Heft 4/2019 - Digital Unconscious


Die „Netweird“-Gesellschaft

Über die okkulten Seiten des Netzwerkdenkens

Erik Davis


Um den Geist – jenen der Zeit, aber jeden anderen genauso – zu verstehen, muss man ihn manchmal um Mithilfe bitten. Ich rufe hier also einen meiner Lieblingsgeister an, einen fiktiven Guru, den ich vor mehr als 30 Jahren traf und der mich seither begleitet. Ziemlich am Anfang von Thomas Pynchons Die Enden der Parabel, ihrerseits eine literarische Inkarnation der 1970er-Jahre-Wirrnis, erscheint anlässlich einer Séance in Berlin in den letzten Jahren der Weimarer Republik der Geist des deutschen Politikers Walther Rathenau. In einer von chemischen und okkulten Andeutungen durchsetzten Rede, die er, durchaus passend, vor ein paar um den Tisch versammelten Nazi-Industriellen hält, verkündet er, dass man die dräuenden Zeichen, welche die groben Umrisse der Moderne zeichnen, nur in dämonischer Deutung verstehen kann:
„Diese Zeichen sind Wirklichkeit. Sie sind aber auch Symptome eines umfassenden Prozesses. Dieser Prozeß folgt der gleichen Form, der gleichen Struktur. Um ihn zu begreifen, müssen Sie auf die Zeichen achten. All das Gerede von Ursache und Wirkung ist weltliche Geschichte, und weltliche Geschichte ist ein Ablenkungsmanöver. Nützlich für Sie, meine Herren, doch nicht mehr für uns hier drüben. Wenn Sie wirklich die Wahrheit wollen – eine kühne Vermutung, zugegeben –, dann müssen Sie die Mechanismen dieser Dinge kennen. Hinein bis in das Innerste gewisser Moleküle – sie sind es schließlich, welche die Macht ausüben über Druck und Wärme, Fließgeschwindigkeit, Profit und Kosten, die Gestalt von Türmen ... Sie müssen zwei Fragen stellen. Erstens: Worin besteht die wahre Natur der Synthese? Und zweitens: Worin besteht die wahre Natur der Kontrolle?“1
Um zur Wahrheit zu gelangen, muss man, folgt man Rathenaus Esoterik, als Erstes Ursache und Wirkung der linearen Geschichtsschreibung vergessen. Das wäre die „dämonische Deutung“, wie Stephen Paul Miller sie vorgenommen hat. Sie bedeutet, sich der okkulten Lehre der Zeichen ganz hinzugeben – Zeichen, denen man folgen muss, einzig um zu sehen, wohin sie führen und was sie bewirken. Doch diese Negation der säkularen Geschichte impliziert nicht, dass man der Technik entsagen muss. Die Technik ist nicht säkular, wenigstens nicht völlig. Auch Technik kann eine esoterische Macht entfalten. Die beiden Fragen Rathenaus zielen mit anderen Worten nicht nur auf die Technik, sondern auch auf Spiritualität und Methodik. Was hat es mit der Synthese auf sich, sprich, was bedeutet es, heterogenes Ausgangsmaterial zu realen Dingen zu verbinden, Simulakren zu erfinden, dieses mit jenem zu verschmelzen? Zweitens ist da die noch wichtigere Frage der Kontrolle. Welche Handlungsfreiheiten hat der Mensch angesichts sozialer Programmierung, kognitiver Schemata und all jener namenlosen Kräfte, die das Unbewusste hin und her bewegen? Und was steht eigentlich an der Spitze der Kontrollhierarchie? Was steuert die Ökologie, die kybernetischen Systeme und andere technokulturelle Rückkopplungen? Und wer hat letztlich die Macht? Wer ist verantwortlich?
