Heft 4/2019 - Digital Unconscious
Eine geläufige Technikerzählung lautet in etwa so: Menschen lagern zunehmend ihre Fähigkeiten, von den eher manuellen bis hin zu den intellektuellen, in eigens für diese Zwecke ersonnene Maschinen aus. Diese Maschinen, egal, ob als robuste Automaten oder filigrane Rechenoperationen konzipiert, okkupieren in Folge verstärkt das, was als intelligent oder geistig hochwertig gilt. Dabei lassen sie die Menschen mit ihrer vergleichsweise niedrigen Gehirnleistung bzw. Körperkraft immer weiter hinter sich zurück, und es entsteht sukzessive ein neues Imperium: Automation und digitales Rechenwesen als Garanten eines „computational regime“, für welches der „menschliche“ Faktor in erster Linie als Datenlieferant dient, oft aber auch nicht viel mehr als ein Störelement darstellt.
So weit, so gut, so künstlerisch unerfreulich. Denn was, außer Maschinen antifunktional zu programmieren oder (auf sentimental-nostalgische Weise) der Automation gegenüber etwas zutiefst „Menschliches“ hochzuhalten, bliebe angesichts dieser Lage für den künstlerischen Eigensinn zu tun? Muss diese zunehmende Spaltung in (maschinell dahinrasende) Intelligenzsteigerung und einen verloren hinterherhechelnden (menschlichen) Bewusstseinsrest nicht einfach hingenommen werden – egal, wie vehement man ihr rhetorisch entgegenzutreten versucht? Um gar nicht erst in die Verlegenheit dieser unauflöslichen Mensch-Maschine-Kluft zu geraten, lassen sich von Kunstseite aber auch andere Strategien ins Treffen führen – Strategien, die hinter diese Spaltung zurückgehen bzw. ihr andere Wendungen geben als die hinlänglich bekannten.
Einen dieser Ansätze, man könnte ihn den „Rückwärtsgang des Entmenschten“ nennen, verfolgen die beiden französischen Künstler Fabien Giraud und Raphaël Siboni seit geraumer Zeit, und dies mit beachtlicher konzeptiver Energie und hohem, umsetzungsbewusstem Aufwand. The Unmanned, das (gendermäßig im Englischen nicht anders fassbare) „Unbemannte“, nennt sich ihre groß angelegte Filmserie, mit der sie seit 2014 eine „non-human and backwards history of technics“ zu erzählen versuchen. Und mit der sie, in den beiden bisherigen Teilen 2045–1542 (A History of Computation) (acht Episoden, 2014–18) und The Everted Capital (bislang eine Episode, 2018), nachdrücklich unter Beweis stellen, dass sich Technikgeschichte auch anders denken lässt als im Zeichen des eingangs skizzierten Spaltungsnarrativs. Dass sich anders gesagt die Latenz eines „maschinischen“ bzw. digitalen Unbewussten womöglich auf ganz andere Weise artikuliert (oder artikulieren lässt) als in der simplen Gegenüberstellung von Bewusstsein und „Computation“.
Ihre weit ausholende „Geschichte der Berechnung“ lassen Giraud und Siboni folglich nicht in einem klar definierten Moment der Vergangenheit ihren Ausgang nehmen – dort, wo das Verhängnis gleichsam ursprünglich begann. Vielmehr setzt die Geschichte, mit einer Folge namens „The Axiom“, im fiktiven Jahr „0000“ an – dort, wo gleichsam alles auf null gestellt ist oder, zukünftig gedacht, ganz bei sich selbst angelangt sein wird. Das Bild, eine einzelne Großaufnahme, zeigt den Prozess des Schneidens von Metall, während das Voice-over die Geschichte von „Friedrich Kurzweil“ in Kasper Hauser’scher Manier ausbreitet. Die Hauptfigur ist, wie sich in der Folge „The Death of Ray Kurzweil“ (wir schreiben das Jahr 2045) herausstellen wird, Vater und Sohn ebenjenes Ray Kurzweil, der mit seiner Theorie der Singularität als einer der Gründerväter des Transhumanismus gilt. Im Jahr 2045, so umreißt es der in einem mexikanischen Tropenwald aufgenommene Film, wird es Kurzweil gelungen sein, seinen eigenen Vater in der Gestalt seines Sohnes wiederauferstehen zu lassen – „the father son of a son father“, der nun ziellos durch eine neu sich entfaltende Welt schweift. Diesen Bruch mit der herkömmlichen Genealogie veranschaulicht der Film nachgerade konventionell, indem Vater und Sohn als zwei getrennte Figuren dargestellt sind. In Wirklichkeit jedoch bilden sie (gemäß der Kurzweil’schen Futurologie) ein seltsames Unikum – wobei die Reduktion so weit geht, dass sie über weite Strecken des Films überhaupt abwesend sind, eine Absenz artikulierend, die in Bezug auf das Gesehene (Wasserfälle, Gesteinsformationen, Wald) subtil zersetzend wirkt.
