Heft 1/2020 - Lektüre



Oliver Marchart:

Conflictual Aesthetics

Artistic Activism and the Public Sphere

Berlin (Sternberg Press) 2019 , S. 75 , EUR 18

Text: Martin Krenn


Seit Mitte der 1990er-Jahre wird sozial engagierte und aktivistische Kunst mit einer Vielzahl an Theorien beschrieben. Man denke etwa an New Genre Public Art, Esthétique relationnelle, Participatory Art, Dialogical Aesthetics oder Arte Útil.
Oliver Marchart unternimmt nun den Versuch, das Politische in der Kunst aus einer antagonistischen Perspektive heraus zu bestimmen, und prägt dafür den Begriff „Conflictual Aesthetics“. Er diskutiert die Rolle der Kunst bei der Bildung von Gegenöffentlichkeit und beleuchtet die politischen Potenziale in theatralischem Handeln, Pre-Enactment, Tanz sowie dem Kuratieren von Biennalen im Zeitalter der Globalisierung von Kunst. In allen Aufsätzen des Buchs spiegelt sich Marcharts Denken der politischen Differenz wider, welche er bereits in seinen 2010 und 2013 erschienenen Büchern Die politische Differenz und Das unmögliche Objekt eingehend untersucht hat. Die Grundlage bildet Heideggers ontisch-ontologische Differenz zwischen der Ebene des Seienden und jener des Seins, welche auf Politik und das Politische ausgeweitet wird. Marchart beschreibt Antagonismus im ontologischen Sinn als die Bedingung der Möglichkeit allen politischen Handelns: „As political actors we do not ,produce‘, out of pure will, a conflictual situation; we are produced by a conflictual situation—by the emergence, that is, of antagonism. This is, precisely, the moment when a public sphere opens up and is carved out of the routine practices of social institutions.“
Obwohl der Autor der „Essex School“ um Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zugezählt wird, setzt er sich in seinem neuen Buch doch deutlich von Chantal Mouffes Kunstverständnis ab. Aus Mouffes hegemonietheoretischer Sicht hat Kunst immer eine politische Dimension, so wie umgekehrt das Politische stets eine ästhetische Dimension hat.
Jede Kunstpraxis ist insofern politisch, als sie die symbolische Struktur der Gesellschaft entweder verfestigt oder hinterfragt. Die ästhetische Dimension des Politischen liegt darin, dass das Politische die symbolische Ordnung der sozialen Beziehungen herstellt. Eine Unterscheidung zwischen politischer und unpolitischer Kunst wäre dementsprechend für Mouffe überflüssig. Marchart problematisiert, dass eine solche Position ungewollt den „Funktionären“ des Kunstfelds in die Hände spielen würde. Diese würden ihre Ablehnung von dezidiert politischer Kunst damit begründen, dass Kunst an sich politisch sei und deshalb nicht erst politisch gemacht werden müsse, zumal dies die Komplexität des Kunstwerks beeinträchtigen würde. Für Marchart handelt es sich in diesem Fall jedoch um die Forderung nach einer „fake complexity“, da das Politische darin bestünde, komplexe Problemstellungen zu vereinfachen, um überhaupt handlungsfähig werden zu können.
Auch von Mouffes Konzept des Agonismus nimmt Marchart Abstand. Er wendet ein, dass es nicht in jedem Fall angemessen sei, die Position des Gegenübers als legitim zu akzeptieren (man denke an faschistische und rassistische Positionen). „Conflictual Aesthetics“ wird von ihm dementsprechend als Ästhetik, welche im doppelten Sinne konflikthaft ist, definiert: Erstens steht sie für die politischen Implikationen einer antagonistischen künstlerischen Praxis. Zweitens befindet sie sich in Konflikt mit der Ästhetik einer „simplistic complexity“ des Kunstfelds. Marcharts Darstellung dieser „simplistic complexity“ mag teilweise berechtigt sein, allerdings sollte durch diese Auffassung nicht die Sicht auf die Komplexität von Ästhetik, welche sich etwa in Aspekten der Negation des Sagbaren oder der Rätselhaftigkeit der Kunst zeigt, verstellt werden. Der vielschichtige Ästhetikdiskurs, der sich im deutschsprachigen Raum in Abgrenzung zu Adorno über mehrere Phasen bis in die Gegenwart erstreckt, hat zu diesen Aspekten zahlreiche Überlegungen angestellt, dabei allerdings den Aspekt des Politischen vernachlässigt. Die Praxis zahlreicher KünstlerInnen zeigt jedoch, dass dezidiert politische Kunst nicht im Widerspruch zu ästhetischer Komplexität stehen muss, auch wenn bis heute dazu noch keine umfassende Theorie vorliegt.
Im Schlusskapitel „Time Loops: A Postscript on Pre-enactments“ beschäftigt sich Marchart mit der Frage nach der Funktion von Ästhetik in der politischen Kunst. Marchart definiert hierfür „pre-enactment“ als eine künstlerische Vorwegnahme eines politischen Ereignisses und setzt sich unter anderem mit Allan Kaprows Happenings und John Deweys Kunsttheorie auseinander. Dewey behandelte in Art as Experience (1934) die ästhetische Dimension der Alltagserfahrung – demnach könne sogar eine politische Kampagne eine ästhetische Erfahrung auslösen. Kaprow las bereits in jungen Jahren Dewey, war von dessen Erfahrungstheorie inspiriert und entwickelte schließlich ab 1958 seine Happenings. Obwohl die Happenings nicht politisch intendiert waren, wirkten sie in den politischen Bereich hinein. Als Beispiel führt Marchart die Besetzung des Pariser Odéon-Theaters 1968 an. Der Direktor des Theaters rief dort einem Besetzer zu: „What a wonderful happening, Julian!“, was Kaprows Happenings rückwirkend zu „pre-enactments of political happenings“ machte. Marcharts Buch zeigt anhand von diesem und zahlreichen anderen Beispielen auf, wie das Denken der politischen Differenz für Kunst und Aktivismus produktiv gemacht werden kann und leistet damit insgesamt einen wichtigen Beitrag zur Politisierung von Kunst.