Heft 3/2019 - Artscribe


Radicalism in the Wilderness: Japanese Artists in the Global 1960s

8. März 2019 bis 9. Juni 2019
Japan Society Gallery / New York

Text: Elizabeth M. Grady


New York. Als er am 1. Juni 1964 morgens aufwachte, hatte der Künstler Matsuzawa Yutaka (1922–2006) eine Eingebung. Eine Stimme befahl ihm: „Das Materielle weglassen.“ Der seit seinem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten von 1955–57 relativ isoliert arbeitende Matsuzawa nahm sich das zu Herzen und widmete sich fortan der reinen Konzeptkunst. Interessanterweise hörten gleichzeitig weltweit zahllose KünstlerInnen auf, Objekte herzustellen.
Im Zuge seiner Recherchen zur noch unentdeckten Avantgarde im noch halb landwirtschaftlich geprägten Japan der 1960er- und 1970er-Jahre führt der Kurator Reiko Tomii den Begriff „kokusaiteki dojisei“ ein, der so viel wie „internationale Gleichzeitigkeit“ bedeutet. Er schreibt, es habe damals ein grenzübergreifendes Netzwerk künstlerischer Parallelströmungen gegeben, das ähnlich wie heute die sozialen Medien funktioniert hätte. So zeigt die Ausstellung Radicalism in the Wilderness: Japanese Artists in the Global 1960s ein eigenartiges Paradox. Obwohl der konzeptuelle Ansatz der gezeigten Kunstwerke durchdacht und kühn jede Materialität verweigert, diente er seinen VertreterInnen doch in erster Linie dazu, sich ihren Freiraum fernab des künstlerischen Zentrums Tokio zu schaffen. Großteils hielten sie sich fern von Anerkennung durch Institutionen und Öffentlichkeit und blieben lieber in „splendider“, wenngleich nicht völliger Isolation, die ihnen einen physischen wie denkerischen Raum zur Entfaltung ihrer idiosynkratisch esoterischen, aber dennoch avantgardistischen Kunst ermöglichte.
So entwickelte Matsuzawa in seinem Haus in Shimo Suwa 1958 auf der Grundlage der Parapsychologie, an der er in den USA zuvor Interesse gefasst hatte, eine eigene Psi-Theorie. Er versammelte all seine surrealistischen Assemblagen, Collagen und Zeichnungen zu einem riesigen Environment, dem Psi Zashiki Room, der in der Kunstszene alsbald zu einem Faszinosum wurde. Betrat man ihn, so war es, als beträte man direkt, wie auch von Nakajima Ko in der Kunstzeitschrift Bijutso Techo 1969 fotografisch festgehalten, die Gedankenwelt des Künstlers.Nach seiner Eingebung im Jahr 1964 schuf Matsuzawa konzeptuelle Ausstellungen „formloser Emissionen“, bei denen man aufgefordert war, sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort einzufinden und ein imaginäres Kunstwerk mitzubringen. 1967 folgten weiße Kreisgemälde, die japanisch „kan-nen“ genannte meditative Visionen erleichtern sollten und die er später auch zwecks Meditationshilfe als Ansichtskarten verschickte. Diese Arbeit fand Anklang wiederum bei Adriaan van Ravesteijn von der Art and Project Gallery in Amsterdam, als er 1970 Japan bereiste. Nach einem Besuch von Shimo Suwa widmete der Galerist Matsuzawa die gesamte 21. Ausgabe seines Galerienbulletins, was Gemeinschaftsarbeiten mit europäischen und amerikanischen KonzeptkünstlerInnen wie Stanley Brouwn, Gilbert and George, Lawrence Weiner, Hanne Darboven oder John Baldessari zur Folge hatte.
Die aktuelle Ausstellung verblüfft auch mit einer großen Brief- und Telegrammsammlung, die das Ausmaß dieses Künstlernetzwerks, die gegenseitige Unterstützung von KünstlerInnen und GaleristInnen sowie die weit über die geografische Isolation hinausreichenden Kontakte dokumentieren. Oft handelt es sich dabei um Kunstwerke im genuinen Sinn, entsprachen sie doch dem damaligen radikal experimentellen Zeitgeist.
Die Gruppe Ultra Niigata oder GUN, zu deren wichtigste Vertreter Maeyama Tadashi und Horikawa Michio zählen, war ein Kollektiv aus der Präfektur Niigara, das aus Geldnot in der unwirtlich schneereichen Landschaft ihrer Heimat arbeitete. Diese Gruppe schuf Mail-Art, indem sie Flusskiesel aus der Gegend an Berühmtheiten aus der Kunstwelt und Politik schickten. Inspiriert durch Fotos von Arbeiten Dennis Oppenheims, die sie in Zeitschriften fanden, inszenierten sie auf dem zugefrorenen Fluss Shinano 1970 den Event to Change the Image of Snow, bei dem sie in breiten Streifen Farbpigment versprühten. Die Performance dauerte kurz, weil alles in nur einer halben Stunde zugeschneit wurde, aber die üppigen Farben und die Dimension des Werks zeugen nicht nur vom Ehrgeiz der GUN, sondern auch davon, dass Konzeptkunst sogar ohne direkte Kontakte ins Ausland entstehen konnte.
Die Ausstellung schließt mit The Play, einem 1967 in Kobe gegründeten Kollektiv, das für die Befreiung des Bewusstseins im Alltag und gegen die materialistische Selbstzufriedenheit kämpft. Seit 1968 entstehen – anlässlich von Bootsreisen, mehrtägigen Wanderungen oder anderen kontemplativen Erlebnissen – ihre „Voyages“. Diese Reisen dienen der Gruppe dazu, die Langsamkeit phänomenologisch besser erkunden zu können. Die Distanz zu zentralisierten Institutionen, aber auch die Entschleunigung werden hier bewusst für eine widerständige und alternative Kunst eingesetzt, wenngleich The Play mittlerweile sogar auf der Venedig Biennale ausstellt.
Die von Tomii beschriebene internationale Gleichzeitigkeit ist rhizomatischer Natur. Nicht selten wird in den historischen Standarddarstellungen der Konzeptkunst übersehen, dass sie über Staatsgrenzen hinweg wirkte. Dabei folgte sie einem scheinbar zufällig erratischen Muster, das den Resonanzen zwischen den KünstlerInnen und ihrer Großzügigkeit gegenüber dem Werk der anderen entgegensteht. Die Bildung eines weltweiten Netzwerks unabhängiger DenkerInnen ermöglichte diesen, die Machtkanäle zu umgehen und sich stattdessen in ihren konvergenten Interessen zu finden. Das informelle Netzwerk machte nicht nur eine weltweite Kommunikation möglich, sondern auch eine Kompromisslosigkeit, was die künstlerische Form betraf. Ihr Austausch und ihre Zusammenarbeit können als Form des Widerstands gesehen werden – und als Chance, in einem selbst abgesteckten Kontext radikal zu handeln, wenngleich dieser Kontext nie ganz ohne Verbindung zu den Kunstzentren war.
Vor dem Hintergrund der neuen Nationalismen samt dazugehöriger Bedrohung durch aktive oder faktische Repressionen sind die ausgestellten „Radikalen in der Wildnis“ jedenfalls ein wichtiges historisches Vorbild für die Kraft des gemeinsamen Denkens und Handelns über geografische, nationale und kulturelle Grenzen hinweg. Und diese Kraft ist im digitalen Zeitalter greifbarer denn je.

 

Übersetzt von Thomas Raab