Heft 1/2020 - Intersektionen


Identität – Spielmacher des „Teams Metadaten“ in der Kunstliga

Süreyyya Evren


Das Kunsterlebnis bestimmt in der heutigen Kunstwelt, wie Identität und ihre Diskurse in die „Metadaten“ der Kunst (und damit in ihre Aura) einfließen. Metadaten nennt man normalerweise alle Informationen über ein Kunstwerk oder eine Künstlerin bzw. einen Künstler, die zur Identifikation und Klassifikation dienen. Bei Kunstwerken gehören dazu so grundlegende Eigenschaften wie der Titel, das Jahr, Materialien und Medien, Editionsangaben, Dimensionen sowie Preis, Signatur, Provenienz und eventuell noch Zustand und Rahmung. Dazu kommen noch alle Reproduktionen des Werks sowie Sekundärmaterial wie Presseinformationen, Ausstellungsfotos, Audioguides, Broschüren, Flyer, Kataloge, Social-Media-Posts, Kunstvermittlungstexte, Kurzvideos usw.
Wie man diese Metadaten erlebt, hängt unmittelbar damit zusammen, wie man die sogenannte Identität der Künstlerin oder des Künstlers sieht. Ich möchte mich zunächst aber ganz diesen Metadaten und der Frage, wie wir sie erleben, widmen.

Der Nutzwert des Erlebens
Wenn es um das Erleben geht, darf man sich fragen, warum es in der heutigen Kunstwelt denn so selbstverständlich positiv verstanden wird. Warum sind Erlebnisse „in“? Und wie kam es, dass im Kunstdiskurs die Identität zum Schlüssel des Erlebens aufgewertet wurde? Über den „Kunstsprech“ kann man sich ja bekanntlich leicht lustig machen, aber selbst wenn wir uns nicht des typisch „mafiösen“ Kunstdiskurses schuldig machen, bleibt das Erleben in der Theorie und in den Erzählungen über Kunst grundlegend positiv konnotiert. Das unmittelbare Erleben ist nun einmal das Fleisch auf dem dünnen Skelett jeder Ausstellung. Es stellt sich also die Frage, warum wir das Erleben so anhimmeln. Weil es irgendwie noch authentisch wirkt?
Natürlich kann man das Erleben immer auch als theoriedurchdrungen verstehen (wenngleich diese Sichtweise unüblich ist).1 Interessant ist jedoch, dass der Begriff im Zusammenhang mit der Kunst bis heute seinen mystischen Unterton behalten hat. Was die Kunst anlangt, ist etwas Unerklärliches nahezu immer gut. Doch was schützen wir eigentlich mit dieser Unerklärlichkeit?
Man könnte behaupten, dass das Erleben und sein Nutzwert in der heutigen Kunstwelt geradezu dinglich aufgefasst werden – als ein Ding, das dem etwas infantilen Publikum aufgetischt wird, wenn die genannten Metadaten intellektuell zu schwierig und daher zeitintensiv werden.
Unzufriedene Gesichtsausdrücke beim Publikum, das sich eingeschüchtert und gelangweilt durch Museen, Galerien, Biennalen und Events schleppt, ermüdet von zu viel Vermittlung, bisweilen gar von Hausaufgaben, die ihnen selbsternannte Autoritäten auferlegen – all das lässt die Frage aufkommen, ob das Problem an der Gegenwartskunst nicht vielleicht ist, dass sie zu populär ist. Kunst bekommt immer mehr Aufmerksamkeit in Presse, Medien, ja der Kultur im Ganzen, obwohl sie bei Weitem weniger unterhaltsam ist als die populären Kunstformen, wie Kino oder Buchbestseller. Penibel muss man Bedeutungsschicht um Bedeutungsschicht freilegen, wobei die Tausenden Querverweise echte Hingabe, was das Verstehen der Werke und Ausstellungen betrifft, erfordern.
Dies führt zu einem praktischen Problem. Trotz ihrer Popularität ist Kunst nicht leicht konsumierbar. Sie verlangt ziemlich viel Zeit, Energie und Interesse. Immerhin hat die Kunstwelt in Form von Institutionen, Publikum und Kultur im Ganzen bereits so viel in die Kunst investiert, dass alle Beteiligten eine Rendite erwarten. Also verlangt auch das Publikum immer mehr von der Kunstwelt, die dadurch jeden Tag populärer, größer und wichtiger wird, bis sie sich schlicht nicht mehr leisten kann, potenzielle KonsumentInnen abzuweisen. So werden die Erwartungen an die Kunst astronomisch.
