Heft 4/2019 - Artscribe


Nil Yalter – Exile Is a Hard Job

9. März 2019 bis 2. Juni 2019
Museum Ludwig Köln / Köln

Text: Katalin Erdődi


Köln. „Exil ist harte Arbeit“ – so zitiert Nil Yalter den Dichter Nâzım Hikmet und damit einen der wichtigsten Protagonisten der modernen türkischen Literatur in ihrer gleichnamigen Intervention im öffentlichen Raum. Seit 2012 heißt so ein nomadisches Projekt der Künstlerin, das auf Wänden in mehreren Städten der Welt plakatiert wurde. Es sind großformatige Plakate von Fotos ihrer Arbeit Turkish Immigrants aus dem Jahr 1977, die Yalter in riesigen roten Lettern mit Hikmets Spruch übermalt hat. Die Künstlerin und lokale Mitwirkende kleistern diese Botschaft in den jeweiligen Ortssprachen selbst auf die Wände, wodurch das Werk zu einer partizipatorischen Aktion wird, die nicht nur die Deutungshoheit über die Migrationserfahrung zurückerobert, sondern auch die „nomadische Subjektivität“ (Rosi Braidotti) feiert.
Zuletzt begrüßte dieses Werk die BesucherInnen gleich zu Beginn der Ausstellung Nil Yalters im Kölner Museum Ludwig. Auch diese heißt Exile Is a Hard Job und ist bisher ihre umfangreichste Retrospektive. Die Schau wurde von Rita Kersting kuratiert und umspannt mehr als 50 Jahre einer beispielhaften feministischen Kunst, indem sie frühe Produktionen Yalters – geometrisch abstrakten Studien, die von Kasimir Malewitsch, Serge Poliakoff und der Art Informel ausgingen – einfühlsam und einsichtig in einen Dialog mit ihrer späteren Kunst brachte, die nicht nur gesellschaftlich engagiert, sondern zugleich auch radikal experimentell, intersektional und hybrid ist: Yalter greift dafür auf Fotografie, Video, Installation und Computeranimation, interaktive CD-ROMs, aber auch poetische und minutiös detailreiche Zeichnungen zurück.
Seit Ende der 1950er-Jahre arbeitet Nil Yalter, die aus der Türkei stammt, in Kairo geboren wurde und seit 1965 in Paris lebt, als Künstlerin. Viele ihre frühen Installationen und Videoarbeiten wie beispielsweise Topak Ev (1973) oder The Headless Woman or The Belly Dance (1974) wurden von der internationalen Kunstkritik gelobt. Dennoch bleibt ihr Werk krass unterrepräsentiert, fehlen doch Ausstellungen in großen Museen und damit auch die Sichtbarkeit in der vorwiegend eurozentrischen und männerdominierten Geschichtsschreibung der Gegenwartkunst. Die Retrospektive in Köln musste dieses Manko somit nolens volens ansprechen – oder durfte es zumindest nicht ignorieren.
Dementsprechend versucht die Schau, ein Gleichgewicht zwischen der großzügigen Präsentation bekannterer Arbeiten – von Topak Ev und The Headless Woman bis zum provokanten Le Chevalier d’Éon (1978) oder dem politisch wie privat wichtigen Deniz Gezmiş (1972)1 im Andenken an den gleichnamigen linken Studentenführer, der nach dem Putsch der türkischen Armee 1971 zum Tod verurteilt und hingerichtet wurde – und einer sorgsam kuratierten Auswahl ihrer fruchtbaren und facettenreichen Produktionen über GastarbeiterInnen und städtische Randgruppen wie Temporary Dwellings (1974–77) oder Turkish Immigrants (1977–2016) herzustellen. Der im Rahmen der Arbeit Turkish Immigrants produzierte und so treffend bezeichnete Tower of Babel zum Beispiel besteht aus im Kreis aufgestellten Monitoren, auf denen Videos laufen. Hier wird deutlich, wie bemerkenswert antihierarchisch und multi-perspektivisch Yalters Kunst ist. Die Videos zeigen türkische MigrantInnen in Frankreich, aber auch sowie Verwandte in der Türkei, wie sie über ihren Alltag mit all der Freud und all den Kämpfen Auskunft geben. Geschickt schneidet die Künstlerin experimentell poetische Aufnahmen der Wohnräume dazwischen. Wir selbst, die BetrachterInnen, werden dadurch nicht nur zu NomadInnen im Raum, sondern auch in der Zeit, denn Yalter aktualisiert ihre Werke, die nun bereits den Zeitraum von den Siebzigerjahren bis heute umspannen, permanent. Außerdem erinnern die Videos auch an die Lokalgeschichte Nordrhein-Westfalens, vor allem an die Lebenssituation der sogenannten GastarbeiterInnen, die während des Wirtschaftswunders ins Ruhrgebiet kamen. Zugleich wird der Tower of Babel aber auch zu einem Kommentar auf ein brennend aktuelles Thema, nämlich die zunehmend polarisierte Debatte über Migration, Rassismus und Xenophobie heutzutage in Europa – und in Deutschland.