Einen weiteren Zersetzungsakt, auch das Verhältnis Mensch und Maschine betreffend, praktizieren Giraud und Siboni durch ihre spezielle Kameratechnik. Diese ist, wie in sämtlichen Folgen von The Unmanned, maschinell programmiert, sprich vorab nach bestimmten Parametern in das hier realisierte, neuartige Sehen eingeschrieben: sei es einer Drohne (in „2045 – The Death of Ray Kurzweil“) oder eines automatischen Kameraarms (wie in Folge zwei, „1997 – The Brute Force“, worin minuziös das Setting abgescannt wird, in dem Gary Kasparow gerade in einem denkwürdigen historischen Moment gegen den IBM-Schachcomputer Deep Blue verloren hat). Je erratischer die ruckartigen Tracking-Shots der selbsttätigen Kamera ausfallen, desto greifbarer wird eine Art von Vision, die nicht bloß in einer äußerlichen Differenz zum Humanen angesiedelt ist. Vielmehr manifestiert sich hier ein Sehen, das bewusste, zielgerichtete ebenso wie unbewusste bzw. unwillkürliche Momente mischt, ja zu einem eigenständigen Hybrid amalgamiert. Es entsteht solcherart ein Kino, worin (nach Aussage der Künstler) nicht länger die menschliche Figur das Maß aller Dinge ist, sondern das Bild sich neuen Körpern, Rhythmen und Zeitlichkeiten öffnet – allesamt „radikal fremd“ im Verhältnis zu der uns geläufigen Gegenwart.
Dementsprechend geht A History of Computation immer weiter zurück in die Vergangenheit, während sie zugleich, ihrer amalgamierenden Vision nach, unermüdlich vorwärtsdrängt. „Moving upstream“, flussaufwärts reisen, nennen die beiden diesen Prozess, wobei jeder Stein, jeder Schatten, jede Biegung zu einer „possible juncture of a completely different becoming“ wird. Dieses „andere Werden“ findet in der Serie seine äußerlichen Anknüpfungspunkte in bestimmten geschichtlichen Momenten: etwa 1953, als Alan Turing den letzten Sommer vor seinem Suizid auf Korfu verbringt und in ein obskures Reich von Meeresorganismen eintaucht; 1834, als die Seidenweber von Lyon sich gegen die damals einsetzende Automatisierung ihrer Arbeit durch den Jacquard-Webstuhl erheben (auch das eine Art, wie das Unbewusste der Maschinen sich historisch ausformt); oder 1759, als die vorherberechnete Wiederkehr des Halley’schen Kometen eine Verbindung in das Jahr 1384 eröffnet, als man das Erscheinen des Kometen mit dem Ausbruch der Pest assoziierte. An all diesen externen Daten, Jahreszahlen wie geschichtlichen Episoden, sind dichte filmische Ballungen geheftet – von Körpern, Naturen und (seltsamen) Materien, deren apparative Erfassung einmal sprunghaft und flüchtig, dann wieder in extremer Nahaufnahme vor sich geht.