Folglich kann die Kunstwelt auch nicht mehr riskieren, mit ihren Events einen „falschen“ Eindruck zu erwecken, der das Publikum fühlen lässt, sie seien in erster Linie Profis zugedacht. Die Profis mögen VIPs sein, so viel sie wollen, letztlich aber muss die Kunst etwas Sensationelles an sich haben um anzukommen. Und genau dafür ist der Begriff des „Erlebnisses“ dienlich.
Als Kunstweltprofis gestalten wir das Erlebnis des Publikums, besonders dann, wenn die Entschlüsselung dessen, was wir tun, wahrscheinlich zu aufwendig und die Popularität ungerechtfertigt wäre. Wir ähneln gleichsam einem Bataillon, das aus einem Experimentalfilm einen Blockbuster oder aus einem Band konkreter Poesie den Bestseller des Jahres machen möchte.
Kurz gesagt, wenn das Publikum die Bedeutungstiefe eines Kunstwerks nicht schnallt, geben wir ihm als Surrogat den hochdekorierten Begriff des Erlebnisses. So muss es sich nicht ausgeschlossen fühlen, braucht nichts kapieren, nichts analysieren. Mit größtem Selbstvertrauen kann es nun die Kunst einfach erleben! So einfach kann’s gehen!
Doch im Begriff des Erlebens schwingen, auf Kunst und Ausstellungen angewandt, zwei Probleme mit. Erstens ist der Charakter des Erlebens selber fragwürdig: Was genau erleben wir überhaupt? Und zweitens kann man das Erleben zeitlich und räumlich nur schwer definieren. Wo und wann erleben wir denn überhaupt eine Ausstellung? Wann fängt das Erlebnis an und wann hört es auf? Beginnt das Kunsterleben vor oder nach dem Ausstellungsbesuch, oder findet es genau dann statt? Alle Sekundärtexte über Kunst, alle Metadaten, Informationen, Videos, Fotos, Publikationen, das heißt alle Reproduktionen – sind sie nicht auch Teil des Kunsterlebens? Wenn, um mit Boris Groys zu sprechen, diese Metadaten die verlorene Aura ersetzen,2 welche Authentizität kann dann das Kunsterlebnis für sich beanspruchen? Und außerdem, wenn man mit Diskurs generell manipulieren kann, warum sollte es dann nicht möglich sein, auch das Erleben zu manipulieren?
Jedenfalls wirkt sich der Akzent auf das Erleben im Allgemeinen infantilisierend aus. Nach einem langen Tag in einem Museumstanker mit all seinen Erklärungsgadgets darf man schon einmal erschöpft sein. Immerhin hat man Tausende Textschnipsel gelesen, die sich nicht nur auf andere Textschnipsel, auch auf Klassiker der aktuellen Theorie und Literatur beziehen, sondern auch auf Texte über diese Texte, auf Bilder und andere KünstlerInnen. All diese Texte bringen neue Aspekte ein. Sie lassen uns über Formen, Medien, Farben und ihre Geschichten nachgrübeln. Nach mehreren solchen Infoexperimenten ist man allerdings abends so ermattet wie Kinder nach dem Kindergarten. Ist die heutige Kunst also insgesamt eher für Kinder da?
Bevor man darüber nachdenkt, wie sich das Erleben eines Kunstwerks vom Erleben seiner Reproduktionen unterscheidet, sollte man vielleicht kurz bedenken, was die Künstlerin oder der Künstler selbst erleben. Angesichts des berühmten Satzes von E. H. Gombrich – „Es gibt keine Kunst, es gibt nur Künstler“3 – scheint es umso wichtiger zu bedenken, wie sich die Künstlerin bzw. der Künstler selber fühlt.
