Heft 3/2019 - Freedom Africa


Schlussstrich und Neubeginn

Felwine Sarrs Afrika-Utopie und die damit verknüpfte Rückgabe geraubter Kulturgüter

Peter Kunitzky


Selten war Emmanuel Macron wohl so mit sich im Reinen wie am 28. November 2017. Denn er wusste, dass er gerade im Begriffe stand, jenes hehre Bild, das er der Welt von sich entworfen hatte, mit Leben zu füllen, und das hieß für ihn: alte Zöpfe abschneiden, die verqueren Verhältnisse umwälzen und zum Besseren wenden, etwas Geschichtsträchtiges vollbringen. Und an historischer Tragweite mangelte es dem, was er an diesem Tag in der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou verkünden sollte, in der Tat nicht, erklärte er doch nichts weniger als die Absicht Frankreichs, innerhalb der nächsten fünf Jahre dafür Sorge tragen zu wollen, das „afrikanische Erbe zeitweise oder endgültig an Afrika zu restituieren“. Eine geradezu unerhörte Ansage, war doch Frankreich diejenige Nation, die sich über ein halbes Jahrhundert lang gegenüber allen Forderungen dieser Art, und die wurden vielfach schon sehr früh von den einzelnen ehemaligen Kolonien erhoben, beharrlich taub stellte; die etwa Ende der 1970er-Jahre, als sich die UNESCO, unter dem Drängen ihrer Mitgliedsstaaten, mit Nachdruck der Sache annahm, auf unwürdige juristische Winkelzüge setzte, um sich weiterhin aus der Affäre ziehen zu können; und die sogar noch 2016, also nur ein Jahr vor Macrons unerwarteter Kehrtwende, als die Republik Benin die Rückgabe ehemals geraubter Werke forderte, zwar die grundsätzliche Legitimität des Anspruchs anerkannte, aber trotzdem darauf pochte, dass die Objekte bereits vor langer Zeit in den nationalen Kulturbesitz übergegangen und daher unveräußerlich seien.
Was Macron nun zu dieser Absichtserklärung bewogen haben mag, bleibt bisher im Dunkeln. Vielleicht verband er damit die außenpolitische Hoffnung, sich die immer weniger frankophile afrikanische Jugend, die ihm endgültig von der Fahne zu gehen drohte, noch einmal gewogen machen zu können. Oder er gedachte – das wäre die innenpolitische Sichtweise – damit der afrikanischen Diaspora in Frankreich eine Botschaft zukommen zu lassen. Idealerweise wollte er aber auch – durchaus im Sinne der Staatsräson – einen Schlussstrich unter die belastende Kolonialvergangenheit Frankreichs ziehen und sich hierdurch von allen Rechtfertigungsnöten freimachen. Wie immer es um seine Beweggründe bestellt gewesen sein mag – die Zeit schien jedenfalls reif für einen solchen Schritt, nahm der öffentliche Druck in dieser Angelegenheit doch spätestens seit den 2010er-Jahren merklich zu: Die Restitutionsfrage beschäftigte da nämlich nicht nur vermehrt politische Kreise, sondern stand zunehmend auch auf der Agenda von aktivistischen und akademischen Zirkeln; und sie fand sich als Thema in der Hoch- sowie Populärkultur wieder, man denke beispielsweise an die letzte documenta, die eine Engführung kolonialer Raubzüge und nazistischer Plünderungen vorsah, oder an Blockbuster wie Chinese Zodiac (2012) und Black Panther (2018), in deren jeweilige Dramaturgie das Motiv „Raubkunst“ mal mehr, mal weniger prominent, das heißt handlungstreibend, eingearbeitet war.
Macrons vollmundige Ankündigung blieb jedenfalls nicht ohne Folgen, nicht einmal beim alten rechtsrheinischen Nachbarn: So kehrte in ihrem Nachgang plötzlich auch Deutschland von seiner lange geübten Blockadetaktik ab, indem die Staatlichen Museen zu Berlin einbekannten, dass sich ein Teil ihrer ethnografischen Sammlungen, die demnächst im unseligen Humboldt Forum eine neue Heimat finden werden, durchwegs auch militärischen Plünderungen verdankt. Und im eigenen Land initiierte Macron, Mann nicht nur schöner Worte, sondern auch der Tat, einen Restitutionsbericht, der letzten November im Original erschien und nun auch auf Deutsch vorliegt.1 Darin geben die beiden AutorInnen, der senegalesische Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr und die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, einen Abriss des modernen staatlichen Kunstraubs seit 1800 einschließlich der Nicht-Geschichte der Restitution an die ehemaligen Kolonien, zeigen die Verzahnungen zwischen der französischen Kolonialverwaltung und dem Aufbau der afrikanischen Kunst- und Kultursammlungen in den staatlichen Museen des Mutterlands auf und legen einen (zeitlichen, rechtlichen und finanziellen) Rahmen fest, in dem die Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes stattfinden könnte.