Das sind wohl die wichtigsten Fragen der Nachkriegszeit, und deshalb spielt Pynchons Roman auch so kurz nach der Erfindung von LSD, CIA und UFOs. In den 1970er-Jahren tat man sich mit diesen Fragen indessen schwer, weil Rathenaus Belehrung erst einmal zu Literatur verarbeitet wurde und sich die Netzwerkeffekte der Nachkriegskybernetik auf die neue Bewusstseinskultur verlagerten, nachdem sich Kybernetik und Bewusstsein schon Anfang der 1970er-Jahre zu mischen begonnen hatten. Beherzigen wir also Rathenaus Aufruf und werfen einen finalen Blick auf die damaligen Technologien, besonders jene der 1970er-Jahre, die neue, teilweise charismatische Bewusstseins- und Kommunikationsmuster bedingten – oder zumindest ermöglichten.

Siehe, das Netzwerk
Was sehen wir vor uns, wenn wir Rathenaus Rat folgen und einen Blick auf die Kontroll- und Synthesemethoden der 1970er-Jahre in den Vereinigten Staaten werfen? In seiner Kulturgeschichte analysiert Stephen Paul Miller dieses Jahrzehnt unter dem Aspekt der Überwachung, deren Ausbreitung naturgemäß eng mit der Entwicklung neuer Technologien zusammenhängt. Die verschwörerische Politik, die den paranoiden Touch von Filmen wie The Conversation oder The Parallax Views (beide 1974) befeuerte, war eine Folge der neuen Methoden, KonsumentInnen zu überwachen, sowie jener Techniken, mit denen Menschen insgesamt besser verfolgt werden konnten.2 Die Erfindung des Produktstrichcodes zum Beispiel machte den Markt transparenter, führte zugleich aber auch zu nachgerade apokalyptischen Fantasien über das neue „Kennzeichen des Drachens“ aus dem 13. Kapitel der Offenbarung des Johannes. Ja, das erfolgreichste Sachbuch der 1970er-Jahre war tatsächlich Alter Planet Erde wohin? des evangelikalen Predigers Hal Lindsey aus dem Jahr 1970, worin dieser dunkel vor einem „weltweiten Computerbanksystem“ und der Ausbreitung des „Heimcomputers“ warnte.
Aber auch ältere Technologien erfüllten immer noch eine prophetische Funktion. Die 1970er-Jahre waren nämlich, so die Historikerin Stephanie Slocum-Schaffer, „der Gipfel der Herrschaft des Fernsehens über die amerikanische Kultur“3. Das Fernsehen hatte endlich fast alle Haushalte erreicht und wurde dabei nicht nur zur beliebtesten Nachrichtenquelle, sondern auch zu einem neuen Gotteshaus, in dem Fernsehprediger wie Jim Bakker ein „Gott-TV“ einzurichten versuchten. Paddy Chayefskys vernichtender Film Network aus dem Jahr 1976 verhöhnte die damals großen Medienkonzerne, wagte aber auch einen Blick in die konspirativen Meetings der Bonzen, wo das Fernsehprogramm festgelegt wurde. Wie beim Strichcode versteckt sich auch hier die reale Macht der Medien hinter paranoiden Kontroll- und Heiligenmythen.
Rückblickend war das Wichtigste an den großen TV-Networks der 1970er-Jahre nicht, dass die Flimmerkiste allgegenwärtig wurde, sondern dass mit ihnen der Begriff und die Form des Netzwerks etabliert wurden. Das Netzwerk ist ein Organisations- und Kommunikationsarchetyp, der sich damals in physischen Technologien, Informationssystemen, hippen Subkulturen und neuen spirituellen (und psychedelischen) Ausdrucksformen zugleich manifestierte. Der „Ground Zero“ dieses Archetyps war natürlich Kalifornien, wo die Bewusstseinsbranche im Zusammenspiel mit den epochalen technischen Innovationen nicht nur zu einem „Netzwerkeffekt“ führten, sondern das Netzwerk an sich zu einem neuen Paradigma historischer Veränderung bzw. zu dem wurde, was Terence McKenna „Neuerungswelle“ nannte.