Der Künstler Grayson Perry meint diesbezüglich, es gehe um Mut. Man muss sich trauen zu sagen, man sei KünstlerIn, betont er. Wenn dich auf einer Party zum Beispiel ein Unbekannter fragt, was du denn so machst, und du antwortest mit einem knappen „ich bin Künstler“, dann bist du auch ein Künstler. Perry geht es indes um die Grenze zwischen Kunststudierenden und KünstlerInnen. „Worin diese Grenze genau besteht, weiß ich nicht“, meint er und fügt hinzu: „Ich denke, es geht um Identität. Wenn du auf der Party antwortest, dass du Künstler bist, musst du deinen ganzen Mut zusammennehmen.“4
Perry meint also, mit dieser Äußerung mache man einen Riesenschritt, einen Schritt ans andere Ufer. Trau dich und du bist KünstlerIn! Und im selben Augenblick erlebst du auch dein Leben wie eine Künstlerin bzw. ein Künstler! Ist der Gedanke nicht spannend, dass alles damit beginnt, dass man einfach eine Identität behauptet? Und wenn Gombrich recht hat und es nur KünstlerInnen (und keine Kunst) gibt, dann gibt es auch nur Künstleridentitäten.
Doch mit den heutigen Identitäten in der Kunstwelt hat es so seine Bewandtnis. Man nehme noch einmal dieselbe Party, denselben Künstler, aber jetzt mit kleinen Variationen:
– Was machen Sie?
– Ich bin ein kurdischer Künstler in der Türkei.
– Was machen Sie?
– Ich bin Künstleraktivist.
– Was machen Sie?
— Ich bin feministischer Künstler.
Würden Sie so antworten? Und wenn nicht, warum nicht?
Nun gut, vielleicht wäre das nicht unbedingt die erste und naheliegendste Antwort, aber würden Sie nicht, sagen wir, im ersten Absatz Ihrer Bio Ihre Identität offen auf den Tisch legen? Ist das nicht sehr wahrscheinlich? So wie andere sagen „Ich bin im Verkauf tätig“, würden Sie vielleicht sagen:
– Ich bin in der Kunst tätig, genauer gesagt in …
Mit Joan Scott, die meinte, das Erleben sei so etwas wie ein Gegenkonzept zum Kunstobjekt, könnte man zwei verschiedene Formen von Identität und Künstlersein unterscheiden. Wenn ich sage „Ich bin Künstler, weil ich Kunstobjekte schaffe oder dies zumindest könnte“, dann messe ich dem Erleben und somit auch dem Prozess offenbar weniger Bedeutung zu. Wenn es um das Schaffen von Kunstobjekten auf hohem ästhetischen Niveau geht, dann ist Identität ziemlich egal. Kunstakademien mögen wichtig erscheinen, aber weniger für die Identität als für die Stilbildung.
Wenn mir hingegen das Erleben wichtiger ist, werde ich mich mehr und mehr vom Kunstobjekt entfernen. Größeres Augenmerk auf Erlebnis und Prozess bedeutet, dem täglichen Leben mehr Bedeutung beizumessen, mit anderen Worten außerkünstlerische Erfahrungen gleich wichtig zu erachten und ästhetische Erfahrungen nicht zu verherrlichen. Das Bedürfnis nach dem genialen Touch wird mithin kleiner, mangelnde Fertigkeit wird weniger entscheidend sein, dafür aber wird der Diskurs immer wichtiger. Mit anderen Worten, die Metadaten werden wichtiger.
Identität steht also gegen Akademie, Schulen und Stil. Als Gegenkonzept zu den Metadaten kommt hier auch das Unerklärliche ins Spiel. Identitäten erklären und stabilisieren ja immer, während Gesten der Einzigartigkeit eher auf das Gegenteil abzielen. So entsteht beispielsweise eine neue furiose Avantgarde gegen den Akademismus, der auf das geschickte Fertigen von Kunstobjekten aus ist. Es geht also um die alte Diskussion, ob es besser ist, wenn das Kunstwerk Orientierung, Subjektivität und Tendenz verkörpert oder primär auf Form, Gestalt und Geschick abzielt?

Aber wer ist die Betrachterin bzw. der Betrachter?
Der Betrachter einer Ausstellung ist wie ein Gastvortragender an der Uni. Er erlebt auf „informierte“ Weise, denn er liebt die Kunst. Ab und zu mag er bloß zum Vergnügen da sein, aber meistens vollendet er das Kunstwerk erst durch sein Betrachten. Er arbeitet also, indem er dem Kunstwerk für eine gewisse Zeit seine Aufmerksamkeit schenkt oder mit ihm körperlich interagiert.
