„Social sensing“ gilt als neues technowissenschaftliches Paradigma zur Erfassung sozialer Verhaltensweisen durch die sich verhaltenden Menschen. So fungieren Menschen einerseits als TrägerInnen und NutzerInnen von Sensoren, andererseits auch selbst als Sensoren. Man denke an die vielen Sensoren in unseren Mobiltelefonen, welche laufend diverse Provider mit Daten über uns beschicken, unser Mitteilungsbedürfnis auf sozialen Medien, Online-Shopping und vieles mehr. Vielfach fällt in diesem Zusammenhang auch der Begriff „Crowdsourcing“, also die Auslagerung der Datensammlung an Personen oder deren Maschinen über vernetzte Prozesse. So sehr zurzeit die Datensouveränität des Individuums in Medien und Politik diskutiert wird, so wenig Rücksicht darauf findet sich in den Vorhersageindustrien. Soziale Daten werden meist „unauffällig“ gesammelt, also mittels sozialer Fernerkundung. Man ist über Drittanbieter an soziale Medien oder Telekommunikationsprovider angebunden, welche die soziotechnischen Interaktionen zwischen Individuen automatisch erfassen, aufbereiten, mit anderen Datenquellen verbinden und dann weiterverkaufen. Vorrangige Zielsetzungen hierbei sind die Ermöglichung eines „context-aware computing“ – also die Fusion der unterschiedlichen Sensordaten im Hinblick auf eine verbesserte Situationseinschätzung – sowie die Vorhersage zukünftiger Verhaltensweisen. Mit dieser Strategie kann man sowohl individuelle, maßgeschneiderte Services, Informationen oder Interventionen liefern, als auch durch die Vorhersagen gestützte Crowd-Control-Maßnahmen ergreifen. Solche Techniken des „remote social sensing“ sind zwar neu, vom Prinzip her jedoch seit langer Zeit in der menschlichen Vorhersagekunst angelegt.
Vom Orakel zur Sensibilisierung: Die Organisation mantischer Techniken1
In der Antike hatte die Prophezeiung der Orakel eine grundlegende und integrale gesellschaftliche Funktion. So waren Politik und militärische Taktik in der Öffentlichkeit eng an die jeweiligen Veröffentlichungen der Weissagungen gebunden, und es galt als dumm und riskant, die Orakel nicht zu konsultieren oder deren Interpretationen nicht zu folgen. Als einer der heiligsten Orte im antiken Griechenland war der Tempel von Delphi lange Zeit die Heimat eines sorgfältig entwickelten sozialen Sensoriums. Der Legende nach bewachte die riesige Schlange Python den Ort, der einst Gaia zugesprochen war, bis sie von Apollo getötet wurde. Eine Pilgerreise dorthin konnte also im besten Fall zu dem Rat des Gottes Apollo führen. Nach Schlachtung eines Opfertiers, Reinigung und dem Trank heiligen Wassers wurden die kryptischen Prophezeiungen der Tempelpriesterin Pythia in einem Zustand der Trance empfangen – und sollen teilweise durch das Einatmen süß riechender schädlicher Dämpfe verursacht worden sein, die aus Abgründen unter dem Tempel austraten. Nachdem die Priesterin die Worte Apollos gestammelt hatte, wurden diese von einer Gruppe von Priestern – manchmal auch Dichtern genannt – interpretiert und in ein Versformat umgewandelt. Erst dann erfolgte die Übergabe an die BittstellerInnen. Es gab der Überlieferung nach genaue Regelungen, wann und wie gearbeitet wurde, und wer Zugang zu welchen Diensten hatte. Zwischen Einzeltermin mit ausführlicher Interpretation und Gruppen, die nur Ja/Nein-Fragen stellen durften, existierten offenbar viele Geschäftsmodelle.
Die Priesterinnen im Namen von Pythia erhielten Gehalt und Unterkunft, und sie waren von der Steuer befreit. Auf dem Höhepunkt seines Ruhms soll das Heiligtum drei Pythiai und unzählige Interpretationskomitees aus Priestern oder Dichtern beschäftigt haben, die im Schichtbetrieb arbeiteten, um die große Nachfrage zu bewältigen.
Die Kombination aus intuitiver (Rausch) und interpretativer (Versmaß mit Kontext) Mantik findet sich in fast allen Gesellschaften. Die Architektur des sozialen Sensoriums und ihr divinatorisch-epistemisches Repertoire zur Voraussage enthielten meist viel Wissen über Verhältnisse und Zusammenhänge und weniger über kausale Wirkungsweisen. Diese wurden dann in Delphi ins Reich der Götter verlagert, und a posteriori konnte Gelingen mit der Belohnung, Misslingen mit der Bestrafung durch die Götterwelt erklärt werden. Die Vorhersage und Deutung der Zukunft ist seit damals auf vergangenen Beobachtungen begründet. Herodot beschreibt die Vorgehensweise in Ägypten: „Wenn nämlich etwas Merkwürdiges geschieht, geben sie acht und schreiben den Ausgang der Sache auf. Bei einem ähnlichen Vorfall in späterer Zeit glauben sie dann, es müssten wieder die gleichen Folgen eintreten.“2 Jedenfalls kann die Geschichte der Vorhersage auch als eine Geschichte der die Vorhersage begründenden Prozesse formuliert werden: keine Prophezeiung ohne ausgeklügelte und ritualisierte soziotechnische Systeme, die sie ermöglichen. Ein wichtiger Faktor dabei ist das Training der notwendigen Fähigkeiten.
