Heft 4/2019 - Artscribe


Nikita Kadan – Project of Ruins

27. Juni 2019 bis 6. Oktober 2019
mumok / Wien

Text: Aleksei Borisionok


Wien. Im Jahr 2015 wurde in der Nach-Maidan-Ukraine ein neues Gesetzespaket zur Institutionalisierung der Dekommunisierung verabschiedet, um die Spuren des sowjetischen Erbes im öffentlichen Raum endgültig auszulöschen. Nicht nur Lenin-Denkmäler waren davon unmittelbar betroffen, sondern auch andere Formen von Kunst, die im Laufe der langen, heterogenen Geschichte der Sowjetunion entstanden sind. Die gewaltsame Bilderstürmerei ging zunächst von unten aus und wurde unterstützt vom Ukrainischen Institut für Nationales Gedenken – dem maßgeblichen ideologischen Akteur, der den mit nationalistischer und rechter Rhetorik einhergehenden Sturz der Denkmäler zu verantworten hatte. Die künstlerische und aktivistische Praxis Nikita Kadans steht in unmittelbarem Widerspruch zu diesen Tendenzen. Sie plädiert für eine eingehende und differenzierte Analyse der Ausprägungen des kollektiven Gedächtnisses, des materiellen Erbes sowie der emanzipatorischen Praktiken der Avantgarde. Kadan sieht in der postkommunistischen Gegenwart eine Ansammlung materieller und immaterieller Überreste und untersucht, wie die Auslöschung der Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft beeinflusst. In seinem künstlerischen Schaffen bedient er sich daher oft historischer Museumspräsentationen wie etwa bei seiner großformartigen Installation The Possessed Can Witness in the Court (2015), die Ausstellungsstücke aus dem Nationalen Historischen Museum der Ukraine zusammenbrachte, um die aktuellen Konfliktzonen zu untersuchen: die Krim und den Donbass.
Project of Ruins im Mumok präsentiert eine vom Künstler persönlich vorgenommene Werkauswahl der letzten Jahre. Im Zentrum der Ausstellung stehen massive Betonblöcke – Reproduktionen der Sockel von Skulpturen aus dem Kanon der ukrainischen Avantgarde. Red Mountains (2019) verweist auf die Monumente des Bildhauers und Filmemachers Iwan Kawaleridse, der in den 1920er- and 1930er-Jahren eine bedeutende Anzahl an Revolutionsdenkmälern geschaffen hat – „Ausdrücke einer utopischen Sehnsucht nach gesellschaftlichen Strukturen, die die existierenden Formen transzendieren“1 –, wie beispielsweise Artjom (1927) in Swjatohirsk, eine 22 Meter hohe kubo-futuristische Monumentalstatue zu Ehren des führenden ukrainischen Bolschewisten Fjodor Sergejew. Während das Denkmal Artjom noch existiert, wurden die anderen Kunstwerke im Strudel politischer Wirren vernichtet: Kawaleridses Statue des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko (1926) wurde während der NS-Okkupation demontiert und ihr Originalpodest in den 1950er-Jahren von Stalinisten zerstört. Kadan isoliert die Sockel und zeigt sie ohne die Statuen der gefeierten Helden. Im Gegensatz zu den Zerstörungen im Zuge der Dekommunisierung bedient er sich der Geste des Bildersturms zugunsten einer kritischen Betrachtung der umstrittenen Sowjetnarrative. Aufgrund ihres steingewordenen, monumentalen Charakters verweisen die Postamente auch auf den Moment des Übergangs und des Bruchs – sie streben der Decke entgegen und füllen den Raum nach oben hin fast zur Gänze aus.
In Victory (White Shelf) (2017) reproduziert der Künstler den Umriss des Denkmals Die drei russischen Revolutionen: 1825, 1905 und 1917 (1922–25) von Wassili Jermilow, einer weiteren zentralen Figur der ukrainischen Avantgarde. Dem konstruktivistischen Denkmal wurde die Farbe entzogen, die der Darstellung von Hammer und Sichel diente – der Symbole des proletarischen Kampfs. Seines ursprünglichen Kontexts beraubt wird das Monument buchstäblich zum Piedestal für ein archäologisches Artefakt ‒ ein zeitgenössisches, zu einer heterogenen Masse verschmolzenes Keramikobjekt. Das Objekt hat der Künstler nach einem Artillerieangriff in den Trümmern der ostukrainischen Stadt Lyssytschansk gefunden, wo es im Zuge des Ukrainekriegs zu militärischen Einsätzen kam. Darüber hinaus wird die Umgebung der Stadt in der Diashow The Spectacle of Unorganised Masses (2019) festgehalten, die Fotografien der Recherchereisen zeigt. Die Gegenüberstellung von Ruinen aus verschiedenen historischen Epochen und Zusammenhängen und das durch sie ausgelöste Unbehagen wirft Fragen zum Stellenwert der Vergangenheit in der Gegenwart sowie zum utopistischen Engagement und seinen dunklen Seiten auf. Die Ruine konstruiert eine spezifische Zeitlichkeit: Sie verweist auf die überwundene Geschichte, gibt sich aber in der Gegenwart zugleich als Relikt zu erkennen. Aus Kadans Sicht eröffnen Ruinen keinen Raum für wehmütige Betrachtungen, Sentimentalismus und ästhetischen Genuss, vielmehr lassen sie einen produktiven Raum zur Verhandlung historischer Temporalitäten entstehen, in dem sich der avantgardistische Impuls der politischen Emanzipation wieder Geltung verschaffen kann.

Übersetzung aus dem Englischen:

 

Übersetzt von Gülçin Erentok

 

[1] Susan Buck-Morss, Dreamworld and Catastrophe. The Passing of Mass Utopia in East and West. Cambridge/London: The MIT Press, 2000. S. xi.