Heft 1/2020 - Netzteil


Everybody in the Place: Ok, Deller

Zu Jeremy Dellers Dokumentarfilm über den Second Summer of Love

Raphael Dillhof


Turner-Preisträger Jeremy Deller forscht stets in der britischen Vergangenheit: Ob er Stonehenge als Hüpfburg nachbauen lässt oder die Battle von Orgreave, einen Zusammenstoß zwischen streikenden Minenarbeitern und Polizei, reinszeniert – unermüdlich verbindet er Politik und Alltag und sucht nach den Zusammenhängen zwischen Phänomenen. So auch in seinem aktuellen Dokumentarfilm Everybody in the Place, der sich dem Second Summer of Love widmet, der großen Rave-Welle, die sich in den späten 1980er-Jahren ausbreitete und auch nach England schwappte, wo sie während der repressiven Thatcher-Jahre zur chaotischen, gesellschaftsverändernden Kraft wurde. Die Doku, die als Auftragsarbeit mit Unterstützung von Gucci zur Frieze Art Fair 2018 entstand und inzwischen auch von der BBC ausgestrahlt wurde, traf auf ein stürmisches Medienecho und ebenso begeisterte Alt-Raver.
Everybody in the Place wirkt dabei „straight forward“: Deller steht vor einer englischen Schulklasse und hält mit Filmmaterial aus der Zeit, mit bunten Flyern und einigem Originalequipment eine Art Workshop zu der Welle des Chaos, die über das Land zog, bevor die jungen Zuhörenden überhaupt geboren wurden. Wie eine ganz normale Schulstunde wirkt der Film zunächst – aber schnell wird klar, dass Deller sich der Rave-Kultur mit demselben Hebel nähert wie in all seinen bisherigen Projekten: Er gibt hier weniger Musikunterricht, sondern vor allem eine Lektion im Fach Politik.
Denn um die Ursprünge von Acid House in den schwarzen und schwulen Subkulturen von Chicago und Detroit geht es Deller nur bedingt. Vielmehr zieht er in dem Workshop weite Verbindungslinien: Vom Niedergang der Industriegesellschaft und vom Wachstum des Dienstleistungssektors, die eine Bruchlinie in der Gesellschaft erzeugt haben, spricht er, und davon, dass diese aufgebaute Spannung sich gerade in Raves entladen musste. Nicht zufällig hat dieser Wandel ausgerechnet leere Fabrikhallen als Freiräume für Partys geöffnet. Und wie oft in seinem Werk kommt Deller immer wieder auf den Streik der Bergarbeiter zurück, der die britische Gesellschaft von 1984–85 tiefgehend erschüttert hat. Deller spannt einen großen Bogen, mixt fast wie ein DJ Archivmaterial zu neuen Aussagen: „Musik ist eine Möglichkeit, die Produktionsmittel zurückzuerobern“ – so verbindet er Marx an einer Stelle mit den im Hobbykeller produzierten Tracks. Es soll ein Experiment mit offenem Ausgang sein: Der Künstler lässt immer wieder durchscheinen, dass er selbst nicht genau weiß, wie alles zusammenhängt: Er hinterfragt sich selbst, scheint auch von den Kindern lernen zu wollen. Dennoch hat er eine klare Narration: Er zeigt Rave als radikalen Akt, eine Gesellschaft wiederherzustellen, die die Thatcher-Regierung versucht hat zu zerstören.
Und vor allem legt er viel Nostalgie in seinen Film: „Wenn ich traurig bin, gucke ich so eine Szene auf YouTube und es geht mir sofort besser“, sagt er über eine Tanzsequenz. Dies scheint einer der Schlüsselaussagen des gesamten Films zu sein. Denn sieht man sich die Struktur der Doku an, steht hier ein mittelalter weißer Mann vor einer äußerst diversen Kinderschaft und belehrt sie über die gute alte Zeit. Und diese hat sichtlich auch Spaß an der ungewöhnlichen Stunde – aber am Thema selbst scheint sie eigentlich desinteressiert. Der fremde Mann, der vor ihnen steht und von den Ereignissen der späten 1980er-Jahre erzählt, muss für die Jugendlichen heute zwangsläufig wirken, als halte er eine Lektion über die Frühgeschichte der Menschheit. „Looking partially through the eyes of people born in 2002 and 2003 really makes 1989 look like another world“, schreibt eine wohlwollende Kritik. „Kam der Bergarbeiterstreik aus Klimagründen?“, fragt eine Schülerin naiv.
