Barcelona/Stuttgart. Beim Klettern einen Strommast hinauf verlor die als Ernst Lorenz Böttner geborene deutsch-chilenische Künstlerin (1959–1994) im Alter von neun Jahren beide Arme. Schon ein Jahr zuvor hatte sie den Wunsch geäußert, eine Frau zu sein, wie sich ihre Mutter erinnert. Eine Faszination für den Berufswunsch Tanz hatte er/sie auch. Zur Eröffnung der Paralympics 1992 schlüpfte sie in Barcelona in die armlose, von Javier Mariscal entworfene ,,Maskottchenrolle Petra“. Lorenza Böttner geriet in Vergessenheit, nachdem sie 35-jährig an Aids starb. Von 1978–1984 studierte sie Kunst in Kassel. Hoffend, an der documenta 8 (1984) teilzunehmen, adressierte sie an die Institution vergeblich viele Briefe. Ihr Wunsch wurde posthum erst erfüllt, als 2017 der documenta Co-Kurator, Transgenderaktivist und studierte Philosoph Paul B. Preciado (Spanien) von ihr dort eine große Arbeit zeigte.
Jetzt organisierte der als Beatriz Preado geborene, der im Jahr 2000 das Kontrasexuelle Manifest herausgab, die umfassende Ausstellung Requiem für die Norm, die in Zusammenarbeit mit La Virreina Centre de la Imatge in Barcelona entstand, wo der erste Teil dieser internationalen Retrospektive zu sehen war. Im Württembergischer Kunstverein Stuttgart sind 200 Zeichnungen in Bleistift, Kugelschreiber, Wachs, Pastell, Ölmalerei, farbige und Schwarz-Weiß-Fotos, Videos, Briefe und Dokumente zu sehen, mit denen Ernst/Lorenza Böttner auf in gesellschaftlichen Strukturen waltende Normen reagierte. Mit ihrer Kunst baute sie im Alleingang in Konsumzonen, auf Plätzen und Straßen ein herausforderndes Living-Theatre auf. Anders als StraßenmusikantInnen wurde sie, ihre Bilder mit anderen teilend, singulär zum Plural.
Aufgewachsen als ,,Behinderte/r“, der/die, wie Contergankinder Ausgrenzung erfuhr, ist ihre Kunst eine harte Auseinandersetzung mit Versehrtheit und Transgender. Nochmals zum Unfall: Beim Erklettern des erwähnten Strommasts verteidigte eine im Nest erschreckte Vogelmutter ihre Brut. Bestürzt nach Stromkabeln greifend, hantelte sich das Kind davon. Wegen schwerster Verbrennungen mussten ihm beide Arme bis zu den Schultern amputiert werden: Schocks, Traumen, die fortan zu verarbeiten und als Versöhntes in das Leben einzuflechten waren. Wer ist nun der vom Schock veränderte Körper? Wenn Lorenza ihre Malutensilien mit dem Mund und zwischen den Zehen führt, entdeckt sie ihre als Instrumente bestens sensibilisierten Feinmotoriken.
Im großen Viereckssaal des WKV sieht man eine klar gegliederte, sehr ruhige Ausstellung. Sich als Körperwesen erfassend, holt sie sich eine Vielheit von Körpern auf Papier und in Skulpturen zurück. Sehend, dass sie bei der Arbeit alle anderen anstarrten, lernt Lorenza es, ihre Urteilskräfte in erotische Wirkungen zu verwandeln. Sie zeigt Nacktheit, Schutzlosigkeit, gelegentlich ihre Hüllen fallen lassend.
Medizinische Eingriffe, auch Armprothesen sowie Geschlechtsumwandlung lehnte sie ab. Aufgefächert wird nun ein episch breites wie eposidenhaftes Spektrum an Genderidentitäten, das nicht in Therapien von Sozialwerkstätten gepflegt wird. Vieles dreht sich um Gliederungen, Rhythmen, Verwandlungen, um Selbstporträts, die wegen des Ausschnitthaften als Fragment partiell außerhalb des Kindheitsunglücks stehen. Motiviert von Körperträumen posiert sie in Mises-en-scènes und bringt wollüstige Metamorphosen und Maskeraden von ,,Klassik“, Kanons und Normen hervor, die sie spielerisch revisionierend neu definiert. Auf ihre Invalidität antwortet sie mit anmutigen Umformungen: Christus, Pietà, Ikarus, lockende Verführerin oder ein groteskes Sado-Maso-Monument (Zeichnung), in dem ein monumentaler, phallischer Technokörper aus Jux eine kleine Frau emporhebt. In diesem comicnahen Beispiel ging es darum, in krasser Manieriertheit hochmütige Gendergewissheiten karikierend aufzulösen.
Dass ihre Transgenderbilder stets Auftritte mit attribuierten Accessoires sind, ist eine distinktive Beigabe der Normen-Society, aus der wir ausgrenzendes Gesellschaftswissen beziehen. Ihre Lorenzen halten dagegen. Um erotischer Homogenität zu entgehen, nutzt sie allerlei: einen Männervollbart, ein Buch, eine Tulpe, sodann als Frau ein Kleinkind mit der Flasche nährend, die Nuckelflasche mit der linken Wange und dem Armstumpf stützend, flotte Ballkleider, schillernde Federboa, Pumps, Damenstiefel, gerne die von ihr selbst entworfene Mode usw. Das Klare ihrer steten Wandlungen mutiert so zur Normalität ihres unverwechselbaren Alltags. Unschuldsblicke auf Schultern (wir kennen solche aus der Kunstgeschichte und von etlichen Modelbildern, die mit Adoleszenz umgehen) wandelt sie, auf diesem Weg Mitleid verneinend, zur Koketterie auf ihre fehlenden Armgliedmaßen.
Lorenza Böttner entgrenzt Fantasien: Ego Sum. Sie kann als Menschenkind andere nicht liebend umarmen. Sie ist zwar dieses Berührens, das anderen gewiss ist, beraubt, jedoch nicht des Vermögens des ästhetischen Gestaltens. Weil sie mit dem Mund und den Zehen zeichnete und malte, können wir außerdem hier gar nicht von Handwerk sprechen. Von Prathap Nair wurde in Hyperallergic ihr eigenwilliger Körper, der die Behinderungen ihres schmalen Transkörpers und die Schönheit ihrer langen Haare in Kunst verwandelte, ohne dadurch ihre soziale Präsenz zu neutralisieren, mit einer bloßen Ähnlichkeit zur Figur der ,,Mermaid“ verglichen.1
Wir sind im Reich der Bilder und Texte. Das hier ist mal wieder kein Exhibitionismus. Warum, so wird explizit gefragt, definieren wir denn die armlose Skulptur der antiken Venus von Milo als Schönheitsideal? Nicht aber einen solchen Körper? Die meisten Leihgaben kamen von FreundInnen und aus dem großen von ihrer Mutter in München bewahrten Fundus. Gut möglich, sagen Iris Dressler und Hans D. Christ, dass noch weitere Kunstwerke von ihr auftauchen, weil sie viele Zeichnungen gleich auf der Straße verkaufte.
Die Ausstellung war von 7. November 2018 bis 3. Februar 2019 im La Virreina Centre de la Imatge, Barcelona zu sehen.