Der Betrachter ist heute zumeist in dem Sinn selber Künstler, dass es zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen keine fixe Grenze mehr gibt. Ich bleibe also bei der Formel von Grayson Perry, man sei Künstler, wenn man dies öffentlich behauptet und jedermann dazu einlädt, Teil der eigenen Künstleraura zu werden.
Dennoch ist ein Betrachter im Museum oder in der Galerie oder in der Performance nicht zu Hause. Er spielt immer ein Auswärtsspiel. Wie ein Zugvogel ist er nur auf Besuch. Das Wort Besuch lauert überhaupt im Schatten der Metadaten. Die Metadaten rekonstruieren ja die gewollte Identität der Kunst, machen sie zugänglicher und zugleich anstrengender. Form und Inhalt der Metadaten werden gegenwärtig immer komplizierter und damit selbst zu einer Kunst. Sogar die Kenntnisnahme der Metadaten eines Kunstwerks gerinnt heute leicht zur Kunst, was auf den zuvor genannten Betrachter als Künstler verweist.
Ein Leser liest ein Buch, ein Kinogeher schaut einen Film, ein Publikum lauscht einem Konzert – aber was macht ein Betrachter mit dem Kunstwerk? Was fängt er mit ihm an? Besucht er es? Betrachtet er es? Hat er Teil an ihm? Erlebt er es? Betracht er nicht, sondern erlebt er? Doch halt, Moment! Das macht der Betrachter ja gar nicht! Sein Erleben kann doch, wie schon ausgeführt, gar nicht im Ausstellungsraum allein verortet werden. Außerdem erlebt(e) er auch viele andere Metadaten. Der Betrachter betrachtet folglich seinen eigenen Erlebnisraum. So gesehen kann man Kunst überall erleben, nicht nur, wenn sie sich als Original im gleichen Raum befindet. In jeder Bibliothek zum Beispiel oder auf jedem Computer mit Internetzugang.
Der argentinische Schriftsteller César Aira schreibt in seinem Bändchen über die zeitgenössische Kunst,5 wie er das Durchblättern von Kunstzeitschriften erlebt. Zu seiner Überraschung stellt er fest, dass dieses Durchblättern nicht besonders reizvoll ist. Man blättert und blättert und was man sieht, ist keineswegs ein Augenschmaus. Kein visueller Anspruch, die Abbildungen wollen nicht so recht zusammenpassen. Eine optische Enttäuschung! Ganz zeitgemäß begreift Aira also, dass die Reproduktion selbst zu einem Kunstwerk, genauer gesagt, zu einer Kunst ohne Werk geworden ist. „Die Kunst wird zu einem fantastischen Spiel mit der Zeit, sie dokumentiert, was früher Versprechen für die Zukunft war“, meint er lakonisch.
Mit Reproduktion meint Aira mehr oder weniger die Metadaten. So könnte man alle Sekundärtexte als Kunst ohne Werk sehen. Alle Pressemitteilungen, alle Rezensionen, alle Fotos, alles. Das ist eine etwas andere Sicht als die von Groys. Die Metadaten ersetzen hier nicht die verlorene Aura, sondern schaffen eine ganz neue Aura, die ohne Werk auskommt. Und diese ist freilich gut redigiert und kuratiert. Kurz, die Metadaten sind eine konstruierte Aura. Kunstwerke (und die mit ihnen postulierte Aura) sind Metadaten, und Metadaten funktionieren vor und nach der Realisierung des Werks, ja manchmal sogar dann, wenn das Werk überhaupt nie realisiert wird.
Bisweilen hört man das Publikum murren, warum man dies oder das nun Videokunst nennt und nicht als das bezeichnet, was es „wirklich“ ist – ein Dokumentarfilm zum Beispiel. Warum nennt man einen Haufen Archivmaterial eine Installation? Was unterscheidet ein Kunstvideo von einem Dokumentarfilm? Ist es das Erlebnis oder der Diskurs? Das murrende Publikum glaubt, es sei der Diskurs. Weswegen hier mit der Identität, den Metadaten, Schindluder getrieben werde.