Besonders auffällig an den Arbeiten aus der Mitte der Siebzigerjahre – man nehme Temporary Dwellings, Turkish Immigrants oder Topak Ev – ist, wie großartig sie Analyse und Ästhetik verbinden können. Yalters marxistisch-feministischer und also im Wesentlichen materialistischer Ansatz zeigt sich nicht nur theoretisch, sondern wird von ihr in eine künstlerische Praxis umgesetzt, die Materie, Gegenstände und Farben zu wirkungsvollen Installationen inszeniert. Diese illustrieren nicht nur ihr Denken, sondern materialisieren es buchstäblich im Raum, verbindet Yalter doch Text mit Zeichnungen und einer fast ethnografisch zu nennenden Zurschaustellung materieller „Spuren“, die der Mensch in der Umwelt zurücklässt, darunter Haare, Stoffe, Scherben, aber auch Zeitungsausschnitte. Der Höhepunkt dieser Methode ist die lebensgroße Rekonstruktion eines Nomadinnenzelts in Topak Ev, einer Studie privater und öffentlicher Räume für Frauen. Mit all ihren poetischen Details besitzen diese Assemblagen einen ganz eigenen ästhetischen Reiz. Alle Elemente wurden im genauen Bewusstsein platziert, wie und in welcher Zusammenstellung sie Bedeutung erlangen. Mithin handelt es sich hier um eine künstlerische Strategie, die zu Recht als Vorläuferin der heutigen künstlerischen Forschung bezeichnet werden kann, ist sie doch durch eine komplexe „Intermaterialität“2 charakterisiert, welche eine affektiv sinnliche Kartografie kritischer Gedanken ermöglicht. Man erkennt daran nicht nur, dass sich Yalter ausgiebig mit poststrukturalistischer Theorie und dem feministischen Diskurs ihrer Zeit auseinandergesetzt hat, sondern auch dass sie ethnische Herkunft, Klasse und soziales Geschlecht zusammendenkt. Dies zeigt sich insbesondere anhand der Arbeiten Turkish Immigrants und Temporary Dwellings, aber auch der späteren Rahime, Kurdish Woman from Turkey (1979) oder Diyarbakir (2005). Mit Letzteren antizipierte die Künstlerin nicht nur den Begriff der Intersektionalität, der 1989 erstmals von der kritischen Rassismusforscherin Kimberlé Crenshaw beschrieben wurde, sondern auch feministische Denkerinnen wie Rosi Braidotti mit ihrer Arbeit über nomadische Subjekte und das Posthumane.3
„Man muss in seiner Zeit aufgehen, um sie zu überleben“, so schrieb einst der surrealistische Dichter und Ethnologe Michel Leiris. Beim Streifen durch Nil Yalters Retrospektive im Museum Ludwig fiel mir dieser etwas geheimnisvolle Satz ein. Er gemahnt der Achtsamkeit, mit der sich Yalter nicht nur der Beobachtung und dem Dokumentieren, sondern auch ihrer Zeitgenossenschaft hingibt. Leichtfüßig bewegt sich ihre Kunst durch die Geschichte, schließt Vergangenheit und Gegenwart kurz, schafft dabei neue Verbindungen und deckt Kontinuitäten auf. In seinem Essay The Future schreibt der Anthropologe Marc Augé, dass in der Zeit zu leben bedeute, sich in der Gegenwart auf das zu konzentrieren, das die Umrisse der Zukunft erahnen lässt: „Erst im Nachhinein, wenn er noch präsent ist, können wir sagen, ein Autor sei für seine Zeit relevant gewesen, nämlich weil wir etwas, das er aus dem formlosen Chaos seiner Wirklichkeit schälen konnte, als für uns relevant erkennen.“4 Exile Is a Hard Job korrespondiert unter mehreren Blickwinkeln mit den Bonmots von Leiris und Augé. Die Ausstellung führt uns in die Praxis einer Künstlerin ein, die mit einer Unerschrockenheit und einem Mut präsent ist, der sich in ihrer Kunst in einer kompromisslosen Ästhetik und Politik äußert.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] „Die Arbeit über Deniz Gezmiş war für mich so etwas wie eine politische Erweckung. Ich begann, mich auch abseits der Kunst politisch zu engagieren. Ich durfte in der Türkei ja nie wählen – dabei gab es einen Militärputsch nach dem anderen.“ Nil Yalter in Nil Yalter’s Epic Poetry, einem Interview von Övül Ö. Durmuşoğlu; https://frieze.com/article/nil-yalters-epic-poetry.
[2] Ich verwende den Begriff Intermaterialität in Anlehnung an jenen der Intertextualität, um Yalters Arbeitsmethode besser zu charakterisieren, bei der sich die Bedeutung immer aus dem Wechselspiel der Materialien ergibt. Intermaterialität steht als Begriff auch mit theoretischen und methodischen Ansätzen wie der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour in Zusammenhang.
[3] https://www.ici-berlin.org/events/rosi-braidotti/
[4] Marc Augé, The Future. Verso 2014, S. 39.