Von besonderem Interesse scheint vor allem jenes Kapitel, in dem um die eigentliche Definition des Begriffs „Restitution“ gerungen wird; wo also danach gefragt wird, ob und wie eine praktische (zum Beispiel das Problem der Konservierung hinreichend beachtende) und vor allem symbolische Wiederaneignung erfolgen kann. Eine weitgehend reibungslose Rekontextualisierung dürfte dabei wohl in Fällen, in denen die Objekte auf eine lebendige Tradition treffen, die die Erinnerung an sie durch die Zeiten bewahrt hat, ohne Weiteres möglich sein. Aber was, wenn Gemeinschaften um den erlittenen Verlust gar nicht wissen, weil das Vergessen sein zersetzendes Werk getan hat? Dann stehen sie gleich vor zwei großen Herausforderungen: der Rekonstruktion ihrer Erinnerung und der semantischen Neucodierung der Objekte ihres Kulturerbes, die ja von den europäischen Museen in ihre Diskurse über die afrikanischen Gesellschaften eingespeist wurden. Kurzum, diese Gesellschaften müssen dann die Kontrolle über ihr eigenes Narrativ zurückgewinnen bzw. erst ihr eigenes Narrativ schaffen, indem sie tief in ihre Vergangenheit eintauchen und ihre Kultur erneut wertzuschätzen lernen.
Wenn ihnen das gelingen sollte, wenn sie sich wieder auf ihre eigenen Wurzeln besinnen und die ihnen bloß aufgepfropften Ideologeme des Westens abschütteln könnten, stünde ihnen nicht nur die Zukunft offen, sondern es würde gleich der ganze Kontinent aufblühen. So zumindest die Hoffnung von Felwine Sarr, die er aber nicht in dem Restitutionsbericht äußerte, sondern in dem ursprünglich 2016 erschienenen Buch, das seinen Ruhm begründete, Afrotopia2 einem Manifest, in dem er, wie der Titel bereits andeutet, das Bild eines kommenden Afrikas entwirft, genauer eines Afrikas, das zu sich gekommen ist, das sein eigenes Versprechen erfüllen will. Dazu müsste es sich jedoch, knapp 60 Jahre nach der politischen Unabhängigkeit, zunächst einmal geistig freimachen von der anhaltenden Bevormundung des Westens, die die subsaharischen Staaten auf eine Wirtschaftsweise verpflichtet, die ihnen nicht gemäß ist, denn: „Der Homo africanus ist kein Homo oeconomicus“, wie hier ein eingängiges Diktum lautet; also kein klassischer kapitalistischer Akteur, der, bloß auf seinen eigenen Vorteil bedacht, sein Ziel im größtmöglichen Profit sieht. Weshalb es auch nicht wundernimmt, dass die Parameter, die in diesem System angewandt werden, wie Entwicklung, Wachstum, Fortschritt, welche sich allesamt dem europäischen Rationalismus verdanken und jedes Tun der kalten Quantifizierbarkeit unterwerfen, in den Augen der ehemaligen Kolonialherren nicht die gewünschten Ergebnisse zeitigen. Was Letztere dazu verleitet, leichtfertig und dauerhaft von Krise zu sprechen, dabei geflissentlich unterschlagend, dass sie, durch Jahrhunderte des Sklavenhandels und der kolonialen Knechtung, das Ihre dazu beigetragen haben, diese Staaten ab ovo ins Hintertreffen geraten zu lassen.
Um dieser misslichen Lage entkommen zu können, in die man sich andererseits auch bisweilen selbst begibt, weil man es vielfach liebt, den Westen nachzuahmen, müsste Afrika laut Sarr eine neue Praxis des Wirtschaftens entwickeln, bei der das – alle Lebensbereiche beherrschende – ökonomische Primat durch die Kultur eingehegt wäre, bei der verschüttgegangene Traditionen wieder in den Dienst genommen würden, um Prinzipien wie Freigiebigkeit, Hilfsbereitschaft und Gemeinwohl hochzuhalten. Darauf aufbauen soll eine – dem im Westen aktuell vorwaltenden Neoliberalismus völlig fremde – kommunitaristische Sozialethik, die „allen die Grundlagen des Lebens garantieren“ möchte. Sarr macht sich also für nichts weniger als ein „afrikanisches Zivilisationsprojekt“ stark, will eine „Kulturrevolution“ anschieben, diesmal vielleicht sogar mit einem erfolgreichen „Großen Sprung nach vorn“, das heißt vor die Industrienationen des Westens. Denn die sind gerade selbst bedenklich in die Krise geraten: durch die immer weiter aufklaffende Schere zwischen Arm und Reich, die Instabilität ihrer Demokratien, die von ihrer Marktwirtschaft verursachte Klimakatastrophe. Also: Ex afrotopia lux? Wir werden sehen.

 

 

[1] Felwine Sarr, Bénédicte Savoy, Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter. Aus dem Französischen von Daniel Fastner. Berlin: Matthes & Seitz 2019.
[2] Felwine Sarr, Afrotopia. Aus dem Französischen von Max Henninger. Berlin: Matthes & Seitz 2019.