Warum, möchte man fragen, lässt Deller seinen Film überhaupt in einer Schulklasse spielen? Er möchte die Kinder motivieren, könnte man vermuten. Doch vor allem zieht er über sie eine zweite Ebene ein: Die Klasse wird zu einer Folie, vor der er die Kids des Second Summer of Love auftreten lässt – in einem Vergleich, bei dem die heutige Jugend nicht allzu gut wegkommt. Warum wird heute nicht mehr so rebelliert, fragt Deller. Daraufhin fällt eine Aussage, die dieses zweite Narrativ zu bestätigen scheint: „Wir haben die Sozialen Medien“, sagt eine Schülerin sinngemäß, „vielleicht rebellieren wir deshalb nicht.“ Die Aussage, die man schon tausendfach in semispannenden Leitartikeln lesen musste, wird auch hier zu einer Art Dreh- und Angelpunkt: Die Kids sind gelangweilt, passiv und detached, weil sie zu viel online sind.
Aber ist der Vergleich überhaupt zulässig? Klar ist die politische Ausgangslage ähnlich, könnte man behaupten. Was damals der Bergarbeiterstreik, das prekäre Leben im Thatcher-Staat war, ist heute der Brexit, der Zukunftspläne wohl nachhaltig erschüttern wird. Aber der damals beginnende Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, den Deller immer wieder ins Treffen führt, ist längst an seinem Endpunkt angekommen. Wo sind heute die Freiräume, wenn Fabriken schon besetzt sind von Cafés und Bars und Discos und Start-ups – und auch von Museen, Galerien und Artspaces?
Und ist die Jugend heute überhaupt unpolitischer als damals? Auch das scheint kaum haltbar. Mag sein, dass der Second Summer of Love ein Befreiungsschlag für weite Teile von Englands Jugend war, eine Bewegung als Reaktion auf die repressive Politik der Thatcher-Jahre, aber mit politischen Zielen war er nur sporadisch verbunden. Die heutige Jugend scheint da weiter zu sein. Bei Hongkongs Protestbewegung oder Extinction Rebellion werden radikale Haltungen und Outsidertum mit konkreten Forderungen verknüpft, und Jugendbewegungen wie Fridays for Future sind längst zur wichtigen Kraft in der politischen Debatte geworden (übrigens mit Sozialen Medien als Multiplikatoren und neuen Technologien als Mittel zur Vernetzung!). Ist der Aktivismus nur in England weniger stark? Auch das mag man bezweifeln, angesichts Tausender BrexitgegnerInnen auf den Straßen.
Deller unterschätzt die Jugendlichen von heute, genau wie er (als bekennender Nicht-Raver) die Rave-Kultur zum Ausdruck politischen Wollens hochstilisiert. Sein Film versucht, die Vergangenheit zu analysieren, aber für die Gegenwart ist er taub. Etablieren sich nicht gerade über neue Medien Kanäle, die andere Lebensweisen möglich machen? Musik und Revolution, da mag Deller recht haben, haben sich in den heutigen Demokratien vielleicht aufgetrennt – aber beide sind noch alive und well und haben ihre Verbindung nie ganz gekappt. In Tiflis etwa ist die Zugehörigkeit zur wachsenden Technoszene immer noch ein politischer Akt,1 und auch anderswo sind Clubs potenziell immer noch utopische Orte, die sich den Undergroundstatus (ganz im Gegensatz zur Kunstwelt) bewahrt haben. Vor diesem Hintergrund wird Dellers Interesse auch als typische Fetischisierung von Subkulturen durch die Hochkultur lesbar.2
Auf gewisse Art hat die Schülerin vielleicht recht: Soziale Medien sind heute tatsächlich das, was die Clubs damals waren – aber wo die Aussage in Dellers Film einen negativen Unterton hat, könnte man das Netz eben auch als utopischen Raum beschreiben, in dem es jene Nähe und Intimität gibt, die die Jugendlichen früher im Rave gesucht haben. Und was Deller ebenfalls außen vor lässt: Auch in der Welt des Rave spielt das Netz mittlerweile eine tragende Rolle. Krypto-Raves etwa treten heute das Erbe der klandestinen Partyveranstaltungen an: Anonym über Blockchain-Technologien organisiert und mittels Bitcoin Mining bezahlt, sind diese Partys nur für Insider zugänglich, um vor dem Zugriff durch die Polizei geschützt zu sein. Möglicherweise wird sogar Acid House aus den 1980er-Jahren gespielt. Deller sollte einmal reinschauen.

https://www.youtube.com/watch?v=N0xtv-bWYbQ