Moderne Informationstechnologien gab es freilich schon lange, wohl seit Samuel Morse 1844 den Telegrafen erfunden hatte. Fahrt nahmen sie aber erst auf mit der Innovationswelle, die im Zweiten Weltkrieg über die Vereinigten Staaten schwappte, als Kommunikation, Kontrollwahn und Computer eine Mischung ergaben, die fortan unter dem Namen Kybernetik die wichtigste Basis der sozialwissenschaftlichen und institutionellen Macht der USA bildete. Auch die Gegenkultur der 1960er-Jahre ist ohne technische Neuerungen wie das UKW-Radio, das Mehrspurstudio oder den analogen Synthesizer unvorstellbar. Doch in den 1970er-Jahren kam noch etwas hinzu. Dazu schreibt der Soziologe Manuel Castells in seinem berühmten Buch The Rise of Network Society: „Erst in den Siebzigerjahren waren die neuen Informationstechnologien so weit verbreitet, dass sie Synergien entwickelten, sich beschleunigten und zu einem neuen Paradigma wurden“.4
Ein Teil dieser Entwicklung war die Erfindung kleiner „persönlicher“ Computer, die nicht nur die Maschine, sondern auch ihre BenutzerInnen individualisierten.5 Personal Computer waren jedoch nicht so wichtig für die Netzwerkgesellschaft wie die Möglichkeiten, die entstanden, wenn man sie miteinander verknüpfte. Die erste diesbezügliche elektronische Schaltung kam 1969 aus den Bell Labs. Im selben Jahr bereits ging die erste Nachricht durch das ARPANET, den Vorgänger des Internets. Ihr Text, der zu Halloween via Datenpaket von der UCLA an das Stanford Research Institute (SRI) geschickt wurde, bestand aus dem Wörtchen „login“. Wegen eines Netzwerkfehlers kam dort aber nur die kuriose Silbe „lo“ ab. Bedenkt man die erste Nachricht, die Sam Morse mit seinem Telegrafen 1844 verschickte, nämlich „What hath God wrought“6, könnte man behaupten, dass die erste Nachricht über das ARPANET ebenso einmalig wie wirr und biblisch war. „Lo!“ heißt auf Deutsch „Siehe!“ – etwas ist passiert, aber wir wissen nicht was.
Mitte der 1970er-Jahre wuchs das ARPANET durch bessere Netzwerktechnologien wie digitale Switches und wurde damit komplexer. Wichtiger noch war TCP/IP, ein Netzwerkprotokoll, das von ARPA-ForscherInnen am SRI entwickelt wurde. Anstatt nur einzelne Computer zu verbinden, erlaubt TCP/IP verschiedenen Netzwerken, sich untereinander zu vernetzen. Es entsteht ein „Inter-Netzwerk“. In der so typisch kalifornischen Mischung aus Hochtechnologie und Hemdsärmeligkeit demonstrierte das SRI-Team 1976 erfolgreich TCP/IP, indem es das ARPANET mit einem supermodernen elektronischen Sendewagen verband, der vor einer legendären Motorradkneipe im Portola Valley parkte. TCP/IP wurde schließlich als zentrales Protokoll ins ARPANET übernommen. Das Internet ward geboren.
Laut Castells ermöglichte das Netzwerk nicht nur eine Neuorganisation der Informationstechnik. Es implizierte vielmehr eine neue Art, die Gesellschaft zu organisieren und mit ihr auch das Bewusstsein und die Kultur. Abgesehen von ihren neuen technischen Möglichkeiten, wozu auch die Verwaltung der Globalisierung oder, wie es sowohl Marshall McLuhan als auch Philip K. Dick nannten, der „Planetarisierung“ gehörte, führte die Netzwerkgesellschaft auch zu „einer neuen Produktions-, Kommunikations-, Management- und Lebensweise“7. Castells sieht den Keim der Netzwerkgesellschaft in den USA, genauer in Kalifornien, dessen Ethos kreativer Freiheit, individueller Innovation und des Unternehmertums das neue soziale Paradigma hervorbrachte. Doch wenngleich einige der kalifornischen Werte der lokalen Geschichte von Industrie, Universitätsforschung und Public-Private-Partnerships geschuldet sind, kamen andere wiederum eher von den gegenkulturellen Gepflogenheiten, die, wie schon viele HistorikerInnen nachweisen konnten, die Technikszene der San-Francisco-Bay von den 1960er- bis weit in die 1990er-Jahre hinein prägten.8 Das gab der Informationsrevolution, so Castells weiter, jene „kalifornische Note“, welche „die Freizügigkeit, die in den Sechzigerjahren aufblühte, halbbewusst in die materielle Kultur aller Gesellschaften einfließen ließ“9.
