Heft 1/2020 - Intersektionen


Hallo Weltuntergang

Identität als Krise und Symptom

Hans-Christian Dany


Immer öfter frage ich mich, ob ich das Jetzt schon mit der Vergangenheit verwechsle, ob es mir noch gelingt, offen zu bleiben gegenüber dem, was kommt. Regelmäßig scheint sich etwas zu wiederholen, aber noch zeigen sich bei genauerer Betrachtung die Unterschiede. Im vergangenen Jahr erinnerte mich vieles an meine Kindheit. Kaum hatte ich als gerade erst auf dieser Welt ankommendes Wesen begonnen, ein wenig von dem zu begreifen, was um mich herum passierte, hieß es, der ganze Planet bewege sich auf die große Katastrophe zu. Schon damals waren es zuerst WissenschaftlerInnen, die beim Club of Rome das Schwinden der Ressourcen und Weltuntergangsszenarien berechneten. Zwei Jahre später nannten sie es dann etwas griffiger „Ölkrise“, und die Familie ging am autofreien Sonntag auf den Straßen spazieren, während der deutsche Wald im Sterben lag und Atomkraftwerke, glaube ich, noch bedrohlicher wirkten als heute. Man gewöhnt sich wohl an viel. Die große Katastrophe blieb aus, sie bewegte sich eine Zeit lang eher im Hintergrund mit, während sich die Aufmerksamkeit verlagerte.
Es geht mir hier nicht im Geringsten darum, die dramatische Situation des Klimawandels infrage zu stellen. Es beschäftigen mich vielmehr einige Unterschiede, wie mit ähnlichen Annahmen heute im Unterschied zu damals umgegangen wird. Oder um es handfester zu formulieren, wie es gerade gelingt, das politisches Aufbegehren gegen die ökologische Katastrophe in individualisierte Flugscham zu privatisieren. Während der Ölkrise sagten die Eltern und LehrerInnen zwar auch: „Zieh deinen Pulli an und dreh die Heizung runter!“ Ich kann mich aber nicht erinnern, dass es, wenn ich einmal keinen Pulli zur Hand hatte, hieß: „Stell dich in die Ecke und schäm dich!“ Die Lenkung von Verhalten durch Schuldgefühle scheint das kaum zu unterschätzende Symptom einer Ordnung, der es gelingt, die heute noch bedrohlichere ökologische Situation zu entpolitisieren. Nicht nur schämt sich jede/r für sich allein, sondern zum Ablass betreibt man Sorge um sich selbst.
Das wurde mir erstmals klar, als sich ein Bekannter meines Alters, der in der Großraumdiskothek Berghain unter dem Alias Opa Ambient auflegt, an meinen Sohn wandte, um ihm zu sagen, er solle sich unbedingt jeden Tag die Zähne putzen, sonst würde er später einmal so aussehen wie er. Dann zeigte er ihm sein Gebiss, eine Ruine. Er hätte nie gedacht, so lange zu leben angesichts des sauren Regens und der Atomkraft, und habe deshalb lieber heitere Selbstzerstörung betrieben. Mein Sohn verstand nur Bahnhof. Zahnausfall, saurer Regen und Drogenmissbrauch sind für ihn überholte Konzepte aus dem letzten Jahrhundert oder pittoreske Gadgets aus Grand Theft Auto. Vergnügungssüchtige Selbstzerstörung gibt es zwar noch, aber es hat sich eine seltsame, etwas unheimliche Unsichtbarkeit der dunklen Gefühle breitgemacht. Sicher, die Antidepressiva sind optimiert worden und werden massenhafter verteilt. Die Angst schlägt sich seltener in extrovertierten Lebensstilen nieder, sondern wird mit den TherapeutInnen verhandelt und in die Sorge um sich selbst kanalisiert. Nicht zuletzt wurde die dystopische Psychogeografie einer von Zukunftsangst gelähmten Jugend gerade erst in dem Bestseller GRM von Sibylle Berg erfolgreich auf ein Lumpenproletariat wie aus dem Bilderbuch projiziert, das sich im Wechselbad von No-Future-Gefühlen aufreibt.