Von besonderer Eindringlichkeit ist die letzte Episode „1542 – a flood“, worin das äußerliche Datum (1542) das Jahr angibt, in dem die ersten Konquistadoren den kalifornischen Landstrich besiedelten, der später zum Silicon Valley werden sollte. Die Reise der Bilder begibt sich derweilen in das Innere der dortigen Biosphäre, großteils anhand von Tierpräparaten (versteinerte Versionen von ehemals als Gottheiten verehrten Wesen). Deren makro- und mikroskopische Struktur wird mittels Neurografie und anderer bildgebender Verfahren, allesamt computergesteuert, in feinkörnigste Sphären hinein erforscht – bis der gesamte Prozess wieder, rückwärts (oder doch vorwärts?) gerichtet, bei groben Makrostrukturen anlangt. Das „Inhumane“ dieser Vision realisiert sich insofern, als eine körperlose Intelligenz hier tief ins Physische vordringt – um ebenso unergründlich wieder von ihm abzulassen.
Vermeintlich direkter im Humanen oder besser gesagt im Posthumanen ist Teil eins der zweiten Staffel angesiedelt, den Giraud und Siboni 2018 zur Gänze am tasmanischen Museum of Old and New Art (MONA) produziert haben. The Everted Capital, das nach außen gestülpte Kapital, lautet der Übertitel der Episode, die weltgeschichtlich ganz weit weg (im Jahr 7231), zugleich aber mitten im performativen Hier und Jetzt spielt. Erneut ist dem eigentlichen Narrativ ein Axiom vorgeschaltet, auf dem der Erzählbogen konzeptiv ruht. Es ist fundamental finster geworden, alles ausgelöscht, könnte man sagen, nur einige Mineralien, Pflanzen und vereinzelte Tiere künden davon, dass es einmal eine funktionierende Biosphäre gegeben hat. In dieser dunklen, ewigen Nacht leuchtet nichts mehr – außer die paar noch verbliebenen Organismen aus sich selbst, ihrem Inneren, heraus. Alles, was in der Menschheitsgeschichte irgendwann einmal als Werteinheit oder Geld gedient hat – Steine, Federn, Tierzähne, Muscheln etc. –, fängt die posthumane Registratur mittels Wärmebildkamera ein. Das unheimliche Strahlen aus dem Inneren heraus illustriert ein Stück weit jenes objektorientierte Denken, das, wenn die Biosphäre erst einmal radikal dezimiert ist, wohl oder übel den subjektiven Blick des Anthropogenen ersetzt haben wird.
Posthuman ist jedenfalls die kleine kommunenartige Gemeinde, die sich im Jahr 7231 in die „Dyson-Sphäre“, ein letztes außerirdisches Refugium, zurückgezogen hat. Gemäß dem Plan von Kurzweil eigentlich unsterblich geworden, wird diese utopische Gemeinschaft aufgrund einer infantilen Unachtsamkeit erneut vom Tod heimgesucht. Hier beginnt Girauds und Sibonis programmatische Zeitunterwanderung wieder voll zu greifen – indem nämlich sowohl auf der Voice-over-Ebene als auch jener der historischen Anmutung das ganze Setting mit dem Sozialutopismus des späten 19. Jahrhunderts kurzgeschlossen wird. So wird William Lanes „New Australia“-Kolonie, die dieser 1892 in Paraguay gründete, zur Folie eines fabulös performten Absterbens der anderen Art. Stunde für Stunde, es sind insgesamt deren 19 (jeweils komprimiert auf 20 bis 30 Minuten), stirbt eine bzw. einer der 24 DarstellerInnen – ein Akt, der über den originären Schauplatz (den Keller des MONA), die schräg-deplatzierten SchauspielerInnen-Close-ups und nicht zuletzt die eindringliche Violinbegleitung eine enorme affektive Intensität entwickelt.
Die vorhergesagte Spaltung in Maschinenintelligenz und (verkümmerndes) menschliches Bewusstsein ist hier insofern überwunden, als alles zugleich Maschine (die Dyson-Superstruktur) und Affekt (das paradoxe Sterben der Unsterblichen) geworden ist. Die Rückwärtsbewegung, die zugleich Vorwärts- oder besser Seitwärtsbewegung (hin zu einem anderen Werden) ist, weist in Richtung eines Unbewussten, in dem Technikentwicklung (immer leistungsfähigere Maschinen) und Subjektivierung (das Auf-der-Strecke-Bleiben des Humanen) immer schon miteinander verknüpft sind. Giraud und Siboni folgen dieser Verknüpfung – stromaufwärts, immanent, in ihrem Inneren, um so ein profundes, vielleicht noch ungedachtes Moment von „Computation“ und Berechenbarkeit freizulegen.