Eine technische Folge dieser Freizügigkeit war die Vorliebe für offene horizontale Netzwerke anstatt geschlossener vertikaler Hierarchien.10 Diese Unterscheidung lässt uns auch die Bewusstseins- und Kulturveränderungen besser verstehen, die das Neue, das Nebeneinander sowie die Zersetzung und Verwischung der Tradition forcierten. Auch gibt es Aspekte der Netzwerkgesellschaft, die, wie Castells schreibt, mit einigen der esoterischen Motive korrespondieren, mit denen ich mich hier auseinandersetze. Zunächst wird Information zu einer Sache, ja zu einer fast metaphysischen Substanz, die durch ihre technische Umsetzung in Netzwerken das Dasein der Einzelnen und des Kollektivs massiv prägt. Diese sogenannte „Netzwerklogik“ führt zu mehr Komplexität, zu neuen Verbindungen, zu flexiblen Abläufen und unvorhersehbaren Entwicklungsmustern.
Castells anerkennt auch die wesentliche Verbindung zwischen dieser Netzwerklogik und konstruktivistischen Ideen wie dem Relativismus, der sich aus der Feedbackidee ergibt. Wie er schreibt, ist das „Komplexitätsdenken“ so erfolgreich aufgrund der „Einsicht, dass sich Natur und Gesellschaft selbst organisieren. Nicht dass es keine Regeln gäbe, aber diese Regeln entstehen durch einen unaufhaltsamen Prozess bewusster Handlungen und singulärer Interaktionen“.11 Wichtig ist indes nicht, ob der Konstruktivismus recht hat oder nicht, sondern dass er für die Logik des neuen Paradigmas operational war. So meint auch Mark Taylor, dass Netzwerke „komplexe selbstorganisierte Systeme“ bilden, die ihrer Natur nach instabil, unstet und veränderlich sind. Diese kreative Instabilität liegt teilweise an der Rückbezüglichkeit solcher Systeme, die sich durch Feedback selbst steuern. Fast wie Science-Fiction beschreibt Taylor die Informationsrevolution als „etwas wie eine Orbitalbewegung, bei der Information so zirkuliert, dass sie auf sich selbst wirkt“12. Die Wende zur Selbstbezüglichkeit ist das Revolutionäre an der Informationsrevolution – die positive Rückkoppelung, die aus Datentrends neue Wirklichkeiten „hochfährt“.
Ob nun unter dem Namen Kybernetik, Humanökologie, Medientheorie oder Systemtheorie erster und zweiter Ordnung – seit dem Zweiten Weltkrieg bildet das komplexe und abstrakte Verhalten von Netzwerken, Systemen und Informationsökologien den technologischen Hintergrund des Bewusstseins und der Kultur. Dies ist auch, grob gesprochen, der philosophische Rahmen, den beispielsweise Terence McKenna, Robert Anton Wilson und Philip K. Dick gemeinsam vertreten. Sie alle vereint ein Interesse an Kybernetik, Informationsmystik, der Metaphysik von Whole Earth13 und McLuhans Spekulationen.