In der Kunstwelt wird das Werk also zu seinem eigenen Abbild – einem Bild von einem Bild. Heute ist dies ein relativ normaler Vorgang. Kein Bild bleibt für immer Reproduktion, zumindest kann man sich dessen nicht gewiss sein. Ein Dokument kann zu einem Kunstwerk werden, Metadaten zur Aura, die wiederum zu neuen Metadaten Anlass gibt. Kunst konstituiert sich als eine ganze Reihe solcher Bedeutungsakte, die das Werk immer weiter von seiner ursprünglichen Herstellung entfernen.
In diesem Sinn gilt es zu verstehen, dass die BetrachterInnen nicht Kunst im Allgemeinen, sondern das konkrete Kunstwerk betrachten, das auf vielerlei Weise (als alle seine Reproduktionen) existiert und durch Kanäle zirkuliert, die es zum Teil selbst schafft und in denen es weiter multipliziert wird. Das Ding, das dort im Museum hängt und darauf wartet, betrachtet zu werden, ist nicht Kunst, sondern ein Kunstwerk, das nur existiert, insofern seine BetrachterInnen schon vorher massiv vorgeprägt wurden (hier sei einmal mehr auf Joan Scott verwiesen, die das Erleben als von Theorie geprägt auffasst). All die Andenken und was wir sonst noch von unseren Museumsbesuchen mit nach Hause nehmen (Kataloge, Zettel mit Texten und Bildern, Souvenirs) könnte man vielleicht Gegenbesuch oder Rückbetrachtung nennen.

Der Schmetterling im Spiegel
Die LeserInnen sind im Buch, die KinogeherInnen im Film, das Musikpublikum im Konzert, aber bei der bzw. dem Kunstbetrachtenden ist das nicht so klar. Die BetrachterInnen sind Outsider, sie kommen von draußen und bleiben auch draußen, besuchen das Werk nur und gehen wieder (auch im Museum sind sie schon wieder „weg“, sobald sie den nächsten Raum betreten). Beim Weggehen nehmen sie ihr Erlebnis, den Ausstellungsguide und die Fotos, die sie gemacht haben, einschließlich der Selfies, wieder mit. Sie nehmen also etwas vom Kunstwerk, ohne es zu schmälern – sie „plündern“ gleichsam seinen Mehrwert.
Nun lässt sich besser verstehen, warum die BetrachterInnen keine KunstliebhaberInnen mehr sind. Nicht nur, weil es nach heutigen Maßstäben naiv wäre oder keinen Distinktionsvorteil mehr brächte (wenn man Kunst liebt, ist man den anderen immer noch überlegen), sondern weil Kunst auch ohne Werk gut funktioniert. Ein Museumsbesuch bedeutet folglich auch nicht mehr, dass man Kunst mag. Kunst braucht keine besondere Instandhaltung und keine Institutionen mehr, Kunst ist überall und in allen Formen. Vielleicht mögen die Betrachtenden einfach nur das Erlebnis Kunst! Und das geschieht dort, wo die KünstlerInnen sind, und auch dort, wo sie nicht sind. Kunst kann alles sein, alle Texte, alle Reproduktionen, alle Skizzen, alle Fotos, alle Diskurse. Aber immer noch ist dem Publikum ein direktes Erlebnis lieber als die reinen Metadaten.
Kommen wir auf Airas Vorstellung zurück, die Kunst existiere vor und nach ihrer Realisierung. Er meint weiter, dass „die Kunst ein Fantasiespiel mit der Zeit treibe: Sie dokumentiert, was war, und verspricht zugleich, was in Zukunft sein könnte. Sie ist ungeboren und posthum zugleich. Vielleicht war das Kunstwerk dies immer: ein prekäres und zwiespältiges Wesen zwischen dem Vor und dem Danach.“6
Das Kunstwerk ist also ein Test seiner eigenen Zeitlichkeit, und die beginnt lange vor der Realisierung und endet lange danach. Es hat nicht so sehr mit dem unmittelbaren Erleben zu tun, sondern vielmehr mit Bezügen, Konzepten und Akkumulation. Es verlangt nach einem Erleben, das weit über den unsympathischen Begriff der Vermittlung hinausgeht.
