Liebe Leserinnen und Leser, was Sie hier vor sich haben, ist die exakt einhundertste Ausgabe dieser vor einem Vierteljahrhundert gegründeten Zeitschrift. Mag dies ein berechtigter Grund zum Feiern sein, so möchten wir den Anlass zugleich mit einer erweiterten Reflexion begehen: Was ist es, das die Identität eines Magazins ausmacht? Was hält das vielteilige und oft heterogene Korpus zusammen, das eine Zeitschrift – zumal über einen so langen Zeitraum hinweg – nun einmal ist? Worin liegen Singularität und Unverwechselbarkeit begründet?
Abgesehen von dem über die Jahre immer wieder nachgeschärften Erscheinungsbild ist hier vor allem ein Faktor zu nennen: das Magazin als Schnittfläche, ja als dynamischer Überschneidungsbereich unterschiedlichster Diskurse und Zugänge. So einheitlich und visuell kompakt sich die springerin nach außen hin präsentiert, so sehr besteht ihr Markenzeichen – zumindest aus redaktioneller Sicht – in einem damit verknüpften, wiewohl gegenläufigen Moment: nämlich dass das Medium es geschafft hat, über Jahre und inzwischen Jahrzehnte diverseste, oft auch inkompatibel anmutende Ansätze in sich aufzunehmen. Feminismus, Cultural Studies, Globalisierungsdiskurs, dekoloniale Theorie, fortschreitende Digitalisierung, Osteuropa-Themen, kritische Ökologie und, und, und – sie alle und noch viel mehr bilden den Hintergrund einer immer wieder neu auszuhandelnden Schnittmenge, die in jeder Ausgabe, wie wir hoffen, unverwechselbare Gestalt annimmt. Und deren prägendes Identitätsmoment, wenn man so will, genau darin liegt, dass nicht alles restlos zur Deckung bzw. einem Abschluss kommt – sondern vielmehr Überschüsse, Querlagen, produktive Disparatheiten entstehen.
Hier trifft sich das, was die springerin – zugegeben etwas schematisch – charakterisiert, mit dem, was im feministischen Diskurs seit den 1990er-Jahren immer wieder Thema war: der Debatte um Intersektionalität. Gemeint ist damit der nicht wegzuleugnende Aspekt, wonach (feministische) Identität erst in der Weise Form annimmt, in der sie mit anderen Bezugskontexten, seien sie ethnischer, klassenbezogener, queerer etc. Natur, in Relation tritt. Dass mit anderen Worten die Schnitte und Brüche quer durch identitätsbildende Formationen entscheidender sind als diese formativen Blöcke und Materien selber. „Identity – it’s the crisis, can’t you see?“ hieß es bereits in den 1970er-Jahren in einem oft zitierten Punksong.
Intersektionen also, nicht fertige, phantasmatische Konstrukte des „Identitären“ – so könnte die Losung aus dem fortdauernden Diskurs lauten: Identitäten, die sich aus einander ergänzenden, teils auch widerstrebenden Ingredienzien zusammensetzen; kulturelle Backgrounds, die gleichfalls auf überlappenden, nie reibungslos ineinander aufgehenden Referenzfeldern basieren; und mittendrin der kreative bzw. künstlerische Prozess, der immer noch gerne auf Künstleridentität und „Background“ zurückgeführt wird, sich diesen aber stets auch in erheblichem Maße entzieht. Schnitte, Überschneidungen, Kreuzungen also, wo sich die kompliziert gewordenen Hintergründe nicht mehr in einen geschlossenen Rahmen pressen lassen.
Die vorliegende Ausgabe versucht, diesem Moment auf selbstreflexive Weise nachzugehen. So fragt Suzana Milevska, bis zu welchem Grad ein Beharren auf uneinholbarer Differenz produktiv sein kann, und ob nicht der Ansatz einer alles „Identitäre“ übersteigenden Transindividualität diesbezüglich vielversprechender ist. So oder so führt die Betonung von intersektionaler Identität in widersprüchliche Situationen – etwas, das Yvonne Volkart in ihrer Untersuchung des Zusammenhangs von Feminismus und Ökologie herausstreicht. Gerade dem das Technologische nicht rundum ablehnenden Ökofeminismus kommt eine gewisse Vorreiterrolle zu, was den Umgang bzw. das Nichtwegreden solcher Widersprüche betrifft. Hans-Christian Dany wiederum nähert sich der Problematik aus entgegengesetzter Richtung und fragt, ob es nicht überhaupt verkehrt sei, beim Aspekt der Identität anzusetzen, wenn es um so schwerwiegende Dinge wie die Rettung der Welt geht. Verbirgt sich dahinter doch eine umfassendere Symptomatik, der schwerlich durch Identitätspolitik, egal welcher Couleur, beizukommen ist.
Insgesamt bildet die Debatte um Identität als Überschneidungsfeld unterschiedlichster Einfluss- und Diskriminierungsfaktoren ein übergreifendes Moment, um hier Fragen nach dem Produktionshintergrund gegenwärtigen Schaffens zu stellen: In welchem Maße lässt sich künstlerische Praxis von Markern wie Klassenzugehörigkeit, Ethnizität, Gender, sexueller Orientierung, „Migrationshintergrund“ etc. her erklären? Auf welche Weise transzendiert bzw. unterminiert der konkrete bildnerische Prozess diese aus dem kulturellen Diskurs nicht wegzudenkenden Kategorien? Macht es überhaupt Sinn, hinter allem und jedem eine zumal „intersektionale“ Identität anzunehmen? Und liegt nicht auch ein mögliches Befreiungsmoment darin, gegen jegliche Identitätsfestschreibung, wie sie in bestimmten Sektoren der Kunst immer noch gerne bemüht wird, anzuarbeiten?
Zu all diesen Fragen liefert diese Ausgabe Anschauungs- und Reflexionsmaterial – aus so unterschiedlichen Kontexten wie der Beschäftigung mit (Kolonial-)Geschichte in den portugiesischsprachigen Ländern Afrikas (Su-Ran Sichling) oder der Aufarbeitung von rassistischen Stereotypen in Museen der US-amerikanischen Südstaaten (Cornelia Kogoj und Christian Kravagna).
Insgesamt sucht diese einhundertste Ausgabe nach probaten Ansätzen und Mitteln, um den verqueren Herausforderungen, die das gegenwärtige Identitätsdenken an die Kunst und darüber hinausgehende Bereiche stellt, gerecht zu werden. Dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, diese fortwährenden Reflexionen zu einem guten Teil mittragen – vielfach schon seit Jahren und Jahrzehnten –, dafür sei Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich gedankt!