Vielleicht versteht man auch uns (Post-)Humanoide am besten als Systeme oder genauer gesagt als beobachtende Systeme. Um mit Bruce Clarke, einem Theoretiker und Historiker der „Systemgegenkulturen“, zu sprechen, haben solche beobachtenden Systeme gar keine andere Wahl, als „aus ihren zirkulären Prozessen virtuelle Realitäten hochzufahren“. Das Hochfahren virtueller Realitäten, die sich selbst generieren, ist gewissermaßen ein Grundtenor hier. Das Paradox zirkulärer Prozesse besteht darin, dass sie einerseits dem Neuen gegenüber offen sind, zugleich aber, was ihre eigene Dynamik betrifft, geschlossen bleiben. Dieses Paradox gilt auch für „jedes denkbare Denken“. Um überhaupt zu funktionieren, müssen wir uns also ein wenig an Philip K. Dick halten, der sich durch die Bibelauslegung spekulierte, indem er sich auf deren Paradoxa und Widersprüche konzentrierte. „Beobachtende Systeme müssen kognitive Probleme erkennen und lösen können, sich also aus dem aktuellen Paradoxon befreien und zum nächsten vordringen, um sich insgesamt weiterzubewegen.“14
Bruce Clarke bringt die neokybernetische Vision hybrider Netzwerke direkt mit „der Dämonie metamorpher Narrative“15 in Verbindung. Damit meint er Erzählungen wie jene von Philip K. Dick, die ihre eigene Funktionsweise spiegeln und sich dadurch zu Metatexten verwandeln, die von ihren eigenen Widersprüchen vorangetrieben werden. Aber diese metamorphen Narrative beschränken sich nicht nur auf den Bereich der Fiktion. Mit anderen Worten: Fiktionen beschränken sich nicht auf das Fiktive – besonders wenn sie sich auf das Dämonische berufen. Jedenfalls sind solch seltsam ironische metamorphe Subtexte auch in die Siebzigerjahre-Visionen eingewoben – vor allem in jene postreligiösen Visionen, die als symptomatische Prophezeiungen die Speerspitze des kalifornischen Netzwerkparadigmas bilden.

Paradebeispiel Fernwahrnehmung
Dabei kann man den futuristischen Glanz der Netzwerkgesellschaft nicht von ihren dunkleren, dämonischen Tiefen trennen. Während er noch an PLANET arbeitete, beteiligte sich der Astronom und Informatiker Jacques Vallee zum Beispiel informell auch an einem anderen Forschungsprojekt des SRI. Dabei handelte es sich um Hal Puthoffs und Russell Targs legendäre parapsychologische Studien zur Fernwahrnehmung. Zum Teil angeregt von der Sorge, die sowjetische Parapsychologie könne schnellere Fortschritte erzielen, förderte die CIA ein Programm, das sich am Ende zum Projekt Stargate weiterentwickelte und bei dem die außersinnliche Wahrnehmung als Waffe erforscht wurde. Begabte Hellseher wie der allbekannte Ingo Swann sollten mit ihrer Geisteskraft sowjetische Militärbasen und andere ferne Ziele auskundschaften. Obwohl, wenig überraschend, der Wert dieser Studien bis heute umstritten ist, meinten mehrere unbeteiligte BeobachterInnen, dass einige der getesteten Personen, darunter Swann oder Pat Price, statistisch signifikant oft richtig gelegen seien.16
Ein Problem, das sich dem Projekt stellte, bestand darin, die HellseherInnen auf das richtige Ziel zu lenken. Als Physiker und Ingenieure betrachteten Targ und Puthoff dieses Problem technisch als Signalübertragungsproblem, aber in Gesprächen mit Swann regte Vallee an, man solle es doch als eine Frage der Informationswissenschaft betrachten. Vallee erläuterte diverse Arten der Datenverarbeitung im Computerspeicher, besonders die Technik der virtuellen Adressierung. Das wiederum regte Swann zu seiner Methode der Koordinatenfernwahrnehmung ab, bei der die HellseherInnen einzig durch geografische Koordinaten auf ihre Ziele gelenkt werden. Diese Methode ist in der – bis heute überraschend aktiven – Fernbeobachterszene Standard.
