Heft 1/2020 - Netzteil


„Es wird ein bisschen unrentabel“

Interview mit Paolo Cirio

Tilman Baumgärtel


Der Lolli, den sich Kim Kardashian auf einem Bild auf ihrem Instagram-Posting zwischen die aufgespritzten Lippen schiebt, sieht wie ein harmloser roter Lutscher aus. Doch tatsächlich soll das Ding ein Mittel zum Abnehmen sein. Unter dem Markennamen Flat Tummy wird er als Appetitzügler verkauft. KonsumentenschützerInnen sehen das anders: Für sie ist Flat Tummy ein starkes Abführmittel, das Durchfall, Magenkrämpfe und Kopfschmerzen auslösen kann.
Paolo Cirio hat das Bild in seiner aktuellen Arbeit Attention mit anderen Aufnahmen von Instagram-Influencern collagiert, die ebenfalls Schleichwerbung für zweifelhafte Produkte machen: Die Russin Alina Tapilina grimassiert mit einer Flasche Wodka in der Hand in die Kamera, der Grieche Konstantinos Papathomas zieht an einer E-Zigarette.
Das Werk von Paolo Cirio kreist um die unethischen oder gar illegalen Methoden, mit denen Internetunternehmen Geld verdienen wollen. Oft nutzt er dabei die Methoden eines Hackers: Für sein Projekt Face to Facebook (2011) lud er 250.000 Porträtbilder aus dem sozialen Netzwerk herunter und fütterte damit eine Pseudo-Datingseite, die er selbst programmiert hatte. Der internationale Aufschrei war groß. Facebook musste sich für den achtlosen Umgang mit den Fotos seiner NutzerInnen entschuldigen und schleunigst die gravierenden Sicherheitslücken schließen, die die Aktion überhaupt erst ermöglicht hatten.
Cirios bekannteste Arbeit ist Street Ghosts. Darin vergrößerte er die Bilder von PassantInnen, die unfreiwillig für Google Street View fotografiert worden waren, auf Lebensgröße. Die verpixelten Konterfeis klebte er an die Wände, vor denen diese Leute aufgenommen worden waren, ohne dass man sie je um Erlaubnis gefragt hätte.
Im Interview spricht der italienische Künstler, der in New York lebt, über seine neuesten Arbeiten, über das lange Nachleben seiner Werke und über künstlerische Strategien im Zeitalter von Fake News. Einen programmatischen Ansatz bietet auch die Ausstellung Evidentiary Realism, die Cirio kuratiert hat und die 2017 in New York und Berlin zu sehen war. Hier stellte er wie in einer Art künstlerischem Moodboard Arbeiten von Hans Haacke, Harun Farocki, Mark Lombardi oder Ingrid Burrington aus, die alle mit Dokumenten bzw. recherchebasiert arbeiten.

Tilman Baumgärtel: Wie würdest du deine künstlerische Methode für den ersten Absatz in deinem Wikipedia-Eintrag beschreiben?

Paolo Cirio: Ich beschäftige mich mit komplexen sozialen Fragen, in die ich mich vertiefe, damit ich sie in ihren Auswirkungen darstellen kann. Aus diesem Grund befassen sich die meisten Arbeiten mit der wirtschaftlichen, rechtlichen und ethischen Seite dieser Themen.

Baumgärtel: Könntest du diese Methode anhand einer aktuellen Arbeit verdeutlichen?

Cirio: Meine neue Arbeit Attention ist auf den ersten Blick ein sehr einfaches Projekt, weil es nur Bilder von Instagram zeigt. Es geht um Berühmtheit, um Influencer. Es ist sexy, es ist cool. Aber wenn man mehr darüber nachdenkt, wird man die Recherchen sehen, die ich unternommen habe, um das Phänomen der Instagram-Influencer zu verstehen. Und dann ist da noch die proaktive Seite: Gemeinsam mit der Universität von Maastricht habe ich die Website influcers-watch.org erstellt, wo man derartiges Product Placement melden kann. Dies ist ein sehr einfaches Beispiel, aber die meisten meiner Arbeiten sind konkrete Lösungsvorschläge, nicht Beschreibungen eines Problems.

Baumgärtel: All das ist ein anspruchsvolles Vorhaben, für das eine Internetagentur ein angemessenes Honorar verlangen würde. Wie kannst du solche Arbeiten produzieren, ohne dafür ein Budget zu haben?