Menschliche Sensoren zum Einsatz der sozialen Fernerkundung werden bis heute auch vom Militär ausgebildet. So trainierte ziviles und militärisches Personal in den USA (im Projekt Stargate) ab den 1970er-Jahren außersinnliche Wahrnehmung, um etwa einer sowjetischen psychoenergetischen Bedrohung zu begegnen. Ein geschulter Remote-Viewer war angeblich in der Lage, in einem wissenschaftlich kontrollierten Prozess einen Zielort oder ein entferntes Objekt zu zeichnen und zu beschreiben. Der Prozess wurde als ein gezieltes Eintauchen durch perzeptive Augmentationstechniken in ein Meer an Information beschrieben. Das Programm und die extrasensorische Fernaufklärung wurden 1995 offiziell beendet. Nun stand der unmittelbare Kontakt im Vordergrund: Im Zug des „cultural turn“ um die Jahrtausendwende sollten „Human Terrain Analysts“ kulturelle Sinnstiftung betreiben und durch das Knüpfen sozialer Beziehungen mit der Population vor Ort mehr Wissen für die irreguläre Kriegsführung bereitstellen. Diese Informationen sollten dann mit anderen Informationsarten, beispielsweise lokalen Transaktionsdaten von Telekommunikations- oder Soziale-Medien-Anbietern, verknüpft werden. Auch dieses Programm wurde inzwischen eingestellt. Anscheinend verlässt man sich nun doch lieber auf die Truppe im direkten Einsatz. In einem Trainingshandbuch der US-Marines von 2014 wird zur Sensibilisierung der sozialen Wahrnehmung und zu mehr Empathie aufgerufen – so soll ein Marine die Beziehungen und Dynamiken in der Gemeinschaft und Umgebung, in der er operiert, durch Empathie intuitiv erfassen und vorhersagen.3 Hierzu stehen diverse Aufschreibe- und Echtzeit-Vernetzungssysteme zur Verfügung, sodass die gesammelten Daten sogleich in Mustererkennungsprozesse überführt werden können.
Kalibrierung
Diese Beispiele zeigen, dass Menschen zu Sensoren für soziale Vorhersagen zu machen bedeutet, dass sie sich entweder vorhersehbar verhalten sollten oder dass ihr Verhalten in eine im Kontext vertrauenswürdige Technik übersetzt bzw. berechnet werden muss. Erst so kann ein Lernprozess einsetzen, welcher auf das verfügbare Sensorium, bekanntes Wissen und standardisierte Prozesse aufbaut. Menschen – auch ohne deren bewusste Einbindung – zu sozialen Sensoren zu machen bedeutet zudem, sie in Echtzeit gezielt mit Botschaften und Aufforderungen zu adressieren und zusammen mit Trainingsdaten, sozialen Sortieralgorithmen über Überwachungsschnittstellen zu „Domain-Awareness-Systemen“ zu aggregieren. Was bedeutet, dass ihre Sinne und ihre Wahrnehmung zugleich verengt und ergänzt werden. Unsere menschlichen Sinne – Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken – und unsere körperlichen Sensoren – Augen, Ohren, Nase, Haut und Zunge – werden erweitert, während die Daten ständig ausgewertet und reduziert werden. „Augmented Datafied Humans“ – ausgestattet mit Mobiltelefonen oder vernetzten Kampfpanzern – nutzen zusätzliche sensorische Kapazitäten wie Temperatursensoren, Standortsensoren, Gleichgewichtssensoren, Blutsäuresensoren und vieles mehr. In global vernetzten Automaten zerfließen Individuen im Zusammenwirken unterschiedlichster Vorhersageverfahren in Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Wenn Rechenzentren der Verbesserung des Situationsbewusstseins ihrer KundInnen gewidmet sind und ständig nach Möglichkeiten der Interaktion und Optimierung suchen, werden auch die Sensoren unablässig getestet und neu kalibriert. Menschliche soziale Sensoren bilden somit hoch operationale Schnittpunkte, wenn sie erst einmal gesammelt, gruppiert, geordnet und in Populationen trainiert wurden. Und – sie passen sich den Verfahren an.