Auch wenn diese Art von Innovation für eingefleischte SkeptikerInnen nutzlos erscheinen mag, bleibt Swanns Koordinatensystem doch ein direkter Beleg für den untergründigen esoterischen Austausch zwischen Bewusstseinskultur, Informationsnetzwerken und paranormaler Militärmacht. So sollte Jacques Vallee Jahrzehnte später die damalige Situation am SRI so beschreiben: „Es gab sehr viele, die die Schnittstelle zwischen Bewusstsein und Computern erforschten – mit Mitteln der DARPA wohlgemerkt. Die ganze Vorstellung, das Bewusstsein wirke sich materiell auf die Physik und damit auch auf die Rüstung aus, war äußerst wichtig.“17
Nachdem Vallee beim SRI gekündigt hatte, arbeitete er an computerisierten Konferenzsystemen. Seine Analysen von Transkriptionen ihrer BenutzerInnen ergaben regelmäßig seltsame Zufälle. So wurden beispielsweise Antworten auf Fragen bisweilen einige Sekunden vor den Fragen durch das Netzwerk geschickt. Manche NutzerInnen sprachen auch, wenn sie über den Rechner mit anderen Menschen kommunizierten, von einem „Gefühl, wenn schon nicht außerhalb des Körpers, so doch Teil einer Gemeinschaft zu sein“18. Schließlich führte Vallee über sein Konferenznetzwerk Fernwahrnehmungsexperimente durch, obwohl diese, an denen sich neben Puthoff und Swann auch Richard Bach, der Autor von Jonathan Livingston Seagull, beteiligte, vielleicht weniger Einsichten erbrachten, als der Titel eines Artikels verrät, den Vallee 1975 in The Futurist veröffentlichte: „Computerkonferenzen: ein höherer Kommunikationszustand“.
Vallees Arbeit am SRI sowie sein eigentümliches soziales Umfeld – zu dem Okkultisten wie Robert Anton Wilson oder der Satanist Anton LeVey sowie diverseste UFO-ForscherInnen und FreidenkerInnen gehörten – erinnert uns daran, dass die hier beschriebene „Weirdness“ nicht auf die Boheme beschränkt war, sondern am Rand auch tief in die Forschungseinrichtungen, Denkfabriken und Technologiekonzerne der Bay Area ausfaserte. Kurzum, das Revival des Okkulten beschränkte sich nicht allein auf Freaks. Wenngleich Puthoff und Targ versierte Physiker waren, war Ersterer so wie Ingo Swann auch ein hochrangiger Scientologe. Sogar Douglas Engelbart, der die Computermaus und die Gruppensoftware erfand, beschäftigte sich in den 1970er-Jahren intensiv mit „est-Training“.
20 Jahre, bevor das Internet in den 1990er-Jahren zur vollen Blüte gelangte, schlossen Computernetzwerke also bereits Code mit Bewusstsein, Subkultur mit Subroutinen, Bewusstseinsveränderung mit Informationspolitik kurz. Dies als triviale Esoterik zu betrachten, hieße, die Tiefe der Veränderungen durch das Netz zu unterschätzen. Das Netz prägt unsere Ära, auch wenn es unsere Metaphysik verwirrt und die politische Ökonomie gefährdet. Wie uns Felix Guattari erinnert, „wirken die technologischen Informations- und Kommunikationsmaschinen mitten in der menschlichen Subjektivität, nicht nur innerhalb ihrer Erinnerungen, ihres Verstandes, sondern auch ihrer Sensibilität, ihrer Affekte und ihrer unbewussten Fantasien“19[. Es ist dieser phantasmatische Kern der technologischen Subjektivität, den McKenna, Wilson und Dick mit ihren dämonischen Prophezeiungen ausloteten und abbildeten. Wie PoetInnen und KünstlerInnen sind auch sie als Psychonauten „Antennen der Menschheit“. Worauf sich diese Antennen richten, sind, zumindest manchmal, die Umrisse und Muster des Zeitgeists. Ihre verstiegene Wirrnis schenkte uns, so gesehen, eine angstvolle Vorahnung der neuen Netzwerkgesellschaft – und damit jener Büchse der Pandora, die in der Folge geöffnet wurde.