Gestern stand ich vor dem ehemaligen Subito, einer schon lange geschlossenen dunklen Gruft, in der Anfang der 1980er-Jahre Weltuntergang als Lebensstil gefeiert wurde und Opa Ambient begann, sein Gebiss zu zerstören. Und während ich da so stand und an die alten Zähne dachte, fuhren ungefähr 1.000 grüne Traktoren über die Stresemannstraße. Ihre Mistgabeln zierten Pappschilder, auf denen „No Future“ stand: „No Farmers, No Food, No Future.“ Da ich nichts anderes zu tun hatte, radelte ich neben der Demo der Bauern in die Innenstadt. Dort parkten noch viel mehr Traktoren, und alle von ihren Fahrzeugen absteigenden Bauern zogen orange Sicherheitswesten an, um nun zu Fuß weiterzugehen. Sollte das jetzt ein leicht verschobenes Zitat sein oder einfach nur bedrohlich wirken? Wie verdorben ich mittlerweile bin, wurde mir klar, als mir kurz die Werber-Regel durch den Kopf spukte, mit negativen Slogans ließe sich kein Produkt verkaufen. Die latente Tragik der Demo schien aber in etwas anderem zu liegen. Sie forderte etwas viel zu unspektakulär Bodenständiges, um attraktiv zu wirken. Damit lockst du die Creative Class nicht hinter dem Bildschirm hervor. Existenzängste, wer will so etwas schon wissen? Existenzängste hat doch jede/r selbst genug. Die Polis, als Ort, an dem die Gemeinschaft die Fragen des Zusammenlebens verhandelt, existiert fast nur noch im Theater, das politisch zu sein versucht, während die Parlamente sich schon lange in Theater verwandelt haben. Manchmal gibt es noch kurze Momente, in denen das Politische als Spektakel aufscheint, da singen dann schon mal die Vengaboys. Und nicht zuletzt gibt es seit Jüngstem eine an die Kinder ausgelagerte Bewegung und Selbstdarstellung des neuen Bürgertums, das seine Forderungen geschickt zu kommunizieren weiß, überzeugende Ziele hat und kaum je die herrschende Ordnung als solche infrage stellt. Möglich wird diese postdemokratische Inszenierung, indem Klassenverhältnisse wie der Selbsterhaltungswille der bestehenden Ordnung mit einer Politik der Trennung zusammenwirken.
Eines der Hauptwerkzeuge dieser Politik der Trennung ist, was unter dem Begriff Identität verstanden wird. Deshalb scheint es aufschlussreich, die Wandlung der Bedeutung dieses Begriffs kurz zu betrachten. Noch bis in die 1960er-Jahre wurde der Begriff Identität fast ausschließlich aus der Perspektive von außen und mit Blick auf den Anderen verwendet. Mit ihm wurde gefragt: Wer ist das? Ist die Person mit ihrem Namen identisch? Identität erlaubte es, eine Person identifizierbar zu machen. Die selbstbezügliche Rede von der eigenen, nicht selten eigenverantwortlichen Identität, die Fragen „Wer bin ich? Was ist meine Identität?“ wurden erst in den mittleren 1960er-Jahren von der US-amerikanischen Psychoanalyse mit dem Begriff „Identitätskrise“ eingeführt. Diese Erweiterung des psychoanalytischen Vokabulars versuchte, den persönlichen Krisen Genüge zu tun, zu denen es, aufgrund des American way of life und dessen im Verhältnis zu Europa höherer sozialer Selbstverantwortung, der self-reliance, kommen konnte. Geprägt wurde dieser Begriff von Erik Erikson, einem Psychoanalytiker. Um was es sich bei Identität handelt, die in die Identitätskrise abgleiten konnte, formulierte Erikson recht offen in seinem Essay Youth and Crisis (New York 1968): „Bisher habe ich den Begriff Identität fast mit Absicht – so denke ich gerne – in verschiedenen Bedeutungen ausprobiert. Einmal schien er sich auf ein bewusstes Gefühl der individuellen Einmaligkeit zu beziehen, ein andermal auf ein unbewusstes Streben nach einer Kontinuität des Erlebens und ein drittes Mal auf die Solidarität mit den Idealen einer Gruppe.“
