduktionskreisläufe angepasst ist. Vor allem in den ausführlichen Literaturanalysen, die dominante Motive, Ängste und Pathologien nachzeichnen, kommen auch jene Grenzerfahrungen zu Wort, die außerhalb des Bereichs des Normalen liegen. Was sagbar ist, reicht hier zwar ein Stück weiter, allerdings in einer subjektiven Verklärung, die eine Diskurstheorie erst wieder zu objektivieren hat. Und wenn Jürgen Link sein Unternehmen als dissident bezeichnet, dann, weil es ihm darum geht, ein Denkmodell zu entwickeln, das jenseits von Normalität operationsfähig bleibt, ohne in letzter Instanz Krieg und Zerstörung akzeptieren zu müssen.