Erik Davis’ High Weirdness Drugs, Esoterica, and Visionary Experience in the Seventies ist im Juni 2019 bei MIT Press (Cambridge/London) erschienen.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Deutsch von Elfriede Jelinek und Thomas Piltz. Reinbek 1981 (engl. Orig. 1973), Kap. 1.19. Eine äußerst scharfsinnige Lesart dieser Passage findet sich bei Alan Jacobs, Text Patterns: The Rathenau Seance, The New Atlantis; http://text-patterns.thenewatlantis.com/2017/04/the-rathenau-seance.html. Dort heißt es unter anderem: „Ich neige zur Annahme, dass jede Theologie, wenn sie dem Anthropozän gerecht werden soll, eine Erläuterung dieser Passage sein wird.“
[2] „Bonitätsprüfungen wurden zentralisierter. Die Behörden bedienten sich zuerst Werkzeugen wie der dienststellenübergreifenden Datenbanksuche, wodurch sie über differierende Angaben Gesetzesbrecher ausfindig machen konnten [...] Am wichtigsten aber war vielleicht, dass nicht nur die Mehrheit, sondern auch Konsumaussteiger befragt und dadurch dem immer zentraler organisierten Markt zugeführt wurden.“ Stephen Paul Miller, The Seventies Now. Durham/London 1999, S. 3. Gleichzeitig konnte man den menschlichen Körper durch die 1972 erfundene CAT-Scans durchleuchten, während in den Spitälern Ultraschall- und Magnetresonanzscanner immer regelmäßiger verfügbar waren.
[3] Stephanie Slocum-Schaffer, America in the Seventies. Syracuse 2003, S. 179.
[4] Manuel Castells, The Rise of the Network Society. The Information Age: Economy, Society and Culture, Volume 1. Malden 1996, S. 39.
[5] Der Mikroprozessor wurde 1971 im Silicon Valley erfunden. Solche integrierten Schaltkreise ebneten den Weg für kleinere Computer. 1973 baute Xerox PARC seinen Alto-Rechner, der unbeabsichtigt zum Prototypen des ersten Apple wurde, wenngleich erst der Altair 8800 von 1975, der wiederum in New Mexico entwickelt wurde, als erster „Personal Computer“ galt. Bei der Firma Atari ermöglichten die Mikroprozessoren eine Videospielkonsole und Tausende neue algorithmische Spiele.
[6] Dt.: „Welche Wunder Gott tut“ (A. d. Ü.).
[7] Castells, Network Society, S. 5.
[8] Vgl. Steven Levy, Hackers: Heroes of the Computer Revolution. New York 1984: Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture. Chicago 2008; John Markoff, What the Dormouse Said: How the Sixties Counterculture Shaped the Personal Computer Industry. New York 2006; Bruce Clarke, From Information to Cognition: the Systems Counterculture, Heinz von Foerster’s Pedagogy, and Second-Order Cybernetics, in: Constructivist Foundations, 7/3, S. 196–207; Adam Fisher, Valley of Genius: The Uncensored History of Silicon Valley, As Told by the Hackers, Founders, and Freaks Who Made It Boom. New York 2018.
[9] Castells, Network Society, S. 61 bzw. 6.
[10] „Das Paradigma der Informationstechnologie ergibt keine geschlossenen Systeme, sondern die Offenheit eines vielknotigen Netzwerks.“ (Castells, Network Society, S. 75f.)
[11] Ebd., S. 74.
[12] Mark C. Taylor, The Moment of Complexity: Emerging Network Culture. Chicago 2002, S. 78.
[13] Der Whole Earth Catalog war eine kalifornische Alternativzeitschrift mit Eigenschaften eines Produktkatalogs, die zwischen 1968 und 1972 von Stewart Brand, dem späteren Erfinder des Ausdrucks „Personal Computer“, herausgegeben wurde. Ihr Schwerpunkt lag auf Selbstversorgung, Ökologie, Alternativpädagogik und „Holismus“ (A. d. Ü.).
[14] Bruce Clarke, Posthuman Metamorphosis: Narrative and Systems. New York 2008, S. 64 bzw. 47.
[15] Ebd., S. 45.
[16] Die Literatur zur Fernwahrnehmung ist zahlreich. Einen Überblick über ihre Frühgeschichte bietet Jim Schnabel mit Remote Viewers: The Secret History of America’s Psychic Spies. New York 1997.
[17] Jacques Vallee, The Software of Consciousness, Vortrag an der International Remote Viewing Association, Las Vegas 2007; https://www.youtube.com/watch?v=40jqdrEVPX4. Die „Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA)“ ist eine Behörde des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten, die militärische Forschung fördert (A. d. Ü.).
[18] Vallee, ebd.
[19] Félix Guattari, Chaosmose. Aus dem Französischen von Thomas Wäckerle. Wien/Berlin 2014, S. 10f.