Big Social Data und die Performativität der Vorhersage
Die neue Reichhaltigkeit sozialer Daten, die wir laufend durch unsere digitalen Spuren hinterlassen, nährt den Big-Data-Fetisch – Bruno Latour würde hier eher von einem „factish“ sprechen4 – und betört Empirizismus wie Behaviorismus gleichermaßen. Waren die Sozialwissenschaften und mit ihnen die Sozialtechnologien bislang auf begrenzte Datensätze und stark subjektiv geprägtes Wissen über menschliches Verhalten und Werte angewiesen, so glaubt man sich nun ermächtigt, die Menschen direkt bei ihrem Tun in diversen (Online-)Kontexten studieren zu können. Waren latente Variablen in der Sozialwissenschaft einstmals dazu gedacht, die Ursachen der manifesten Beobachtungen mittels Theorien zu interpretieren, so werden sie heute zur Mustererkennung und Vorhersage in großen Datenmengen eingesetzt.
Mächtigkeit und Reichhaltigkeit der so gesammelten sozialen Daten liegen auch in ihrer Granularität und versprechen damit eine doppelte Möglichkeit: Der mikroskopische und der makroskopische Blick schauen gemeinsam vom Individuum über die Gruppe zur Gesellschaft und wieder zurück. Die soziometrische Revolution ist jedoch nicht auf Kategoriensysteme wie Klassen und Märkte angewiesen, sie muss den Menschen auch nicht auf einzelne Merkmale reduzieren (zum Beispiel wirtschaftliches Eigeninteresse oder Angst), so sie ihn nicht direkt „nudgen“ will. Vielmehr vermag sie sogar, ohne Kenntnis des Inhalts oder Zwecks der beobachteten Beziehungen oder des aufgezeichneten Informationsaustauschs etwa die Produktivität, die Robustheit der sozialen Relation oder eine Bereitschaft zur Mobilisierung vorauszuberechnen. Die Daten offenbaren von sich aus ein Weltverständnis – wir brauchen dazu keine Theorie mehr, die Korrelation schlägt die Kausalität, so wir uns divinatorisch den Mustern öffnen.
Das problematische an dieser Sichtweise ist der unerschütterliche Glaube an die großen Zahlen, die potenzielle Vollständigkeit, die Objektivität der Instrumente. Daten sprechen jedoch nicht für sich selbst, sondern sind immer unvollständig, abhängig von den Logiken, Architekturen und Infrastrukturen ihrer Genese sowie der diese umgebenden Interessen. Gerade in einer Zeit der Informationsflut sind wir mehr denn je gezwungen, Daten zu reduzieren, zu sampeln, um sie überhaupt für unsere Instrumente bearbeitbar und analysierbar zu machen. Was den „people analytics“ völlig abgeht, ist das Verständnis für ihre Performativität. Denn die Methoden zur Diagnose des Sozialverhaltens sind auf die Vorhersagbarkeit ausgerichtet, Beschreibung und Erklärung treten dabei in den Hintergrund. Daten reagieren wohl aber auf Prognosen, und wann immer wir eine Vorhersage und damit eine Entscheidung treffen, beeinflussen wir die Daten, die wir in der Zukunft sehen werden, in einer sich ständig selbst verstärkenden Rückkopplungsschleife. Dies sind die Bedingungen, unter denen theorielose Prophezeiungen gedeihen, welche ständig Beschreibungen parat haben und dadurch neue Realitäten schaffen, neue Kausalitäten generieren.
Auch wenn dies wie eine schicksalshafte Fügung des Lebens als sozialer Sensor wirkt, kann dieser Ausweglosigkeit mit der Rückeroberung der Latenz entgegengetreten werden. In unserer Zeit der „real time social analytics“ kann das Moment des „Noch-Nicht“ in den Vorhersagemethoden selbst verankert werden, indem Interpretierbarkeit und die theoretischen Grenzen der Vorhersagegenauigkeit, also die Erwartungen an das, was vorhergesagt oder erklärt werden kann, ständig kritisch hinterfragt und offengelegt werden. Weiters verfügen soziale Sensoren über diverse sie schützenden Rechte, die auch aktiv eingefordert werden sollten – beispielsweise zum Transfer persönlicher Daten über Landesgrenzen und zwischen unterschiedlichen Rechtssystemen. Zu guter Letzt besteht auch die Möglichkeit, Wissen als kollektives Sensorium für die Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen, um zu verhandeln, welche Zukünfte gegenwärtig wirken sollen.
[1] Siehe dazu auch Katja Mayer/El Iblis Shah, Human Sensors, in: Nina Witjes/Nikolaus Pöchhacker/Geoffrey C. Bowker (Hg.), Sensing Security. Sensors and the Making of Transnational Security Infrastructures. Manchester 2020 (in Vorbereitung).
[2] Herodot, Historien, lib II, 82, zitiert nach Wolfram Hogrebe, Seher und Sensoren. Ursprünge der Orientierungstechniken, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 2 (2009); http://www.denkstroeme.de/heft-2/s_11-19_hogrebe.
[3] Siehe https://www.thedailybeast.com/how-us-marines-are-using-esp-to-weaponize-intuition?ref=scroll.
[4] Bruno Latour, Fetish—factish, in: Material Religion, Vol. 7:1, 2011, S. 42–49.