Cirio: Das ist ein langer Prozess und viel Arbeit. Ich weiß, wie man recherchiert, wie man wissenschaftliche Aufsätze schreibt, wie man eine Website gestaltet und programmiert und wie man Kunstwerke und Installationen macht. Ein Projekt wie dieses dauert ein Jahr. Bei einer Agentur mit einem Team von vier Personen würde es wahrscheinlich drei bis sechs Monate dauern.

Baumgärtel: Bei deiner Art der Arbeit sind die Werke nicht ein und für allemal fertig, sondern müssen fortgeführt werden …

Cirio: Tatsächlich ist das ein bisschen unrentabel. Ich weiß auch nicht, was ich tun soll. Ich bräuchte eine bessere Finanzierung oder eine Arbeitsgruppe bzw. Forschungsagentur, weil der Kunstmarkt nicht genug abwirft und kleine Stipendien für meine Arbeit nicht ausreichen.

Baumgärtel: Ich sehe dich in der Tradition von Gruppen wie RTMark oder den Yes Men, die mit ähnlichen satirischen Strategien gearbeitet haben. Funktioniert diese Methode im Zeitalter der Fake News noch?

Cirio: Heute löst das wohl eher den gegenteiligen Effekt aus. Die Yes Men sind auch nicht mehr so effektiv wie früher. Vor etwa zehn Jahren habe ich auch solche Fiktionen produziert, aber jetzt sind meine Werke ganz anders. Ich habe sogar über „Recombinant Fiction“ geschrieben und ein Projekt gemacht, das es jedem erlaubt, gefälschte Nachrichten unter dem Namen InVeritas zu produzieren. Das war in den 1990er-Jahren eine sehr verbreitete künstlerische Strategie. Man machte solche Kunst auch als Reaktion auf die Schriften postmoderner PhilosophInnen und als Kritik an den Massenmedien.
Das war alles schön und gut, aber jetzt haben wir einen Punkt erreicht, an dem diese Idee von den Mächtigen aufgegriffen bzw. übernommen wurde. Jetzt ist das nicht mehr cool. Wir befinden uns im Zeitalter von Trump, und es gibt jetzt eine entgegengesetzte Entwicklung. Es geht nicht mehr um zentralisierte Massenmedien, sondern um dezentralisierte Social Media. Dieses Paradigma verändert auch die ästhetischen und politischen Strategien.
Ich selbst habe mich schon immer für Dokumentation und Beweisführung interessiert. Das Ziel meiner Kunst ist nicht die Täuschung, sondern die Täuschung zu durchbrechen und die Mechanismen zu verstehen, die Täuschung erzeugen. Bei der Netzkunst ging es um Fake News, und wie einfach es ist, Fake News zu produzieren. Jetzt machen andere Leute Fake News, und die KünstlerInnen versuchen zu verstehen, wie sie gemacht sind und wie man sie erkennt.
Früher haben KünstlerInnen alternative Realitäten konstruiert. Jetzt haben viele so wie ich ein Interesse daran, die Realität aus ihren Bruchstücken zu rekonstruieren. Früher musste man neue Realitäten erfinden, weil die Zukunft noch nicht da war, zumindest nicht die Art von Zukunft, die wir uns erhofft hatten. Jetzt ist die Zukunft da, und wir haben Probleme damit zu verstehen, was gerade mit uns passiert. Es ist alles zu schnell gegangen. KünstlerInnen sind heutzutage nicht mehr in der Lage, sich die Zukunft vorzustellen, nicht einmal die Science-Fiction …

Baumgärtel: Traditionellerweise werden KünstlerInnen ja als Gegenpol der Gesellschaft betrachtet, sei es politisch, sei es weil sie Bohemiens und AußenseiterInnen sind. Du operierst hingegen wie die Firmen, die du angreifst. Du scheinst sehr gut organisiert zu sein. Deine Website ist immer auf dem neuesten Stand, jede Arbeit hat ihr Logo und ihre spezifische Gestaltung und wird von einer Liste von Werbebildern, Künstlerstatements, Rezensionen, Pressestimmen usw. begleitet.

Cirio: Nun ja, man kann schon sehr gut organisiert und sehr professionell sein …

Baumgärtel: … und selbst wie ein Unternehmen wirken …

Cirio: Das ist eben mein Job. Man muss sehr effizient sein, wenn man sich mit großen Unternehmen und großen Systemen jeglicher Art anlegt. Wenn man da eine ausgeflippte, verrückte Nummer abzieht, wird man nicht ernst genommen. Deshalb versuche ich, ebenfalls organisiert zu sein.

Baumgärtel: Wahrscheinlich hast du schon einmal den berühmten Satz von Nietzsche gehört: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Kommt dir das irgendwie bekannt vor?

Cirio: Ja.

https://www.paolocirio.net/