Heft 1/2020 - Lektüre



Seraina Renz:

Kunst als Entscheidung

Performance- und Konzeptkunst der 1970er Jahre am Studentischen Kulturzentrum Belgrad

München (edition metzel / Verlag Silke Schreiber) 2018 , S. 72 , EUR 39

Text: Daniel Berndt


Seit einigen Jahren erfährt die frühe Performancekunst, wie sie in Abgrenzung zu tradierten Gattungen und der etablierten Staatskunst ab den späten 1960er-Jahren in den ehemals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas aufkam, auch außerhalb ihrer Entstehungsländer eine verstärkte Rezeption. Es sind mittlerweile einige Bände erschienen, welche einen Überblick über die facettenreichen, experimentellen und oftmals an gesellschaftskritische Agenden geknüpften künstlerischen Positionen bieten, die sich jenseits des Eisernen Vorhangs vor dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Kriegs herausbildeten. So wichtig derartige umfassenden Studien sind, blieben detaillierte Analysen konkreter Werke bisher hingegen oftmals auf der Strecke.
Genau dieser Aufgabe stellt sich Seraina Renz in ihrem Buch Kunst als Entscheidung, wohlgemerkt in einem viel enger gesteckten Rahmen. Renz konzentriert sich auf das ehemalige Jugoslawien, konkret auf die Performance- und Konzeptkunst der 1970er-Jahre am studentischen Kulturzentrum Belgrad (SKC), und widmet sich der Rekonstruktion bzw. methodisch höchst reflektierten „close readings“ einzelner performativer Arbeiten, die wiederum in der Konzeptkunst wurzeln.
Jugoslawien nimmt in der Beschäftigung mit osteuropäischer Performancekunst eine Sonderstellung ein, da das Land kein sogenannter Ostblockstaat, sondern von einer verhältnismäßig liberaleren Ideologie geprägt war. Auch war die Kunst, die nach dem Zweiten Weltkrieg dort entstand, weniger als in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Staaten vom sozialistischen Realismus dominiert. Einhergehend mit der Abkehr vom Stalinismus vertrat die jugoslawische Kulturpolitik, die sich zunehmend am Westen orientierte, vielmehr ein eigentümliches Konzept der L’art pour l’art, das vor allem einen universalen, internationalen Modernismus förderte.
Ausgehend von dieser Entwicklung sowie vom historisch-politischen Kontext der Studenten- und Arbeiterproteste von 1968, aus denen das SKC 1971 hervorging – das SKC war nicht nur Ausstellungsraum, sondern auch Ort des intellektuellen Austauschs und kollektives Atelier –, widmet sich Renz den dort entstandenen und präsentierten Arbeiten. Die ProtagonistInnen ihrer Untersuchung sind Marina Abramović, Era Milivojević, Neša Paripović, Zoran Popović, Raša Todosijević und Gergelj Urkom, die oft als „Gruppe der sechs“ bezeichnet wurden, jedoch im formalen Sinne kein Künstlerkollektiv bildeten.
2016 befasste sich die Studie Alienation Effects. Performance und Self-Management in Yugoslavia, 1945–91 des Theaterwissenschaftlers Branislav Jakovljević bereits mit der Entstehungsgeschichte des SKC und dortiger performativer Praktiken. Renz verfolgt demgegenüber einen dezidiert kunsthistorischen und an T. J. Clark angelehnten kunstsoziologischen Ansatz. In drei Teilen geht sie der zentralen Fragestellung nach, wie sich das Verhältnis zwischen Jugoslawiens „Politik des dritten Wegs“ und seiner Kulturpolitik sowie den wichtigsten philosophischen Strömungen, wie sie zu der Zeit primär von den AutorInnen der Zeitschrift Praxis vertreten wurden (auch sie waren immer wieder am SKC präsent), in den Ausstellungsprojekten und Performances der „Gruppe der sechs“ niederschlug und äußerte.
Renz definiert das SKC als „anthropologischen Raum“, in dem KünstlerInnen neue repräsentationskritische Strategien entwickelten, im Zuge derer sie vor allem ihre Körper und Sprache als Medien einsetzten und damit in Konfrontation mit dem marxistischen Humanismus gingen. Sie verortet die Aktionen und Performances der „Gruppe der Sechs“ folglich an der Schnittstelle zwischen Humanismus und Antihumanismus, indem einerseits menschliche Verhaltensweisen ausgelotet wurden, andererseits zugleich eine „negative Haltung gegenüber einer den Menschen negierenden Welt“ zum Ausdruck kam. Besonders anschaulich wird dies anhand der ab 1973 realisierten Schlüsselwerke von Abramović und Todosijević, darunter dessen Performance Entscheidung als Kunst, die auch den Titel des Buchs inspirierte.
Zu bemängeln ist an der Struktur des Buchs allerdings ein etwas langer und von der ansonsten stringenten Argumentation ablenkender Exkurs zur westlichen Kunstkritik der 1970er-Jahre am Beispiel der AutorInnen der Zeitschrift October; diese hätten den Kanon der (westlichen) Neoavantgarde zwar maßgeblich geprägt, jedoch Renz zufolge die Performancekunst dabei weitestgehend marginalisiert. Ein weiterer Schwachpunkt des Buchs ist die Tatsache, dass die Konzeptkunst darin verhältnismäßig kurz kommt – war sie doch für die „Gruppe der sechs“, wie Renz selbst sagt, „eine Basis, [um] über Kunst und ihren institutionellen Rahmen nachzudenken“.
Insgesamt liefert der Band jedoch, basierend auf intensiver Archivarbeit und zahlreichen Gesprächen mit ZeitzeugInnen, überzeugende Interpretationsvorschläge, die einen ausgezeichneten Ausgangspunkt für weiterführende Betrachtungen der Anfang der 1970er-Jahre am SKC entstandenen Arbeiten bieten.