Mit der Erweiterung des Begriffs formte Erikson ein Fundament für jene selbstbezogene Rede von der Identität, die heute nicht nur selbstverständlich geworden ist, sondern ein zentrales Instrument zur Selbst- wie Fremdsteuerung der Vereinzelten sowie zahlloser Kleingruppen bildet. Die ständig von ihrer potenziellen Krise angefressene Identität muss sich nämlich eigenverantwortlich abgrenzen. Die anderen Identitäten sind für sie MitbewerberInnen, wenn nicht gar GegnerInnen. Die Konjunktur der Fragen „Wer bin ich eigentlich? Was könnte meine Identität sein?“ geht mit dem Siegeszug des Neuen Kapitalismus seit den 1990er-Jahren einher, wird aber besonders durch dessen KritikerInnen beschleunigt. Sozialdemokratische Theoretiker wie Richard Sennett oder Alain Ehrenberg lieferten vor 20 Jahren die Bestseller, mit denen einer nachwachsenden Generation das angebliche Elend ihrer Existenz so erläutert wurde: Sie wüssten nicht mehr, ob sich ihre eigene Identität noch zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen lässt. Das sei so, weil die schöne alte Welt verschwunden sei, in der es noch Sicherheiten gegeben habe: 45 Jahre lang mit dem gleichen Chef, dem gleichen Partner, dem gleichen Staat, der gleichen Versicherung und der gleichen Langeweile zu überleben. All das sei nun schrecklich unsicher geworden, „prekär“, wie alsbald gesagt wurde. Plötzlich galt Sicherheit als attraktiv, während die Lust am Abenteuer negativ besetzt wurde. Durch die Ausweitung der Rede von der Prekarisierung auf die Mittelschichten gelang es, viele, ich nehme mich da nicht aus, in einen Dauerclinch mit der Frage zu stürzen: Wer bin ich? Oder: Was ist meine Identität? Fragen, die man sich zweifellos mal stellen kann, die einen aber, wenn man sie sich zu oft stellt, nur immer weiter von den anderen abtrennen.
Die Popularisierung der Identitätskrisen im Fahrwasser der Prekarisierung auf hohem Niveau führte zu der fast zwanghaften Annahme, die eigene Identität laufend unter Beweis stellen zu müssen. Fatale Konsequenz dieses geschürten Darstellungszwangs ist es, dass das politische Potenzial des Handelns durch dessen selbstbezogene Spiegelung laufend neutralisiert wird. Statt zu fragen, was an der Umgebung falsch ist, wird die eigene Identität abgeklopft, an ihrer unabschließbaren Krise herumgedoktert und lustvoll in den Matsch der eigenen Schuldgefühle eingetaucht. Dort genießen wir es, kein Fleisch zu essen, immer eine besonders chic designte Mehrwegflasche dabei zu haben oder an Flugscham zu leiden, und verwechseln diese Sorge, weniger um die Umwelt, als um uns selbst, mit Politik. Um wieder in größeren Kreisen zu denken, scheint es notwendig, drastisch mit der Fülle an Beweisen unserer Identität zu brechen.
Bei der erdrückenden Umarmung der Fridays-for-Future-Bewegung geht es aber nicht nur um Psycho, es geht auch um den identitären Selbstbeweis der gehobenen Mittelschicht, sprich die Bestätigung von Klassenverhältnissen. So viel Gehör findet diese Bewegung, da es die Kinder der herrschenden Klasse sind, die da auf die Straße gehen. Stolz winken die Eltern und rufen laut: „Schau mal, wie schlau unsere Kleinen sind!“ Wenn es sich um die Kinder der Gelbwestenbewegung handeln würde, könnten es zehnmal so viele sein, und es würde sich immer noch kein medialer Verstärker oder postdemokratischer Politiker dafür interessieren, was diese blöden Prolls überhaupt wollen. Die Prolls sind doch heute, wenn sie auf die Straße gehen, sowieso fast immer FaschistInnen. Mami und Papi wissen das, sie haben doch Eribon gelesen. In der rasanten Anerkennung der Forderungen der Fridays-for-Future-Bewegung beweist sich der Optimismus der „Neuen Eliten“, an denen meist nicht so viel neu ist, da sie wie die alten bürgerlichen Bewegungen auf Erhalt gepolt sind. Und zur Belohnung des Demokinds klebt die Familie eine dicke Schicht isolierendes Styropor auf das Haus und fährt wie Oma und Opa mit der Bahn in die Ferien.