Im Sinne einer konkreten Utopie, welche das Bild nicht auspinselt, sondern wirkliche Praxen als Keimformen untersucht, hat die Anbindung an einen Ort eine materiell-produktive und eine strategisch-symbolische Funktion. Eine Ethik des Orts, wie dies am Beispiel des Londoner Projektraums Furtherfield beschrieben werden kann, bedeutet, lokale AktivistInnen und HackerInnen miteinander zu vernetzen und dergestalt ökosoziale Kooperation mit Progressivität, Verortung mit Dezentralität zu verweben. Das von KünstlerInnen 1996 ins Leben gerufene Projekt ist ein selbsternanntes „(De-)Zentrum für Kunst und Technologie“ im Londoner Finsbury Park. Kollaborative Praktiken und „DIWO“ (doing it with others) sind hier ebenso konstituierend wie die Entwicklung einer digitalen und örtlichen Kultur der Commons. Furtherfield lässt sich demnach als „commonistische“ Keimform begreifen – Commonismus weniger als Ideologie verstanden1 denn als permanent weiterzuentwickelnde Inklusionsgesellschaft. Dieser liegt laut Simon Sutterlütti und Stefan Meretz2 eine andere Kooperationsstruktur zugrunde wie auch materielle und soziale Vorbedingungen, die es Menschen erlauben, ihre Lebensbedingungen selbst herzustellen. Inklusion ist so nicht bloß eine ethisch-moralische Haltung, sondern die Handlungsbedingungen aller CommonistInnen werden kollektiv gestaltbar.
Eine Ethik des Orts mitzugestalten bedeutet für CommonistInnen, weder einseitig eine Wiederverwurzelung von in der Moderne Entwurzelten zu verlautbaren – das wäre die neotraditionale Geste –, noch die Konnektivität von digitalen NomadInnen zu verwerfen – das war einmal der New-Economy-Spirit –, sondern beide Entitäten ihrer exkludierenden Spitzen zu berauben. Es bedeutet, „Response-Abilität“ (Donna Haraway) zu kultivieren. Die Sorge für einen commonistischen Ort und die Instandhaltung einer Plattform benötigen die freiwillige Tätigkeit von CommonistInnen, die sich jenseits der Regeln des abstrakten Eigentums um die allgemeine Verfügbarkeit von Gütern, Ressourcen, digitalen Technologien, Codes usw. kümmern. Die Sorge um den Ort ist die Sorge um alle CommonistInnen, welche ihre Bedürfnisse an diesem Ort oder auf dieser Plattform geltend machen können und sich einbringen, ihren individuellen Fähigkeiten entsprechend. Verwertung und Konkurrenz, Eigentum und Profit, Einhegung und Exklusivität können hier von initiierenden und angehenden CommonistInnen gemeinsam verlernt werden. Kommerzielle AnbieterInnen derselben Güter, Ressourcen, Codes usw. werden „auskooperiert“ (Sutterlütti/Meretz), indem deren Einhegungen, wie ich es nennen möchte, Aushegungen entgegengesetzt werden. Aushegungen sind auf die Dauerhaftigkeit und Resilienz der CommonistInnen angewiesen, wenn sie keine einmaligen Projekte gewesen sein wollen. Aushegungen können Privatisierungen entgegenwirken und einen Gemeinschaftsbegriff einsetzen, der es ermöglicht, Wachstumsfetisch und Konkurrenzkampf zu überwinden. Politisch-staatliche Transformationstheorien können diesen Konstitutionsprozess nicht denken.
Mit Nachahmung als Wiederholung von in der kapitalistischen Moderne bewährten Dichotomien – etwa Individualität vs. Kollektivität, Privatunternehmertum vs. Verstaatlichung – fangen CommonistInnen selten etwas an. Sie sind daran interessiert, sich mit spekulativen, aushegenden und vorahmenden Tätigkeiten eigene Regeln zu setzen, eigene Geschichten, Rituale und Übungssysteme zu entwerfen, welche an der Bewahrung – und Ausweitung! – der Commons interessiert sind. Mit dem Begriff der Vorahmung schlage ich vor, das initiierende Moment von Furtherfield auch als ästhetisches zu betrachten.
