„Digitalität“ ist zu einer Art Grundkonstante unseres medialen, kulturellen, ja sozialen Lebens geworden. Wenn schon sonst nichts mehr unser Dasein zusammenhält, könnte man überspitzt sagen, so gibt es nunmehr „das Digitale“, das diese Funktion zusehends übernimmt. Klarerweise ist damit nur ein infrastrukturelles Gerüst gemeint. Doch je präziser, flächendeckender und vorausschauender dieses systematische Gerüst arbeitet, desto umfassender sind ihm auch diverseste Lebens-, Verhaltens- wie Konsumformen ausgesetzt. Und desto unumstößlicher wird seine Macht, wie sich unverzüglich anmerken lässt.
Digitalität, gemeint ist die rechnerische Rückführbarkeit egal welchen Gebildes, Prozesses oder Artefakts auf ein simples binäres Prinzip, hat sich jedenfalls tief in unsere Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Verhaltensformen einzuschreiben begonnen. Man lebt und arbeitet und verbringt auch den Rest der Zeit „im Digitalen“. Umgekehrt bedeutet dies auch, dass das Digitale inzwischen – auf vielfältige Weise – integraler Bestandteil dieses Lebens und Arbeitens ist. Ja mehr noch, dass das Digitale den gesamten Apparat des Denkens, Wahrnehmens und Fühlens, der dem zugrunde liegt, von innen heraus zu affizieren begonnen hat. Dass womöglich ein Gutteil dieses Apparats, der hinter dem Bewusstsein (oder durch es hindurch) operiert, mittlerweile vom Digitalen beeinflusst ist.
Sah Walter Benjamin einst im Abbildmechanismus von Fotografie und Film ein das bewusste Wahrnehmen übersteigendes „Optisch-Unbewusstes“ am Werk, so lässt sich dieser Gedanke heute vielleicht auf das Digitale (Medien und sonstige Applikationen meinend) übertragen. Was, so die entscheidende Frage, wenn die immer engmaschigere Digitalisierung schnurstracks am (zumal kritischen) Bewusstsein vorbeiarbeitet? Was, wenn die immer vehementer in sämtliche Lebensbereiche vordringende Digitalität eine Sphäre generiert, die für Bewusstsein und Kognition schlichtweg nicht greifbar ist? Was, wenn das Digitale eine zwar immer stärker realitätsprägende, zugleich aber nach herkömmlichen Realitätsmaßstäben immer weniger fassbare Größe darstellt? Und wie diesem großflächigen digitalen Unbewussten, vom dem man bestenfalls eine Ahnung hat, überhaupt auf die Schliche kommen?
Die Ausgabe Digital Unconscious, in Kooperation mit dem World-Information Institute (https://world-information.net) entstanden, geht diesen Fragestellungen anhand prägender Szenarien der Gegenwart nach. Seit vielen Jahren widmet sich das World-Information Institute in einer Reihe von Projekten und Veranstaltungen diesen Fragen und thematisiert, wie Konrad Becker in seinem einleitenden Beitrag ausführt, die vermeintliche Allmacht algorithmischer Regime oder „hypernormaler Hybride“, wie man diese neuen, das Bewusstsein übersteigenden Machtsysteme auch nennen könnte. Becker legt zugleich eine Schiene zu den beiden Beiträgen des Anthropologen Michael Taussig in diesem Heft, die bezeichnenderweise hinter das Digitale zurückzugehen versuchen, gleichwohl aber dessen besondere Machtbasis ansprechen. Im ersten Beitrag reflektiert Taussig über die „mimetische Fähigkeit“, einen Grundbegriff seines Ansatzes, der das mögliche Hin- und Herwechseln zwischen Subjekt- und Objektpositionen meint – auf die digitale Welt übertragen also eine Art Changieren in Systemzusammenhängen, denen man nie ganz machtlos ausgesetzt ist, ebenso wenig wie man sie jemals vollständig beherrschen kann. Diese „mastery of non-mastery“, die Beherrschung des Nicht-Beherrschens, ist ein weiteres seiner Grundkonzepte, das der Anthropologe im zweiten hier enthaltenen Beitrag anhand eines literarischen Amalgams aus Reisebericht, poetischer Annäherung und Nachdenken über die Klimakatastrophe ausführt.
Inwiefern die Welt der Zukunft von (ins Maschinelle ausgelagerten) gesellschaftlichen Sensorien geprägt sein wird, welche die Vorstellungskraft jeder bzw. jedes Einzelnen meilenweit hinter sich zurücklassen, erläutert die Wissenschaftssoziologin Katja Mayer. Mayers Kritik der „sozialen Fernerkundung“, die auf der fixen Idee einer allgemeingültigen, objektiven Zukunftsvorhersage gründet, leitet indirekt über zum Essay von Erik Davis, der den obskureren Seiten des Netzwerkdenkens gewidmet ist. Dieses Denken, das sich im Lauf des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat und massiv von militärischen Imperativen geprägt ist, hat teils sonderbare Blüten getrieben – etwa die Idee der hellseherischen Fernwahrnehmung, welche in Davis’ Abriss über die „Netweird“-Gesellschaft einen prominenten Platz einnimmt.
Welche okkulten Figuren darüber hinaus durch die Geschichte der modernen Informationstechnologien, ja die gesamte Infosphäre geistern, nimmt eine Reihe weiterer Beiträge in den Fokus. So denkt etwa Ewen Chardronnet die Entwicklung von Supercomputern mit der ominösen Theorie der „Noosphäre“ zusammen, während Critical Art Ensemble (CAE) der Frage nachgehen, welche Art von Gespenstern und sonstigen irrationalen Wesenheiten bestimmte Medien historisch betrachtet generieren. Schließlich rekapituliert Lydia H. Liu die Geschichte des „Freud’schen Roboters“, einer Art Emblemfigur des digitalen Unbewussten, die Liu aus Auseinandersetzungen mit dem Unheimlichen, dem Uncanny Valley der Robotik bzw. der Konstruktion von „Gefühlsmaschinen“ herleitet.
In sämtlichen Beiträgen werden Fährten aufgenommen – teils divergierend und paradox anmutend –, um ein der bewussten Wahrnehmung entzogenes maschinisches bzw. digitales Unbewusstes zu umreißen. Tangiert wird dabei auch das schier unerschöpfliche Begehren im und nach dem vernetzten Raum, das unsere Kultur großflächig kennzeichnet. Dass darin Momente einer alles Subjektive und Individuelle übersteigenden Produktivkraft wirksam sind – abseits der uns zugänglichen Bewusstseinssphären –, ist längst kein Geheimnis mehr. Gleichzeitig bleibt zu fragen, und auch dazu liefert diese Ausgabe treffende Beispiele, welche künstlerischen Facetten diese Produktivkraft und das sie befördernde digitale Unbewusste in sich bergen.