Wenn die Kunst aber immer schon nicht bloß prekär und zwiespältig war, sondern auch zwischen einem Davor und Danach schwebte, dann wird sie am besten als Pendelbewegung vor und nach der Betrachtung erlebt. Kurz gesagt ist sie in jenen Lücken angesiedelt, wo man kein Betrachter mehr ist. Die direkte Betrachtung könnte man vielmehr als eine Art Vorstufe auffassen, in der es gar kein Kunsterleben gibt. Daraus ergibt sich die Frage, ob man ein Kunstwerk erleben kann, das es gar nicht gibt.
Diesbezüglich gibt es natürlich individuelle Unterschiede, sowohl was das kollektive Gedächtnis als auch das Unbewusste anlangt. Auch ob man allein von Raum zu Raum durch eine Ausstellung geht oder in der Gruppe (man ist ja immer nur einer von Hunderttausenden oder Millionen, die durch dieselben Räume geschleust werden) oder bei einer Pre-Pre-Preview oder bei Depotbesichtigungen mit wichtigen SammlerInnen. Viele sagen, dass man in der Partyatmosphäre einer Eröffnung die Kunst ohnehin nicht richtig erleben kann. Und doch „sehen“ sehr viele die Kunst nur dort. Bei einer Eröffnung betrachtet man nicht nur das Kunstwerk, sondern auch die Kunst an sich. Es handelt sich also um einen besonderen Moment, weil sie nur hier zusammen vorkommen.
In César Airas Roman Eine Episode im Leben des Reisemalers reist ein europäischer Maler namens Rugendas durch Amerika. Dabei malt er Bilder und träumt davon, später exakt dieselben Orte noch einmal zu besuchen. In seinem Traum kommt er durch dieselben Orte und trifft dieselben Menschen: „Seine Künstlerphantasie malte sich die zweite Reise wie den anderen Flügel eines Schmetterlings im Spiegel aus.“7
Dieser Satz fällt mir immer auf Ausstellungseröffnungen ein, wenn jemand davon redet, die Ausstellung später noch einmal besuchen zu wollen. Er träumt dann davon, durch dieselben Gänge zu gehen, dieselben Stimmungen zu haben, dieselben Texte zu lesen – und sucht dabei den anderen Flügel eines gigantischen Schmetterlings im Spiegel.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] „Das Erleben ist weder elementar noch unmittelbar“, schreibt Joan Scott. „Das ‚Erleben‘ ergibt sich vielmehr immer aus Antonymen, von denen es sich im diskursiven Feld abhebt, zum Beispiel von ‚Reflexion‘ oder ‚Theorie‘ im epistemologischen Diskurs, von ‚Dogma‘ oder ‚Theologie‘ im religiösen Diskurs, vom ‚Kunstobjekt‘ im ästhetischen Diskurs oder von ‚Unschuld‘ im moralischen Diskurs“. Zitiert nach Martin Jay, Songs of Experience: Modern American and European Variations on a Universal Theme. Berkeley/Los Angeles/London 2005, S. 6.
[2] In seinem Buch In the Flow (London/New York 2006) schreibt Boris Groys: „Die digitale Archivierung hingegen ignoriert das Objekt und bewahrt die Aura. Das Objekt selbst fehlt. Was bleibt, sind seine Metadaten – die Informationen über das Hier und Jetzt seiner ursprünglichen Einschreibung in den Materialfluss – in Form von Fotos, Videos, Textbelegen. Das Museumsobjekt erforderte immer schon eine Deutung, die seine verlorene Aura ersetzte. Digitale Metadaten indes erzeugen eine Aura ohne Objekt. Deshalb folgt auf diese Metadaten typischerweise ein Reenactment des dokumentierten Ereignisses, der Versuch also, das Fehlende inmitten der Aura auszufüllen.“
[3] Das legendäre Diktum stammt aus der Einleitung seiner Geschichte der Kunst. Köln 1952.
[4] Grayson Perry, Playing to the Gallery: Helping Contemporary Art in its Struggle to Be Understood. London 2016, S. 125.
[5] César Aira, On Contemporary Art. New York 2018, S. 20.
[6] Ebd.
[7] César Aira, Eine Episode im Leben des Reisemalers. Übersetzt von Christian Hansen. Berlin 2016.