Furtherfield verwebt digitale Communitys mit nicht digitalen auf eine Weise, dass Korridore entstehen; Korridore, die Orte verknüpfen und zwischen denen Dezentralität waltet. So experimentiert Furtherfield auch mit Blockchains, mit denen die sich versammelnden Gruppen von Menschen das Leben und Wirtschaften demokratischer, transparenter und hierarchiefreier machen können. Blockchains können dergestalt vertrauensvolle Schneisen oder Korridore inmitten der totalen Verwertungswüste namens Big Data gestalten helfen, sind aber weder gegen (z.B. unternehmensinterne) Hierarchien gefeit, noch stellen sie marktferne Anwendungen dar. Auch bleibt die Frage, wer den sogenannten Konsens-Algorithmus programmiert und in komplex-verknoteten Beziehungsnetzwerken Vertrauen organisiert. Mit der prinzipiellen Anfälligkeit von Technologie (hier: Blockchain) oder Kulturtechnik (hier: Selbstorganisation) gegenüber Machtmissbrauch können CommonistInnen, welche dem Kulturpessimismus abgeschworen haben, aber leben. Wichtig erscheint ihnen die mögliche Selbstorganisation von vernetzten Gemeinschaften als Basiseinheiten, die bürokratischen Zentralismus ablehnen. Korridore sind wichtig, wenn linksliberaler Zeitgeist das Nomadische gegenüber dem Identischen vorzieht, rechtspopulistische Reaktionszeit aber das Bedürfnis nach Verwurzelung verabsolutiert. Furtherfield arbeitet hier mit zwei Strategien an ein und demselben Ort: Der Finsbury Park als wichtiger öffentlicher Rekreationsort seiner AnwohnerInnen, zu denen auch MigrantInnen aus zahlreichen Ländern gehören, hat seine eigenen kulturellen Praktiken; diese treffen auf die aushegenden Strategien der digitalen CommonistInnen – im Community Media Lab Furtherfield Commons, in einem Ausstellungsraum mitten im Park, in einem Online-Magazin und auf einer Mailingliste – und entwickeln sich kooperativ weiter. Die Communitys sind durchlässig und bereichern sich gegenseitig. Die Keimform der anderen Gesellschaft wird spürbar gerade in der Durchdringung der verschiedenen Praxen, die an einem Ort stattfinden. Jedes Format erschafft eine Assemblage von Menschen, Technologie und Umwelt, die dem Commoning im Ganzen zugutekommt. Entscheidend ist die nachhaltige Praxis.
Furtherfield, so lässt sich mit Eduardo Viveiros de Castro und Deborah Danowski behaupten,3 konstruiert so eine „lokal funktionierende Folk-Maschine“, die langsam, aber sehr wirksam landläufige Herrschaftsformen unterminiert und durch eine bessere Praxis im Sinne eines Netzwerks der Gleichrangigen ersetzt. Diese (Prä-)Figurationen von Zukunft sind von außen als vorahmende Praxen erkennbar und anwendbar. Für eine Ästhetik des Commoning bedeutet das Folgendes: Das mimetische Vermögen verlässt die Imitatio; die Nachahmung des Alten wird obsolet, De-Learning und Re-Learning greifen ineinander, Vorahmung erschafft und macht transformatorische Prozesse sichtbar, sodass fortan auch Nachahmung wieder möglich würde: als Nachahmung des Neuen. Und so bedeutet Commoning nicht nur die Selbstverwaltung der Ressource oder der Plattform, die, ob „rival“ oder „nicht rival“, für möglichst viele zur Nutzung offenstehen und niemanden durch einen abstrakten Eigentumsbegriff (oder die Lizenz) ausschließt. Entscheidend ist außerdem die symbolische, performative und ästhetische Qualität der sich versammelnden Körper an einem Ort, inklusive derjenigen, die (noch) nicht anwesend sind, die noch ausgeschlossen sind, für die aber Korridore geschaffen werden: Zugangsberechtigung, Aufenthaltserlaubnis, existenzsichernde Arbeit und nicht zuletzt Sorgegemeinschaft.
Die InitiatorInnen von Furtherfield, Ruth Catlow und Marc Garrett, berufen sich historisch auf Marx’ Begriff der „ursprünglichen Akkumulation“ und der damit erfolgten Einhegungen von Eigentum (enclosures). Ihr Rückbezug auf die „levellers“ richtet sich dezidiert gegen diese Einhegungen, die bis heute weltweit stattfinden und von neoliberalen Regierungen und transnationalen Konzernen fortwährend nachgeahmt werden, ob schockartig oder reformistisch. Furtherfield schafft hier einen Ort der Gegenbewegung. Die Praxis der Permakultur zum Beispiel gilt hierfür als nicht weniger relevant als die Einsicht in globale Verwertungsketten und Einsatzbereiche von Drohnen, die Kultivierung entsprechender Peer-to-peer-Praxen und das Selbstverständnis von „peers“ jenseits von Disziplin bzw. Tätigkeitsfeld. Bei Furtherfield helfen digitale Commons, soziale Realität zu hacken, während die Regelförmigkeit der Allmende (à la Elinor Ostrom) auch dabei helfen kann, einen freien und dadurch für die Verwertung von Content durch kommerzielle NutzerInnen offenen Zugang durch Reziprozität davor zu schützen, „auskommerzialisiert“ zu werden. Unabgegoltene kulturelle Praxen können so wieder brauchbar gemacht werden, und digitale Praxen verrauschen nicht irgendwo im Cyberspace, sondern koppeln als relevante Erfahrungswerte zurück auf soziale Praxen und die Möglichkeit von Widerstand gegen hegemoniale Verwertungssysteme. Dem Ort und der Plattform Furtherfield gelingt es durch Beständigkeit und Resonanz, über die utopische Vorbedingung hinauszuwachsen und sich zu verkörperlichen bzw. sich in sich versammelnden Körpern zu manifestieren.
1 Vgl. Nico Dockx/Pascal Gielen (Hg.), Commonism. A New Aesthetics of the Real. Amsterdam 2018.
2 Vgl. Simon Sutterlütti/Stefan Meretz, Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken. Hamburg 2018.
3 Vgl. Eduardo Viveiros de Castro/Deborah Danowski, In welcher Welt leben? Ein Versuch über die Angst vor dem Ende. Berlin 2019.